Organspende im Islam
11.08.2008 um 14:50
Fatwas (Rechtsgutachten) zum Thema Organtransplantation
Über einen langen Zeitraum hinweg nahmen muslimische Chirurgen Transplantationen mit Transplantaten aus eigener Haut vor, wie sie es von anderen Nationen, insbesondere von den Indern, gelernt hatten. Nachdem die Rechtsge-lehrten zu einem Konsens gelangt waren, wurden auch Zahn- und Knochentransplantate von Tieren oder anderen Menschen verwendet (so genannte Xeno- oder Homotransplantate). Im 20. Jahrhun-dert billigten muslimische Rechtsgelehrte auch Bluttransfusionen, obwohl Blut im Allgemeinen für unrein gehalten wird. Die Fatwa des Großmuftis von Ägypten (Nr. 1065, 9. Juni 1959) ist nur ein Beispiel für die positive Einstellung islamischer Rechtsgelehrter gegenüber neuen Behandlungsmethoden (Daru-l-Iftai-l-Misrija, 1982, Band 7).
Die meisten muslimischen Gelehrten und Juristen berufen sich unabhängig von ihrer Zuge-hörigkeit zu unterschiedlichen Rechtsschulen auf das Prinzip der Priorität der Rettung menschlichen Lebens vor allen anderen Überlegungen. Scheich Hasan Ma´mun (Großmufti von Ägypten) sanktionierte neben Hornhauttrans-plantationen von Freiwilligen, die sich damit einverstanden erklärten, nach ihrem Tod zu spenden, auch solche von Leichen, deren Identität nicht mehr festzustellen ist (Nr. 1087, 14. April 1959). Sein Nachfolger, Scheich Huraidi, erweiterte diese Fatwa im Jahre 1966 auf andere Organe (Nr. 993, Band 6). Scheich Chatir, Großmufti von Ägypten im Jahre 1973, veröffentlichte eine weitere Fatwa, nach der es erlaubt ist, die Haut von nicht identifizierten Leichen zu medizinischen Zwecken zu verwenden (Band 7).
Der Großmufti Dschadu-l-Haq billigte Organspenden von Lebenden, solange diese dadurch keinen Schaden erleiden und ihr Geschenk freiwillig und in gutem Glauben um Gottes und um der Sorge um die Menschheit willen machen. Weiterhin stimmte er der Entnahme von Organen aus den Körpern von Toten unter der Bedingung zu, dass ein legales Testament oder die Zustimmung der Angehörigen vorliege. Im Falle von nicht identifizierten Toten solle vor der Organentnahme eine Genehmigung vom Magistrat eingeholt werden (Nr. 1323, 5. Dezember 1979; Band 10).
Die saudi-arabische Groß-Ulema-Fatwa Nr. 99 aus dem Jahre 1982 beschäftigte sich mit dem Thema Selbsttransplantationen, die einstimmig sanktioniert wurden. Die Fatwa gestattete außerdem per Mehrheitsbeschluss Organspenden sowohl von Lebenden als auch von Verstorbenen, sofern ein legales Testament existiere oder die Angehörigen ihre Zustimmung gegeben hätten (Madschallatu-l-Madschma´, 1987, Band 1). In Kuwait wiederholte das Gesetz Nr. 7 (1983) die vorangegangenen Fatwas und wies darauf hin, dass der lebende Spender über 18 Jahre alt sein sollte, damit seine Einwilligung eine rechtliche Grundlage besitze.
Das Thema Gehirntod wurde in keiner dieser Fatwas angesprochen; es wurde erstmals auf der im Jahre 1985 in Djidda abgehaltenen zweiten Internationalen Konferenz Islamischer Rechtsge-lehrter diskutiert. Die Entscheidung wurde vertagt - man wollte neue Forschungsergebnisse abwarten und die Meinungen weiterer Experten hören. Auf der im Jahre 1986 in Amman durchgeführten dritten Internationalen Konferenz Islamischer Rechtsgelehrter wurde von der Mehrheit die Resolution Nr. 5 verabschiedet, die Gehirntod und Herz- bzw. Atemtod einander gleichsetzt (Jeddah Fiqh Academy, 1988). Nach strenger islamischer Lehre gelte ein Mensch dann als Tod, wenn seine Seele aus dem Körper entwichen ist; weil der genaue Zeitpunkt dieses Entweichens jedoch nicht bestimmt werden könne, müsse man sich an die äußeren Anzeichen halten. Dieses Dekret aus dem Jahre 1986 ebnete seinerzeit der Ausweitung von Organtransplan-tations-Projekten den Weg. Sowohl in Saudi-Arabien als auch in Kuwait wurden Kampagnen gestartet, die Organspenden von Hirntoten unterstützten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ziffer von Hirntoten in der Golfregion besonders hoch ist. Zurückzuführen ist dieser Umstand vor allem auf eine ausgesprochen hohe Rate von Verkehrsunfällen. Während man einerseits versuchte, diesem traurigen Umstand durch strengere Verkehrsregeln und weitere gezielte Maßnahmen zu begegnen, entschied man sich andererseits dafür, die Organe Betroffener zum Wohle kranker Menschen zu verwenden.
Das Dekret Nr. 2 der 10. Sitzung der Konferenz der Rechtsgelehrten der Islamischen Liga im Dezember 1987 in Mekka schloss sich der Auffassung jener Resolution nicht an und unterschied zwischen Herz- und Hirntod. In diesem Schriftstück hieß es außerdem, der Hirntod könne auch nicht als tatsächlicher Tod betrachtet werden. Alle vorangegangenen Fatwas zum Thema Organtransplantationen wurden jedoch auch hier bestätigt. Diesem Dekret wurde in den Medien nur geringe Aufmerksamkeit zuteil. Auch die amtlichen Stellen in Saudi-Arabien ignorierten es weitgehend. Herz- und Nierentrans-plantate von Hirntoten wurden ohne Bean-standung von Rechtsge-lehrten auch weiterhin verwendet.
Die detaillierteste Fatwa zum Thema Or-gantransplantationen war die der vierten In-ternationalen Konferenz der Islamischen Rechts-gelehrten, die im Feb-ruar 1988 in Djidda abgehalten wurde (Re-solution Nr. 1). Sie bestätigte erneut alle früheren Fatwas, lehnte aber eindeutig jede Art von Organhandel ab und betonte das Prinzip der Selbstlosigkeit.
Nach dieser Konfe-renz wandten sich die Rechtsgelehrten neuen Einzelbereichen zu, die inzwischen ins Blickfeld der modernen Medizin gerückt waren: Trans-plantationen von Nervengeweben als eine Behandlungsmethode bei der Parkinson'schen Krankheit oder bei anderen Leiden; Transplan-tationen bei Anenzephalie (schwere, angeborene Fehlbildung bzw. vollständiges Fehlen der Großhirnhemisphären, der Hirnanhangdrüse am Boden des Zwischenhirns, des Zwischenhirns oder des Schädeldaches); Transplantationen von Geweben aus freiwillig, medizinisch oder ausgewählt abgetriebenen Embryonen und Präembryonen aus IVF-Projekten (IVF: In-vitro-Fertilisation; Methode des Embryotransfers, zum Beispiel bei der Austragung von so genannten Retortenbabys von Leihmüttern.) (Fiqh Academy, Kuwait, 1989). Details der Debatte würden aber den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Abschließend bleibt jedoch festzuhalten, dass die Grenzen der Medizin in Zukunft wohl immer weiter gesteckt werden. Die islamischen Rechts-gelehrten haben die Aufgabe, sich über neue Entwicklungen zu informieren und diese vor dem Hintergrund etablierter islamischer Prinzipien zu analysieren. Dann werden sie auch weiterhin in der Lage sein, Muslimen bei neuen Fragestellun-gen Handlungskonzepte und Richtschnuren anzubieten und die Gesundheit und Vitalität des Islam unter Beweis zu stellen.