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Der Mensch ist sich der Risiken und Gefahren seiner Existenz bewußt, aber seine Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, sind unzureichend. Am Ende unterliegt er der Krankheit und dem Alter und stirbt. Menschen, die er lieben, sterben vor ihm oder nach ihm, und in beiden Fällen gibt es keinen Trost. Der Mensch ist unsicher; sein Wissen ist Stückwerk. In seiner Unsicherheit sucht er nach absoluten Werten, die ihm Sicherheit verheißen, nach denen er sich richten und mit denen er sich identifizieren kann. Kann er ohne solche Werte auskommen? Handelt es sich nicht darum, zwischen besseren und schlechteren absoluten Werten seine Wahl zu treffen, d.h. zwischen solchen, die seine Entwicklung fördern und solchen, die sie hemmen? Geht es nicht darum, zwischen Gott und Götzen zu wählen?

In der Tat gehört die volle Unabhängigkeit zu den Dingen, die am schwersten zu erreichen sind. Selbst wenn der Mensch seine Fixierung an Blut und Boden, an Mutter und Sippe überwindet, klammert er sich doch an andere Mächte, die ihm Sicherheit und Gewißheit geben; an seine Nation, seine soziale Gruppe, seine Familie; oder auch an seine Leistungen, seine Macht, sein Geld. Oder aber er wird so narzißtisch, daß er sich nicht wie ein Fremder in dieser Welt vorkommt, weil er diese Welt ist und neben und außerhalb von ihm nichts existiert.

Man gelangt zur Unabhängigkeit nicht einfach dadurch, daß man seine Mutter, seinen Vater, dem Staat und dergleichen nicht gehorcht. Unabhängigkeit ist nicht dasselbe wie Ungehorsam. Unabhängigkeit ist nur insofern und in dem Maße möglich, als der Mensch aktiv die Welt erfaßt, zu ihr in Beziehung tritt und so mit ihr eins wird. Es gibt keine Unabhängigkeit und keine Freiheit, wenn der Mensch nicht das Stadium der völligen inneren Aktivität und Produktivität erreicht.
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Erich Fromm

aus: Ihr werdet sein wie Gott, Reinbeck 1980, S.66.