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1500 Seiten Fließtext, 200 Seiten Zeitleiste, Bibliographie und Anmerkungen (etwa 2000) sind eine Ansage. Der Literaturkritiker und ehemalige Intendant des Schauspiels Frankfurt Günther Rühle hat als Neunzigjähriger den ersten Band seines Lebenswerk herausgegeben. Der zweite umfasst dann 2000 Seiten Fließtext!

Zentrum seines riesigen Überblicks ist Berlin, die "Provinz" wird eher gestreift, wenn dieses Wort überhaupt passend ist bei so einem umfassenden Werk.

Der Einstieg in die Theatergeschichte beginnt mit Ibsen, dem Naturalismus und Otto Brahm, womit das Deklamationstheater der Kaiserzeit immer mehr veraltet wird und aktuelle, moderne Themen aufgenommen werden. Begleitet werden neben Hauptmann weiters Schnitzler, Hofmannsthal, Wedekind und schließlich Strindberg und der Expressionismus. Als bedeutenden Intendanten und Vorreiter privater Theater bietet Rühle Max Reinhardt viel Platz.

Der zweite Schwerpunkt ist das Theater der Republik mit seinem Privattheaterboom, mit den politischen Zeitstücken der 20er Jahre, die schließlich in eine immer schärfere Scheidung zwischen rechtsradikalem und linksradikalem Theater mündet. Das liberale, das Individuum in den Mittelpunkt stellende Theater wird immer mehr an den Rand gedrängt. Beobachtet wird, dass das politische Theater links wie rechts sehr stark auf die Erfahrungen der Frontkämpfer zurückgreift und martialisches Handeln propagiert. Politisch zwar positioniert, aber eine Sonderstellung nimmt Bertolt Brecht ein, der noch in den 20er Jahren die Grundlagen für sein episches Theater entwickelt.

Einen Riss durch die Theaterwelt bildete die Kanzlerschaft Hitlers bzw. seine darauf folgende Machtergreifung. Ein Teil der Theaterwelt blieb in Deutschland für einen "Ritt auf dem Vulkan", viele jüdische und politisch links stehende Theatermenschen aller erster Güte flohen.

Privattheater wurden alle verstaatlicht, die Häuser von Max Reinhardt wurden zum Beispiel für ein Schnäppchen aufgekauft. Man konstruierte Steuerschulden, indem einfach nachträglich eine zu Republikszeiten nicht existierende Steuer für die Zeit von 1920 bis 1933 eingefordert wurde.

Unter den Verbliebenen bildeten Gustaf Gründgens, Heinz Hilpert und Jürgen Fehling, die - zumindest laut Aussage von Gründgens - versuchten, die Kunst als Kunst zu retten. Juden konnten sie nicht an ihren Theatern halten, aber sogeannte "jüdisch Versippte" (mit jüdischem Ehepartner). Dem von Goebbels geforderten "heroischen und stählern romantischen" Theater (8. Mai 1933) versuchten sie durch Spielpläne mit Klassikern ein Gegengewicht entgegenzusetzen.

Wie Grenzen ausgelotet wurden, ist von der Inszenierung von Shakespeares Richard III. durch Jürgen Fehling überliefert, der die Leibgarde des Königs in der SS nachgebildeten Uniformen auftreten ließ. Die Botschaft wurde verstanden, ein Zeuge davon ist Marcel Reich-Ranicki:
https://literaturkritik.de/id/21969

Das von Goebbels geforderte Theater stotterte dahin, die Texte waren schlichtwegs schlecht. Ausnahmen bildeten das (auch nicht so tolle) Stück Schlageter von Hanns Johst, die Thingspiele (am berühmtesten das Frankenburger Würfelspiel in der Waldarena von Berlin zu den Olympischen Spielen) und das Kriegsstück Das Dorf bei Odessa des SS-Kriegsberichterstatters Herbert Reinecker (1942). Reinecker wurde nach dem Krieg Drehbuchautor und schrieb mit den Serien Der Kommissar und Derrick Fernsehgeschichte.

Ansonsten war Theater mit vielen Klassikeraufführungen ein Schaufenster nach außen. Selbst im Krieg wurden in den besetzten Gebieten viele "Deutsche Theater" errichtet. Bis dann am 1. September 1944 Goebbels per Erlass sämtliche Theater im deutschen Herrschaftsgebiet schließen ließ.

Die jüdischen Theatermenschen hatten bis zur Reichspogromnacht noch die Möglichkeit, im Kulturbund Deutscher Juden Theaterhäuser zu organisieren. Zutritt nur für "Juden". In diesem abgeschlossenen Kreis hatten sie noch die Möglichkeit Stücke aufzuführen, die "draußen" nicht mehr gingen, so zum Beispiel Lessings Nathan der Weise. Ab 1939 war damit Schluss, der Kulturbund selbst wurde im September 1941 aufgelöst, deren Mitglieder waren zur Ermordung freigegeben und landeten großteils in Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Wer als Jude, Linker oder Liberaler konnte, ging bereits 1933 ins Ausland. Dies betraf Intendanten, Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler, Schriftsteller, Kritiker. Für viele war es sehr schwer, in einer fremdsprachigen Welt Fuß zu fassen. Auch musste ab 1939 wegen der Kriegsereignisse immer wieder der Fluchtort gewechselt werden. Einige wählten den Freitod, viele lebten unter prekären Verhältnissen, nur wenige konnten sich etablieren.

Max Reinhardt war als Regisseur international bereits in den 20er Jahren eine gefragte Persönlichkeit und wollte sowieso in die USA. Dort inszenierte er in Kalifornien Monumentalaufführungen von Shakespeares Mittsommernachtstraum, er war auch Regisseur einer Verfilmung. In New York gründete er eine Theaterschule.

Bertolt Brecht war durchgehend auf der Flucht und schaffte es im Frühjahr 1941 gerade noch vor dem deutschen Einmarsch durch die Sowjetunion und über den Pazifik in die USA. Er war durch seine Dreigroschenoper bereits international bekannt und schrieb sogar noch auf der Flucht Dramen, die in die Geschichte der Weltliteratur eingingen.

Carl Zuckmayer war berühmt wegen seines Leutnants von Köpenick, aber bei den Nationalsozialisten eine persona non grata. Er ging in die USA und kaufte in Vermont einen Bauernhof. Als er dort vom Tod seines Jugendfreundes Ernst Udet vernahm, schrieb er Des Teufels General, in dem er Nationalsozialisten, Mitläufer und Widerstand aufeinanderprallen lässt.

Ein besonderer Ort war das Züricher Schauspielhaus, ein Privattheater, das bis 1933 ausschließlich seichte Unterhaltung bot. Der Besitzer Ferdinand Rieser (ein Weingroßhändler) war aber sehr kunstinteressiert und so wurde jüdischen und linken Top-Schauspielern und -Regisseuren aus Deutschland die Möglichkeit geboten, ein Ensemble aufzubauen. Rieser und ab 1938 sein Nachfolger Oskar Wälterlin setzten all ihren Einfluss ein, dass dieses Ensemble nicht abgeschoben wird. So wurde das Schauspielhaus Zürich zu einem der bedeutendsten Theater im deutschsprachigen Raum, was es heute immer noch ist. So wurden zwei Stücke von Brecht uraufgeführt und Max Frisch brachte sein erstes Stück dort zur Aufführung. Somit wies Zürich nach vorne, in eine neue Epoche deutschsprachigen Theaters.