ich empfehle folgende lektür
Michael Moorcock
I.N.R.I. oder Die Reise mit der Zeitmaschine
Behold the Man • 1969
Science Fiction > Alien Contact | Buch-Tips
Dies ist mit Sicherheit der beste und eindringlichste Roman von Moorcock. Er setzt sich als Zeitreiseroman nicht nur mit historischen Fakten und dem Mythos von Jesus Christus auseinander, sondern funktioniert auf vielen Ebenen, ist vielschichtiger, als man es von seinen meisten Werken kennt. Der Roman besteht aus drei Teilen, die drei Entwicklungsstufen im Charakter des Protagonisten entsprechen. Im ersten Teil gelangt Karl Glogauer mit seiner Zeitmaschine in die Vergangenheit und landet unsanft in der Wüste, wobei die Zeitmaschine zerbricht, und mit ihr auch die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Zukunft. Glogauer hat die Absicht, der Kreuzigung Jesu beizuwohnen, nicht zuletzt, um sich selbst zu beweisen, dass die historische Persönlichkeit hinter der Legende des Heilands existiert hat. Zunächst trifft er auf Johannes den Täufer und die Essener, die Glogauer bei sich aufnehmen und ihn vor dem Verhungern und Verdursten retten. Als eine Art Vor-Christen lebten die Essener nach der Philosophie, die später das nie erreichte Ideal der christlichen Kirche sein sollte. Doch selbst Johannes hat nie etwas von Jesus gehört. Glogauer muss feststellen, dass der Heiland ein Jahr vor der Kreuzigung noch gar nicht in Erscheinung getreten ist.
Moorcock beschränkt sich nicht auf die Geschichte Glogauers bei den Essenern, sondern gibt in kurzen Zwischensequenzen viele Einblicke in die Kindheit und die Jugend des Protagonisten. Seine Persönlichkeit ist facettenreich, und Moorcock schildert die Ängste eines jüdischen Jungen, der wenige Freunde hat, sich meist vor Konfrontationen versteckt und mit seiner neurotischen Mutter nicht zurechtkommt.
Im zweiten Teil macht sich Glogauer auf die Suche nach dem realen Jesus. Nach einer entbehrungsreichen Pilgerfahrt erreicht er Nazareth und findet tatsächlich einen Zimmermann namens Josef, der eine Frau namens Maria und einen Sohn namens Jesus hat. Doch Glogauers Entsetzen ist groß: Josef ist ein sehr armer, harter und herzloser Mann, Maria eine promiske Schlampe und Jesus ein körperlich und geistig behinderter Idiot, der gerade seinen eigenen Namen murmeln kann.
Zwischendurch erfährt man von Glogauers weiterer Entwicklung vor der Zeitreise. Er wurde Psychiater, übte seinen Beruf jedoch nicht aus, studierte die Schriften von C. G. Jung, stieß mit seinen Ansichten jedoch meist auf Unverständnis, und hatte verschiedene Verhältnisse zu unterschiedlichen Frauen, die jedoch alle scheiterten. Glogauer konnte in der Zeit, in die er geboren wurde, nicht bestehen, er war ein Versager auf der ganzen Linie.
Im dritten Teil des Romans erfährt der Leser, wie Glogauer zu seiner Zeitreise gekommen ist, und vor allem, welches seine Motivation war, seine Zeit zu verlassen. Vor allem aber wandert Glogauer, enttäuscht von der Nichtexistenz der historischen Persönlichkeit Jesu, durch das Land und beginnt zu predigen. Seine Worte sind anders, als die der anderen Propheten, er spricht von Frieden und Liebe, und durch seine Ausbildung als Psychiater ist er sogar in der Lage, einige Krankheiten zu heilen. Nach und nach wächst Glogauer in die Rolle von Christus hinein, sieht seine Bestimmung darin, eine historische Legende mit Leben zu füllen. Soweit er sich an die Details der Bibel erinnern kann, beginnt er sogar, die Ereignisse selbst zu inszenieren. Zum Beispiel sucht er seine Jünger nicht nach ihren Fähigkeiten, sondern nach ihren Namen aus. Am Ende schickt er sogar Judas zu Pilatus, um sich im eigenen Auftrag verraten zu lassen. Folgerichtig findet die Kreuzigung statt, und Glogauer hat für sein scheinbar unerfülltes Leben die richtige Bestimmung gefunden.
Moorcock hat sich offensichtlich ausgiebig mit der Bibel beschäftigt, um diesen Roman zu schreiben, was einige geschickt gewählte Bibelzitate belegen. Es ging ihm jedoch nicht in erster Linie um eine rebellische Demontage des christlichen Mythos. Wie Florian F. Marzin in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe bereits analysierte, hat Moorcock nicht Jesus verunglimpft, sondern lediglich zur Bedeutungslosigkeit absinken lassen. Wichtig ist nicht die Person, sondern die Taten und Ideen.
Das Buch ist untypisch für Moorcocks Werk. Aber vielleicht gerade deshalb zählt es unbedingt zu den wichtigsten Werken der Science Fiction.
http://www.epilog.de/PersData/M/Moorcock_Michael_1939/INRI_oder_Die_Reise_mit_der_Zeitmaschine_kAC.htm (Archiv-Version vom 13.06.2008)