Anders als in der v. a. philosophisch begründeten Tradition der Wissenschaftstheorie spielen in aktuellen Theorien zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der verschiedenen Wissenschaften historische, kulturelle und soziale Rahmenbedingungen bis hin zur sozialen Lagerung und geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Forscher und Forschergruppen, den Milieubedingungen einzelner Labors sowie die zugrunde liegenden, ihrerseits historisch und kulturell veränderbaren Modellvorstellungen und Ordnungsmuster (Paradigmen) und deren Wechselbezug zu anderen sozialen und kulturellen Feldern und Entwicklungen eine wichtige Rolle. Sie führen in der Konsequenz zu einer Historisierung beziehungsweise auch zu einer Relativierung der wissenschaftlichen Ansätze und Modelle. Wissenschaft gilt in diesem Rahmen als eine bestimmte Form der Gewinnung und der Präsentation von Wissen, dem allerdings andere Formen des Wissens (Alltagsroutine, magisches Wissen, Esoterik, Mythen, »wildes Denken« etc.) gegenüberstehen und die auch dann als Wissen erkannt und unter Umständen genutzt werden können, wenn sie nicht den durch die herkömmliche Wissenschaft bestimmten Standards entsprechen.
Für die Antike, ebenso wieder zu Beginn der Neuzeit stand weniger die Ordnung des Wissens und dessen Differenzierung innerhalb des Systems der Wissenschaften im Mittelpunkt des Interesses. Vielmehr war der lebenspraktische, im Besonderen auch der für die Bildung und den Charakter des Subjekts wichtige Bezug maßgeblich; eine Orientierungsgröße, die in der Geschichte der Wissenschaften zeitweise, so in der scholastischen Philosophie, ebenso aber auch in der positivistisch-rationalistischen Ordnung des Wissens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in aktuellen Systemtheorien eher an den Rand gedrängt wurde. In vielfältigsten Wissensformen und Praxisbezügen unterhalb und neben (zum Teil auch im Gegenzug zu) den jeweils ausgearbeiteten Wissenschaftssystemen hatte der lebenspraktische Bezug dennoch Bestand. In dieser Hinsicht ist die Geschichte der Wissenschaften nicht nur die Darstellung ihrer Etablierung und Anordnung, sondern zugleich auch die Geschichte der jeweils ausgeschlossenen Wissensvorräte und Erkenntnismuster, wobei diese durchaus nicht nur in Konkurrenz, sondern auch im Wechselbezug zueinander standen (etwa Alchimie und Chemie; Musik, Magie und Mathematik, Naturheilkunde und Medizin, Erzählung und Beschreibung, Mythos und Logos, Esoterik und Aufklärung) und teilweise aus dem jeweiligen Bezugsverhältnis heraus sich weiterentwickelten.
Wohl immer schon und in allen Hochkulturen galten die Mathematik und ihre Anwendungen in Messkunst und Astronomie, zumal aber auch in magischen, kosmologischen und spirituellen Praktiken, als Wissenschaft schlechthin; ebenfalls dürften Formen der magischen Naturbearbeitung (Astrologie, Chiromantie, mimetische Verfahren, kultisches Wissen) als Wissenschaft gegolten haben. Aristoteles hielt aber (anders als die moderne Biologie, die in dieser Hinsicht der Mathematisierung der Naturforschung seit dem 17. Jahrhundert folgt) Geometrie und Arithmetik für ungeeignet, sich mit Lebewesen wissenschaftlich zu beschäftigen. Für den Menschen, das »sprechende und politische Wesen«, seien sie allenfalls peripher. Wissenschaftliches Wissen wurde bis zum Ausgang des Mittelalters als Wissen vom wesentlichen Sein eines Phänomens (eines Gegenstandes oder Prozesses) verstanden, wobei dieses je nach Bezugsrahmen als Teil eines innerweltlichen Kosmos – so in der Antike – oder aber – so im Mittelalter – als Teil einer göttlichen Schöpfung, der »großen Kette des Seins« aufgefasst wurde. Die Kenntnis der jeweiligen Besonderheit im Unterschied zu den spezifischen und allgemeinen Merkmalen der anderen (über- beziehungsweise untergeordneten) Dinge und Wesen galt in diesem Rahmen als zentrale Aufgabe der Wissenschaft und fand so auch Eingang in die wissenschaftliche Methodologie, namentlich die Logik, die Definitionslehre, die Terminologie und die Klassifikationsmuster bis zur Ablösung dieser auf statische Anordnung zielenden Systeme durch die an zeitlicher Dynamik, Erfahrung und funktionaler Zuordnung orientierten Modelle des 18. Jahrhunderts. Bereits Aristoteles hatte die deduktive Ableitbarkeit, dass also etwas aus etwas anderem hergeleitet werden könne, als zentrales Merkmal wissenschaftlichen Denkens beschrieben. Weitere erkenntnisleitende Interessen der Wissenschaft bezogen sich auf das »Was?« und das »Wozu?« des Phänomens, also auf seine ontologische und zweckgerichtete (teleologische) Dimension innerhalb einer als bestehend beziehungsweise vorliegend angenommenen Ordnung. Dem diente auch die Ordnung der Studien in den mittelalterlichen Universitäten: Hier stand im Rahmen der Artes liberales das klassische Trivium (»Dreiweg«) von Grammatik, Dialektik, Rhetorik neben dem Quadrivium (»Vierweg«) von Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, das durch Theologie, Medizin und Recht ergänzt beziehungsweise erweitert werden konnte. Die Erkenntnis, die in diesem Sinne durch Wissenschaft erreicht werden sollte, zielte auf ein Sichvergegenwärtigen und Erschließen von in sich geordneten Gebilden und Prozessen im Rahmen einer Weltordnung, eine quasireligiöse Schau (griechisch theoria) des göttlichen geschaffenen beziehungsweise kosmologischen Wirkungs- und Seinszusammenhangs.
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http://www.brockhaus.de/wissenschaft/ (Archiv-Version vom 29.10.2007)