Julius Margolin - Reise in das Land der Lager
28.02.2018 um 21:47Original anzeigen (0,2 MB)
Das 1946/1947 geschriebene Buch ist vermutlich das erste über die stalinistischen Lager, und es brauchte bis 2010, als es zum ersten Mal auf Französisch in voller Länge veröffentlicht wurde, und auf dieser Edition beruht die deutsche Ausgabe des Suhrkamp-Verlags.
Der Grund, warum es dieser Text so schwer hatte, war ganz einfach, dass die Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg zu den "Guten" zählte, da sie mit dazu beitrug, den Wahnsinn von Hitlerdeutschland zu besiegen, womit sich keine Verleger fanden, dieses vor Solschenizyn wohl wichtigste Werk über den Stalin'schen GULAG zur Gänze zu veröffentlichen. Eine hebräische Gesamtausgabe fehlt immer noch.
Dabei ist, was Margolin zu erzählen hat, unglaublichst. Er ist in Pinsk (heute in Belorus) im Jahr 1900 in eine jüdische Familie geboren, flieht im Ersten Weltkrieg mit seiner Familie ins heutige Dnjepopetrowsk, promoviert in Berlin, heiratet in Lodz und zieht 1936 mit Frau und Kind nach Tel Aviv, wo er legal mit Visum der britischen Mandatshoheit in seinem polnischen Pass lebt.
Margolin pendelt zwischen Tel Aviv und Lodz, wo ihn der 1. September 1939 kalt erwischt. Er flieht vor den Deutschen nach Osten, will über Rumänien ans Schwarze Meer, um nach Tel Aviv zurückzureisen, darf aber nicht mehr nach Rumänien einreisen. Somit flieht er nach Pinsk (damals polnisch) zu seinen Eltern und wird am 17. September 1939 vom sowjetischen Einmarsch wiederum kalt erwischt. Eine Ausreise nach Palästina wird ihm trotz gültigem Visum von den sowjetischen Behördern verweigert.
Am 19. Juni 1940 werden alle Polen, welche keinen sowjetischen Pass bereit sind anzunehmen, von der NKWD verhaftet, ohne Gerichtsverfahren wegen "Passvergehen" zu fünf Jahren Lager verdonnert, und Margolin wird in ein Arbeitslager am Onegasee verschleppt, wo er zunächst als Intellektueller einen Schreibposten einnehmen kann, den er aber wegen Unangepasstheit verliert. Somit muss er in den Wald Bäume fällen. Und das als Kurzsichtiger mit neun Dioptrien.
Sehr ausführlich beschreibt er, wie die Essensrationen zugeteilt werden, und dass letztlich alle - auch die Stachanow-Arbeiter - eine Ernährung erhalten, die mittelfristig nicht zum Überleben ausreicht. Margolin verfällt immer mehr und wird schließlich mit 24 Krankheiten, darunter Skorbut und Herzerweiterung, invalide geschrieben. Er wiegt nur mehr 45 kg.
Von der Amnestie für polnische Lagerhäftlinge im Jahr 1941 wird Margolin ausgenommen, da er "nicht polnischer Nationalität" ist. Sprich: er ist Jude. Keine Amnestie für Juden.
Vom Onegasee geht es in das Krankenlager Krugliza, wo er als Invalide kleine Arbeiten erledigen kann, welche seine Ration erhöhen. Aber sehr ausführlich beschreibt er, wie es nur mehr darum geht, so wenig Energie aufzuwenden und so viel Kalorien wie möglich zu sich zu nehmen, um überleben zu können. Zusätzliches Essen wird erbettelt und gestohlen, und Margolin beobachtet an sich selbst einen Werteverfall: es geht nur mehr ums Überleben. Auch sieht er, wie vormals kräftige Männer, die Stachanowisten waren, in Krugliza verfallen und verhungern: sie haben haben ihren Körper ausgemergelt, weil sie Höchstleistungen erbrachten, um mehr zu essen zu bekommen, nur hat der Körper dies nicht mitgemacht.
Lebensrettend für Margolin war vermutlich, dass sein Transfer in das Bergbaulager Workuta von einem Arzt im Durchgangslager Kotlas (bereits nördlich des Polarkreises) gestoppt wurde und er als Invalider in Kotlas verbleiben konnte, wo er als Krankenpfleger tätig sein konnte.
Sein Ausländerstatus nach Ende des Zweiten Weltkriegs war vermutlich der Grund, warum Margolin am 21. Juni 1945 entlassen wurde, zu einem Bekannten eines Lagerarztes ins Altai-Gebiet fahren durfte. Von dort konnte er schließlich nach einem sowjetisch-polnischen Abkommen nach Polen ausreisen, und über Frankreich gelangte er schließlich zurück zu seiner Familie in Tel Aviv.
Nicht nur die Beschreibungen des Lagerlebens sind herzzerreißend, sondern auch seine Reflexionen über den Verfall der Moral, die menschlichen Beziehungen im Lager mit Kunstliebhabern und über die drei Formen des Hasses (den affektiven Hass gegen Menschen aus dem eigenen Umfeld, den intellektuellen Hass gegen Abstrakta wie zum Beispiel das Böse sowie den rationalen Hass gegen unmenschliche Systeme, welcher einen zur Waffe greifen lässt).
Margolin hat nach der Rückkehr nach Tel Aviv versucht, die Weltöffentlichkeit auf das Stalin'sche Lagersystem aufmerksam zu machen und hat sogar eine Rede vor der UNO gehalten, aber vor der Chrustschow'schen Tauwetterperiode stieß er mehr oder weniger auf taube Ohren.
Diese Ausgabe nun macht die deutschsprachige Öffentlichkeit mit einem Zeitdokument allerersten Ranges bekannt. Auch Übersetzung wie die Edition des Suhrkamp-Verlags mit einem Anmerkungsapparat sind von höchster Güte.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo mit Leseprobe:
http://www.suhrkamp.de/buecher/reise_in_das_land_der_lager-julius_margolin_42406.html
Leseprobe mit neun Kapiteln:
https://books.google.at/books?id=tMQ7CgAAQBAJ
Rezensionen:
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/julius-margolins-bericht-von-der-reise-ins-land-der-lager-a-938750.html
http://www.deutschlandfunk.de/russische-lager-erinnerung-von-julius-margolin.1310.de.html?dram:article_id=280393
http://www.deutschlandfunkkultur.de/augenzeugenbericht-opfergemeinschaft-sowjetischer-willkuer.950.de.html?dram:article_id=276508
https://www.nzz.ch/die-wahrheit-von-workuta-1.18264768
Das 1946/1947 geschriebene Buch ist vermutlich das erste über die stalinistischen Lager, und es brauchte bis 2010, als es zum ersten Mal auf Französisch in voller Länge veröffentlicht wurde, und auf dieser Edition beruht die deutsche Ausgabe des Suhrkamp-Verlags.
Der Grund, warum es dieser Text so schwer hatte, war ganz einfach, dass die Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg zu den "Guten" zählte, da sie mit dazu beitrug, den Wahnsinn von Hitlerdeutschland zu besiegen, womit sich keine Verleger fanden, dieses vor Solschenizyn wohl wichtigste Werk über den Stalin'schen GULAG zur Gänze zu veröffentlichen. Eine hebräische Gesamtausgabe fehlt immer noch.
Dabei ist, was Margolin zu erzählen hat, unglaublichst. Er ist in Pinsk (heute in Belorus) im Jahr 1900 in eine jüdische Familie geboren, flieht im Ersten Weltkrieg mit seiner Familie ins heutige Dnjepopetrowsk, promoviert in Berlin, heiratet in Lodz und zieht 1936 mit Frau und Kind nach Tel Aviv, wo er legal mit Visum der britischen Mandatshoheit in seinem polnischen Pass lebt.
Margolin pendelt zwischen Tel Aviv und Lodz, wo ihn der 1. September 1939 kalt erwischt. Er flieht vor den Deutschen nach Osten, will über Rumänien ans Schwarze Meer, um nach Tel Aviv zurückzureisen, darf aber nicht mehr nach Rumänien einreisen. Somit flieht er nach Pinsk (damals polnisch) zu seinen Eltern und wird am 17. September 1939 vom sowjetischen Einmarsch wiederum kalt erwischt. Eine Ausreise nach Palästina wird ihm trotz gültigem Visum von den sowjetischen Behördern verweigert.
Am 19. Juni 1940 werden alle Polen, welche keinen sowjetischen Pass bereit sind anzunehmen, von der NKWD verhaftet, ohne Gerichtsverfahren wegen "Passvergehen" zu fünf Jahren Lager verdonnert, und Margolin wird in ein Arbeitslager am Onegasee verschleppt, wo er zunächst als Intellektueller einen Schreibposten einnehmen kann, den er aber wegen Unangepasstheit verliert. Somit muss er in den Wald Bäume fällen. Und das als Kurzsichtiger mit neun Dioptrien.
Sehr ausführlich beschreibt er, wie die Essensrationen zugeteilt werden, und dass letztlich alle - auch die Stachanow-Arbeiter - eine Ernährung erhalten, die mittelfristig nicht zum Überleben ausreicht. Margolin verfällt immer mehr und wird schließlich mit 24 Krankheiten, darunter Skorbut und Herzerweiterung, invalide geschrieben. Er wiegt nur mehr 45 kg.
Von der Amnestie für polnische Lagerhäftlinge im Jahr 1941 wird Margolin ausgenommen, da er "nicht polnischer Nationalität" ist. Sprich: er ist Jude. Keine Amnestie für Juden.
Vom Onegasee geht es in das Krankenlager Krugliza, wo er als Invalide kleine Arbeiten erledigen kann, welche seine Ration erhöhen. Aber sehr ausführlich beschreibt er, wie es nur mehr darum geht, so wenig Energie aufzuwenden und so viel Kalorien wie möglich zu sich zu nehmen, um überleben zu können. Zusätzliches Essen wird erbettelt und gestohlen, und Margolin beobachtet an sich selbst einen Werteverfall: es geht nur mehr ums Überleben. Auch sieht er, wie vormals kräftige Männer, die Stachanowisten waren, in Krugliza verfallen und verhungern: sie haben haben ihren Körper ausgemergelt, weil sie Höchstleistungen erbrachten, um mehr zu essen zu bekommen, nur hat der Körper dies nicht mitgemacht.
Lebensrettend für Margolin war vermutlich, dass sein Transfer in das Bergbaulager Workuta von einem Arzt im Durchgangslager Kotlas (bereits nördlich des Polarkreises) gestoppt wurde und er als Invalider in Kotlas verbleiben konnte, wo er als Krankenpfleger tätig sein konnte.
Sein Ausländerstatus nach Ende des Zweiten Weltkriegs war vermutlich der Grund, warum Margolin am 21. Juni 1945 entlassen wurde, zu einem Bekannten eines Lagerarztes ins Altai-Gebiet fahren durfte. Von dort konnte er schließlich nach einem sowjetisch-polnischen Abkommen nach Polen ausreisen, und über Frankreich gelangte er schließlich zurück zu seiner Familie in Tel Aviv.
Nicht nur die Beschreibungen des Lagerlebens sind herzzerreißend, sondern auch seine Reflexionen über den Verfall der Moral, die menschlichen Beziehungen im Lager mit Kunstliebhabern und über die drei Formen des Hasses (den affektiven Hass gegen Menschen aus dem eigenen Umfeld, den intellektuellen Hass gegen Abstrakta wie zum Beispiel das Böse sowie den rationalen Hass gegen unmenschliche Systeme, welcher einen zur Waffe greifen lässt).
Margolin hat nach der Rückkehr nach Tel Aviv versucht, die Weltöffentlichkeit auf das Stalin'sche Lagersystem aufmerksam zu machen und hat sogar eine Rede vor der UNO gehalten, aber vor der Chrustschow'schen Tauwetterperiode stieß er mehr oder weniger auf taube Ohren.
Diese Ausgabe nun macht die deutschsprachige Öffentlichkeit mit einem Zeitdokument allerersten Ranges bekannt. Auch Übersetzung wie die Edition des Suhrkamp-Verlags mit einem Anmerkungsapparat sind von höchster Güte.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo mit Leseprobe:
http://www.suhrkamp.de/buecher/reise_in_das_land_der_lager-julius_margolin_42406.html
Leseprobe mit neun Kapiteln:
https://books.google.at/books?id=tMQ7CgAAQBAJ
Rezensionen:
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/julius-margolins-bericht-von-der-reise-ins-land-der-lager-a-938750.html
http://www.deutschlandfunk.de/russische-lager-erinnerung-von-julius-margolin.1310.de.html?dram:article_id=280393
http://www.deutschlandfunkkultur.de/augenzeugenbericht-opfergemeinschaft-sowjetischer-willkuer.950.de.html?dram:article_id=276508
https://www.nzz.ch/die-wahrheit-von-workuta-1.18264768
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