Das Kreuz mit dem Zufall
Es gibt inzwischen handfeste Belege dafür, dass Menschen grundsätzliche wahrnehmungsphysiologische und begriffliche [extern] Probleme mit dem Zufall haben. Es ist ihnen beispielsweise praktisch unmöglich, Folgen von Zufallszahlen zu erzeugen. Werden Probanden aufgefordert, hinreichend lange Zufallsfolgen aus Nullen und Einsen zu erzeugen, so generieren sie beispielsweise die ihnen besonders unwahrscheinlich erscheinende Sequenzen wie "1111" oder "00000" weitaus seltener, als es der mathematische Zufall tun würde. Untersuchungen von Peter Brugger an der Universität Zürich haben zudem gezeigt, dass Probanden detaillierte "Gesetze" für ihnen präsentierte Szenarien erfinden, die in Wahrheit jedoch rein zufällig erzeugt worden waren. Der Zufall kommt in unserem aktiven und passiven psychologischen Repertoire nicht vor - also lehnen viele Menschen sein Auftreten und seine Relevanz spontan ab. Leichtes Spiel für Evolutionsgegner.
Es ist zu vermuten, dass genau wegen dieser psychologischen Grundeinstellung die Argumente der Verteidiger der Evolution bei vielen Menschen einfach ins Leere laufen. Die Evolutionswissenschaftler versuchen meist, rational aufgrund der biologischen Faktenlage zu argumentieren. Die unbewussten, psychologischen Hürden, die bei den Gegnern erst einmal überwunden werden müssten, damit diese überhaupt in der Lage sind, sich auf rationale Argumente einzulassen, sind meist gar nicht bekannt.
Komplexität und Zufall
Ähnlich ist es mit dem Begriff der "Komplexität", der jedoch erst im Zusammenhang mit dem Zufall seine volle antievolutionäre Bedeutung entfalten kann. Michael J. Behe, ein Vorreiter des der ID-Bewegung, [extern] argumentiert vorzugsweise mit der angeblich "nicht-reduzierbaren Komplexität" von Molekülen oder Zellen. Würde man nur einen Bestandteil, etwa eine Organelle, einer hoch entwickelten, eukaryontischen Zelle entfernen, so könne die Zelle nicht mehr existieren. Es sei also vollkommen ausgeschlossen, dass sich solche Zellen, wie von Darwin behauptet, schrittweise, aufgrund zufälliger Mutationen, entwickelt hätten. Sie müssten, um lebensfähig zu sein, von Anfang an alle Bestandteile komplett enthalten haben.
Ein seit Jahrzehnten immer wieder angeführtes Beispiel gegen die Evolution in diesem Zusammenhang ist die Komplexität des Cytochrom-c-Moleküls. Schon vor 25 Jahren widmete sich Hoimar von Ditfurth deshalb diesem Thema. Er widerlegte in seinem zu Beginn angesprochenen Buch die Behauptung, das Molekül hätte nicht durch evolutionäre Mechanismen entstehen können. Wohl gemerkt, er tat dies nicht in einem Buch, in dem er eine vehemente Attacke gegen die Kreationisten ritt, sondern in einem, in dem er als Wissenschaftler auf die Religionen zugehen wollte.
Ähnlich fällt die spontane, oberflächliche Bewertung von Anti-Evolutionisten aus, wenn es um komplexes Verhalten geht. Beispielsweise feierte der im letzten Jahr in die Kinos gekommene Dokumentarfilm "Die Reise der Pinguine" bei ID-Anhängern und Kreationisten vor allem deshalb [extern] Erfolge, weil das merkwürdige, scheinbar selbstlose Verhalten der erwachsenen Pinguine "ganz offensichtlich zu komplex" sei, um evolutionär erklärbar zu sein. Diese Wahrnehmung ist jedoch vor allem der rational schwer nachvollziehbaren Machart des Filmes anzukreiden: Es ist eine unverzeihliche Schwäche des Films, dass die Pinguine in ihm vollkommen vermenschlicht dargestellt werden und die längst bekannten Mechanismen der Selektion, der sie unterworfen sind, und die ihr scheinbar so mysteriöses Verhalten verständlich machen, nicht einmal ansatzweise erklärt werden.
Behauptung 3: Die Fossilien widerlegen die Evolution
Die Fossilienfunde belegen keine Übergangsformen ("Missing Links") zwischen den Arten, die es aber nach Darwin zwingend geben müsste. Neue Arten entstehen immer plötzlich und übergangslos, wie dies für Schöpfungsakte charakteristisch ist.
Im Original klingt dies dann beispielsweise so, wie auf der Internet-Seite des moslemischen Evolutionskritikers Harun Yahya ([local] Gott oder die Evolution?):
Original anzeigen (0,2 MB)Yahya ist übrigens, wie seine christlichen Gesinnungsgenossen auch, [extern] Verfechter des ID-Gedankens. Biologen führen, so wie der exponierte Evolutionsbiologe Ernst Mayr, gegen das Fossilien-Argument reflexartig den Archaeopterix ins Feld (dessen erstes Exemplar schon 1856 gefunden wurde, also drei Jahre vor der Erstveröffentlichung von Darwins "Origin"). Anatomisch zeigt Archaeopterix deutlich sichtbare Kennzeichen von Reptilien (Klauen, Zähne) und Vögeln (Federn, Flügel, großes Gehirn). Er ist der Prototyp eines Missing Link. Yahya weiß dies natürlich und so hält er dem entgegen:
Die anatomischen "Zwischenzustände" des Fossils, genau wegen derer der Archaeopterix den Status als Missing Link verliehen bekommen hat, werden von Yahya gar nicht erwähnt! Er pickt sich nur eine biologische Detaildiskussion heraus, die den meisten Laien gar nicht bekannt sein dürfte und die daher seine Bedeutung gar nicht richtig einordnen können. In ihr ging es um die Frage, ob Archaeopterix schon so selbstständig fliegen konnte wie ein moderner Vogel, oder ob er eher ein Baum erklimmender Segelflieger war, so wie heutige fliegende Hunde.
Es ging also nur um die untergeordnete Frage, ob Archaeopterix noch viel Reptil und wenig Vogel war oder schon viel Vogel und nur noch wenig Reptil. Die in den letzten zehn Jahren vor allem in China ausgegrabenen, umfangreichen Fossilienfunde zur Vogelevolution und zum Auftauchen von Federn bei zweibeinigen, definitiv nicht flugfähigen Raubsauriern, lässt Yahya, wie andere Evolutionskritiker auch, außen vor. Denn diese Fossilienfunde unterstützen das Gedankengebäude einer nicht-zielgerichteten Evolution nur zu deutlich.
An diesem Beispiel lassen sich zwei wesentliche Elemente in der Argumentationsstrategie der ID-Anhänger festmachen. Erstens sind die von ihnen vorgebrachten Behauptungen viel schneller und knapper zu formulieren, als sachlich zu widerlegen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie meist dreiste Tatsachenbehauptungen darstellen. Zweitens wird ganz unverfroren behauptet, die Wissenschaft selbst liefere unwiderlegbare Beweise gegen Darwins Evolutionstheorie. Dies zielt ganz klar auf ein leicht zu beeindruckendes Laienpublikum, welches von der Naturwissenschaft vor allem einfache Ja-Nein-Wahrheiten erwartet.
Da die wirkliche Wissenschaft aber nicht so einfach gestrickt ist, kann von den Evolutionsgegnern leicht der Eindruck erweckt werden, als bildeten die Anhänger der Darwinschen Evolutionstheorie einen die wahren naturwissenschaftlichen Aussagen ignorierenden und unterdrückenden Geheimbund orthodox-dogmatischer Gralshüter. Davon wird im zweiten Teil dieser Serie noch die Rede sein müssen. In Wirklichkeit sind es jedoch die selektiv vorgehenden Gegner der Evolutionstheorie, die die Wissenschaft durch tendenzielle Sichtweisen missbrauchen.
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21851/1.html