@VirtualOutrage VirtualOutrage schrieb:Ich dachte eigentlich, dass ich weiter oben mit der Interaktion des Individuums mit seiner Umgebung (auf niedrigstem Level eben das Gen) genau das ausgedrueckt haette.
Ich habe mir Dein früher Geschriebenes noch einmal durchgelesen und denke schon, dass es noch etwas anders ist. Zur Begründung muss ich etwas weiter ausholen, weil es hier um einen anderen Ansatz geht als der, den man oft in diversen populärwissenschaftlichen Texten präsentiert bekommt.
Im Gegensatz zu Dawkins sowie weiteren, ähnlich denkenden Biologen, habe ich keine Gen-zentrierte Sicht auf die Evolution, sondern eine Prozess-zentrierte, die mit Kontexten operiert. Aus dieser Perspektive ergibt sich ein anderer Gen-Begriff als der, der meist kommuniziert wird. Der Begriff "Gen" wurde 1909 von Johannsen entworfen, um den Begriff "Faktor" zu ersetzen, den Mendel 1865 in seiner Arbeit über Pflanzenhybriden verwendet hatte.
Mendel bezeichnete mit "Faktor" die Unbekannte, die als Resultat ein bestimmtes Merkmal zur Folge hat. Es handelt sich hierbei also um einen Komplex von Zusammenhängen, der in seiner Gesamtheit ein Merkmal verursacht. Aus diesem zunächst rein abstrakten Gen-Begriff ging mit den Untersuchungen von Thomas Hunt Morgan ab 1910 die Identifikation der Gene mit den Chromosomen hervor. Gene wurden nun nicht mehr funktional als Ursachenkomplex interpretiert, sondern materiell als Chromosomenabschnitt.
Die Prozess-Komponente des Mendelschen "Faktors", der auch noch in Johannsens "Gen" enthalten war, wurde ersatzlos fallengelassen und sich von nun an nur noch auf die materielle Komponente konzentriert, die in die Prozess-Komponente eingebunden ist. In der Folge destillierten sich nach den Chromosomen schließlich DNA - und mit der Aufklärung der DNA-Struktur und des Genetischen Codes dann die Basensequenzen von DNA-Abschnitten als Gene heraus, wobei zunächst angenommen wurde, dass ein einzelner DNA-Abschnitt als zusammenhängende Basensequenz für ein bestimmtes Polypeptid steht, welches dann für ein bestimmtes Protein steht, das wiederum für ein bestimmtes Merkmal steht.
Inzwischen weiß man, dass diese Hypothese nur in Ausnahmefällen richtig ist. In den meisten Fällen werden Merkmale durch das Zusammenwirken mehrerer Proteine verursacht. Weiterhin ist ein bestimmtes Protein meist nicht nur an der Ausbildung eines einzelnen Merkmals beteiligt, sondern bei mehreren. Und schließlich ist ein und dieselbe Basensequenz, die in RNA transkribiert wird, nicht nur für ein einzelnes Polypeptid verwertbar, sondern für mehrere, wenn der transkribierte RNA-Strang auf verschiedene Weise zurechtgeschnitten wird (alternatives Splicing). Die Beziehung zwischen Merkmal und DNA ist also alles andere als eindeutig zuordenbar.
Wir haben also auf der einen Seite die DNA als Speicher für Basensequenzen, die für die Merkmalsbildung verwendet werden und auf der anderen Seite einen komplexen Apparat des Zellstoffwechsels, der in seiner Gesamtheit Merkmale hervorbringt, indem er mit Hilfe von spezifischen Proteinen auf spezifische Weise spezifische Reaktionen ablaufen lässt, die dann in der Summe einen spezifischen Komplex von Merkmalen entstehen lässt, den man als Phänotyp bezeichnet.
Welche Basensequenzen wann und wie oft sowie in welcher zeitlichen Abfolge transkribiert werden und was dann mit den Transkripten geschieht, ergibt sich im Zuge des Zellstoffwechsels, der den Kontext darstellt, in dessen Rahmen gültig ist, was am DNA-Bestand als Genom anzusehen ist und was nicht. Weiterhin entscheidet sich aus dem Kontext heraus, welcher DNA-Abschnitt bzw. welche Abschnitte als Gen zu bezeichnen ist, weil die Folgeprodukte an der Ausbildung eines Merkmals bzw. mehrerer Merkmale beteiligt sind.
Im Zuge der Evolution verändern sich die Phänotypen, weil die Selektion bei entsprechendem Selektionsdruck bestimmte Merkmale über den Fortpflanzungserfolg begünstigt. Da über die genetische Ausstattung der Individuen eine bestimmte ökologische Potenz - also eine bestimmte Spanne an Existenzfähigkeit bei mehr oder minder schlechten Rahmenbedingungen - vorhanden ist, stellen sich spontan Modifikationen ein, die auch "an den Rändern" leben können.
Bei einem bestimmten Selektionsdruck kann es passieren, dass mit dem Wegfall der größeren Mitte der "Rand" zum "Zentrum" wird und somit ein größerer Fortpflanzungserfolg eintritt. Der Genpool der Population hat sich dann verschoben. Mutationen, die das Existieren in der sich nunmehr neu eingestellt habenden "Mitte" begünstigen, können sich nun bevorzugt etablieren, so dass sich die genetische Ausstattung der Individuen im Durchschnitt verändert.
Nehmen wir nun die schon besprochene Tierherde als Beispiel, so ergibt sich, dass verschiedene Selektionsdrücke dafür sorgen, dass Lernfähigkeit begünstigt wird. In diese Lernfähigkeit geht u.a. auch das Erlernen von sozialen Verhaltensweisen ein, aber auch andere Verhaltensweisen, die die Nahrungssuche oder die Fluchtinstinkte betreffen, wobei letztere auch über Warnsignale ausgelöst werden können. Und Warnsignale ziehen wiederum Sozialverhalten nach sich, denn nur wenn hinreichend viele Individuen das Warnsignal als solches interpretieren, erfüllt es seine Funktion und die Tierherde überlebt zahlreich genug, so dass der erlernte Fluchtreflex an die Nachkommen über Nachahmung und Lernen tradiert werden kann.
Soziales Verhalten, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft usw. usf. liegen also nicht auf den Genen, sondern übertragen sich durch vorgelebte soziale Verhaltensweisen in der Gruppe. Die genetische Disposition, auf die oft angespielt wird, besteht also nicht darin, bestimmte soziale Verhaltensweisen festzulegen, sondern beschränkt sich darauf, dass der Phänotyp ausreichend lernfähig ist, um sich diese Verhaltensweisen anzueignen. Es kommt also weniger auf die Gene an, sondern viel mehr auf die antrainierten Verhaltensweisen der Gruppe, in die das Individuum hineingeboren wird.
VirtualOutrage schrieb:Das aendert aber alles nicht viel daran, dass das Individuum nunmal Information traegt und diese Information sich evolutionaer entwickelt.
Hier spricht also der Informatiker ...
;)Information ist ein Konstrukt, mit dem ich mich auf der biochemischen Ebene nicht anfreunden kann. Man kann die Basensequenzen zwar äquivalent zu den Peptidsequenzen der Proteine als Information ansehen, aber über die Sequenz hinaus lässt sich daraus nichts ableiten, was aus informationstheoretischer Sicht erfassbar wäre. Wie gesagt: Der biochemische Kontext des Zellstoffwechsels verleiht den Sequenzen die Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird. Für sich selbst sind die Informationen der Sequenzen bedeutungslos.
Deshalb entwickeln sich zwar die Sequenzen evolutionär, weil sich Mutationen je länger es dauert zugleich auch je häufiger, aber was die Bedeutung der Sequenzen betrifft, fällt die Entscheidung darüber über den jeweils vorhandenen zellulären und darüber hinaus ökologischen Kontext, der aus Sequenzen Merkmale macht. Und erst über die Selektion wird bewertet, welche Sequenz brauchbar ist und welche nicht.
VirtualOutrage schrieb:... unterm Strich testest du dennoch das zugrunde liegende Genom, da ja dessen Information auf dem Spiel steht.
Wie ich schon schrieb: Es steht nirgends die Information auf dem Spiel, sondern stets jedes einzelne konkrete Leben eines Individuums. Und je nach Populationsgröße und -variationsbreite entscheidet sich statistisch über Selektion, wie der Genpool der Population beschaffen ist. Die Genome werden dabei nicht getestet. Es ist ein rein statistischer Effekt.
VirtualOutrage schrieb:Wird das Verhalten in dem Moment denn geschrieben (also in Form einer Erweiterung des neuronalen Netzes durch chemische Reaktionen (???) ), oder wird es nur "ausgeloest" (also von Geburt an vorhanden, aber bis zu dem Zeitpunkt inaktiv)?
Das ist eine Frage bezüglich der Entwicklungsbiologie, also analog zum Problem der menschlichen Pubertät. Hormonumstellungen wirken sich phänotypisch aus, bewirken also Veränderungen in der Erscheinungsweise des Individuums und schließen Änderungen von Verhaltensweisen mit ein. Ich denke schon, dass da im Gehirn sich auch etwas umbaut, aber der koordinierte Ablauf dieses Umbaus wird natürlich ausgelöst, nachdem er zuvor blockiert war. Aus der Gestalt der Chromosomen lässt sich eine veränderte Aktivität der Genom-Nutzung in der juvenilen Entwicklungsphase, verglichen mit der adulten Entwicklungsphase ableiten (Puff-Muster - nichts Anstößiges!
:D ). Dazu müsste ich mich aber noch einmal genauer kundig machen.
VirtualOutrage schrieb:Warum muesste der Effekt staerker auftreten?
Bei Herdentieren ist das überlebensnotwendig, denn sie sind Beute für Jäger. Wie Du schreibst, tun sich Raubtiere kurzzeitig für die Jagd zusammen, um danach den lockeren Verbund wieder zu verlassen. Auch das macht aus evolutionärer Sicht Sinn, denn wenn auch Raubtiere ständig in großen Herden leben würden, ginge ihnen über kurz oder lang die Beute aus.
Deshalb gibt es bei Raubtieren nur kleine Rudel, die bevorzugt in großen Herden jagen, weil dort die Chance, ein lahmendes Beutetier zu reißen statistisch gesehen größer ist, als wenn man stets auf Einzeltiere aus wäre, die möglicherweise schneller sind, so dass der Krafteinsatz umsonst wäre. Und das zeitweilige Kooperieren in Rudeln führt dazu, dass alle ausreichend Futter haben.