Wer ist der Antichrist?
16.02.2008 um 16:23
Der Antichrist
Solange der Priester noch
als eine höhere Art Mensch gilt,
dieser Verneiner, Verleumder,
Vergifter des Lebens von Beruf,
gibt es keine Antwort auf die Frage:
was ist Wahrheit?
Man hat bereits die Wahrheit
auf den Kopf gestellt,
wenn der bewußte Advokat
des Nichts und der Verneinung
als Vertreter der Wahrheit gilt.
Diesem Theologen-Instinkte
mache ich den Krieg:
Wer Theologen-Blut im Leibe hat,
steht von vornherein zu allen Dingen
schief und unehrlich.
Was ein Theologe als wahr empfindet,
das muß falsch sein:
man hat daran beinahe
ein Kriterium der Wahrheit.
Soweit der Theologen-Einfluss reicht,
ist das Wert-Urteil auf den Kopf gestellt,
sind die Begriffe „wahr“ und ,,falsch“
notwendig umgekehrt:
was dem Leben am schädlichsten ist,
das heißt hier ,,wahr“,
was es hebt, steigert, bejaht,
das heißt ,,falsch“.
Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse,
was ich verachte: der Mensch von heute ist es –
ich ersticke an seinem unreinen Atem.
Gegen das Vergangene bin ich,
gleich allen Erkennenden,
von einer großen Toleranz.
Aber mein Gefühl schlägt um,
sobald ich in unsre Zeit eintrete.
Unsre Zeit ist wissend…
Was ehemals bloß krank war,
heute ward es unanständig –
es ist unanständig,
heute Christ zu sein.
Das Wort Christentum ist schon ein Mißverständnis –
im Grunde gab es nur einen Christen,
und der starb am Kreuz.
Was von diesem Augenblick an
,,Evangelium“ heißt,
war bereits der Gegensatz dessen,
was er gelebt hat:
eine schlimme Botschaft.
Die Praktik ist es,
welche er der Menschheit hinterließ:
sein Verhalten vor den Richter,
vor den Häschern,
vor den Anklägern
und aller Art
Verleumdung und Hohn –
sein Verhalten am Kreuz.
Er widersteht nicht,
er verteidigt nicht sein Recht,
er tut keinen Schritt,
der das äußerste von ihm abwehrt…
Und er bittet, er leidet,
er liebt mit denen,
die ihm Böses tun.
Was folgt daraus?
Daß man gut tut,
Handschuhe anzuziehn,
wenn man das neue Testament liest.
Ich habe vergebens im Neuen Testament
auch nur nach einem sympathischen Zug ausgespäht.
Alles ist Feigheit, alles ist Selbstbetrug.
Vergiftung, Verleumdung,
Verneinung des Lebens,
Verachtung des Leibes,
Herabwürdigung und
Selbstschändung des Menschen
durch den Begriff Sünde.
Es bleibt dem Kritiker
des Christentums nicht erspart,
das Christentum verächtlich zu machen.
Hiermit bin ich am Schluß
und spreche mein Urteil.
Ich verurteile das Christentum,
ich erhebe Anklage
gegen die christliche Kirche.
Ich heiße das Christentum
den einen großen Fluch,
den einen großen Instinkt der Rache –
ich heiße es den einen
unsterblichen Schandfleck
der Menschheit.
Man rechnet die Zeit
nach dem dies Verhängnis anhob –
nach dem ersten Tag
des Christentums! –
Warum nicht lieber
nach seinem letzten?
Nach heute? –
Umwertung aller Werte!
Auszug „Ecce Homo“