Christ sein
25.12.2006 um 11:30
Hermann Raschke:
Historischer und metaphysischer Christus
Aus: "Die Werkstatt des Markusevangelisten
- Eine neue Evangelientheorie",
1924, Seite 26-30.
Es ist dem Kundigen von vornherein klargewesen, daß in der Frage nach der historischen Existenz oder Realität Jesu Christiwieder einmal der Krankheitskeim zum Durchbruch kam, der im Christentum von Anfangenthalten war und der das Christentum nicht eher zur Ruhe kommen läßt, als bis erkritisch überwunden oder ausgestoßen worden ist. In Wahrheit wird diese Frage darum heutenur zum Schein als eine solche der Wissenschaft behandelt, da sie in Wirklichkeit eineSache der Religion oder der Christologie ist, eine innerchristliche Angelegenheit, die soalt ist wie das Christentum selbst. Es hat immer Christen gegeben, denen diemetaphysische Wirklichkeit über die physische ging, denen der metaphysisch wirklicheChristus näher stand als der geschichtlich reale, es hat immer Leugner des„historischen'' Jesus gegeben, weil es im Christentum immer Gnostiker gegeben hat, imAltertum, im Mittelalter und nun in der Gegenwart. Heute wie vor achtzehnhundert Jahrenstehen einander Gnostiker und Vulgärchristen gegenüber, Fleischeschristen undGeisteschristen, Sarkiker und Pneumatiker, oder wie wir sagen: Metaphysiker und Positive,d. h. Positivisten des Christentums. Die Frage nach der historischen Existenz JesuChristi muß darum heute noch einmal so gestellt werden, wie sie zu Anfang unsererReligion gestellt wurde: Ist Jesus Christus ein vom Weibe geborener Fleischesmensch, m.a. W. wurde er überhaupt geboren oder ist er so wirklich, wie die Gottheit wirklich ist,ohne deshalb fleischliche Wirklichkeit zu haben? wie ist Erlösung möglich? durch dengnostischen oder durch den fleischlichen Christus, den vom Weibe geborenen, denkatholischen? durch den fleischlich wirklichen, den „geschichtlichen" Christus oder durchden geistigen ewigen? muß dieser Erlöser metaphysische oder fleischliche Wirklichkeithaben, muß er ewiger oder zeitlicher, einmalig vergangener oder ewig gegenwärtigerChristus sein? Ganz ähnlich wie heute stritten sich etwa ein Markionit und Tertullian um200. Beide wollen Erlösung; sie sind rein soteriologisch und christologisch interessiert;beide brauchen einen realen Christus, sie stehen insofern auf gleicher Basis mit ihrerChristuslehre, nur die soteriologische Wertbetonung ist auf beiden Seiten verschieden.Tertullian wirft Markion nicht vor, daß dessen Christus nicht wirklich sei, weil Markiondie Geburt Christi leugnet und leugnet, daß er ein Mensch von Fleisch und Blut ist, erweiß wohl, daß die höhere Realität, die der Gegner von seinem Christus aussagt, sich mitder von ihm vertretenen messen kann; ihm ist die metaphysische Realität des gnostischenChristus theoretisch ausreichend, darauf seine Erlösungshoffnung aufzubauen. Tertullianmuß nur auch zugleich die fleischliche, konkrete „geschichtliche" Realität behaupten,weil sein praktisches Erlösungsbedürfnis die Auferstehung des Fleisches fordert,
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daher auch die fleischliche Auferstehung verlangt und sorückwärts Fleischestod und Fleischesgeburt und was damit zusammenhängt. So ist die„historische" Realität soteriologisches Postulat der katholischen, wie die metaphysischeRealität soteriologisches Postulat der gnostischen Kirche ist.
Darüber aber läßtsich heute kaum noch streiten, welches von diesen beiden Postulaten innerhalb desChristentums das Prioritätsrecht beanspruchen darf. Die Gnosis ist älter und edler, ausihr ist das Christentum geboren, das katholische Prinzip ist später eingedrungen, und dasälteste Evangelium, das des Markus, gehört der Gnosis, und zwar derjenigen an, die einenwirklichen, d. h. aber metaphysisch wirklichen Christus verkündete, denfleischlichgeborenen aber leugnete und darum keine Geburtsgeschichte Jesu Christierzählt. Erst wenn heute beide Parteien so übereinander klar geworden sind, daß sienichts anderes sind als die Vertreter des uralterr Gegensatzes innerhalb desChristentums, des Gegensatzes zwischen Fleisches- und Geisteschristus, dann hört auch dasRecht zu gegenseitiger Verketzerung auf. Denn ebensowenig wie der „historische" Christusjemals Gegenstand des urchristlichen Bewußtseins gewesen ist, ebensowenig der reinmetaphysische der deutschen spekulativen Religionsphilosophen. Ebensosehr haben aber auchbeide Prinzipien das Recht, ihren Ursprung im ältesten Christentum zu behaupten. Keinevon beiden Parteien kann sagen: ich bin Christ — du nicht; denn den Gegensatz zwischenHistorisch und Nichthistorisch gibt es für das urchristliche Bewußtsein überhaupt nicht,da .es noch kein Wirklichkeitsbewußtsein im heutigen Sinne gab. Es handelt sich nur umdie Frage: Ist Jesus Christus eine Wirklichkeit oder nicht? Darauf nun gibt dasurchristliche Bewußtsein zweierlei Antworten. Die Gnösis sagt: zwar eine Wirklichkeit,aber nicht eine Wirklichkeit, die von dieser Welt ist, sondern eine Wirklichkeit desGeistes, eine wahre Wirklichkeit, eine ewige Wirklichkeit, eine unvergängliche, währenddiese Welt ja nur Schatten und Schein ist, der vergeht. Das Vulgärchristentum sagt: auchdiese Welt ist von dem einen und demselben Gott, der sowohl diese Welt geschaffen hat alsauch der Vater Jesu Christi ist, und also muß auch Jesus Christus an dieserWeltwirklichkeit teilhaben, ebenso wie wir mit unserer Fleischesnatur in diese Weltversenkt sind. Der Vulgärchrist wollte mit der ihm durch die Geburt anhaftendenFleisches- und Weltnatur und überhaupt mit dieser Welt durch Jesus Christus erlöst werdenund mußte darum fordern, daß Christus teilhabe an dieser Welt, der Gnostiker wollte vondieser Welt erlöst werden und mußte darum seinen Erlöser von allem, was auf diese WeltBezug hätte, unberührt und unbefleckt denken. Darum aber, weil ein Wesen nicht von dieserWelt war, mußte es deswegen nicht unwirklich sein, im Gegenteil, gerade als ein Wesen derhöheren Welt war es erst recht wirklich,
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weil dieoffenbare, die sichtbare und greifbare Wirklichkeit nur eine abgeleitete, sekundäre, eineMinderwirklichkeit war gegenüber der wesenhaften Wirklichkeit des Geistes, die wahrhaftund ursprünglich, die erst eigentlich Wirklichkeit ist — realissimum. So lagerten, vonuns aus gesehen, für das urchristliche Bewußtsein zwei Wirklichkeiten nebeneinander, undzwar auf demselben Bewußtseinsniveau, die Wesenwirklichkeit oder die metaphysischeWirklichkeit, das Realissimum, und die Weltwirklichkeit oder Minderwirklichkeit, dasReale. Und beide Wirklichkeiten können der Geschichte angehören: Zeus und Cäsar sindbeides geschichtliche Größen, oder wenn man will auch nicht; denn in unserem Sinne gibtes den Begriff „geschichtlich" überhaupt noch nicht. So ist also der Gegensatz, der heutezur Debatte steht, ein Thema des zwanzigsten und nicht des zweiten Jahrhunderts. Voneinem geschichtlichen Jesus Christus sprach im zweiten Jahrhundert weder Tertullian nochMarkion, während sie sich die Wirklichkeit im einen oder anderen Sinne gegenseitig ohneweiteres zugestanden. Das Problem des einmalig geschichtlichen Jesus Christus ist dagegenein Ergebnis der Bewußtseinsentwicklung, das notwendig erst jetzt, d. h. erst dannauftauchen konnte, da das Wirklichkeitsbewußtsein die Stufe der naivenUnunterschiedenheit und Beziehungslosigkeit von metaphysischer und physischer Realität,von erster und zweiter Wirklichkeit, von Realissimum und Reale verläßt und nun genötigtist, Wirklichkeit im einen Sinne zur Wirklichkeit im anderen Sinne in ein neuesVerhältnis zu setzen. Wie die antike Malerei sich erst langsam zu der Fähigkeit,perspektivisch real zu sehen, hinaufarbeiten und entwickeln mußte, so ist auch dasWirklichkeitsbewußtsein der Antike weit entfernt, perspektivisch real zu denken. Es trägtdie verschiedenen Wirklichkeiten mit demselben Pinsel und mit denselben Farben auf undbringt es kaum bis zu einer schwachen Unterscheidung des Farbentones, während wir tausendFackeln aufleuchten lassen, die uns die Wirklichkeit in vielen Hintergründen in immerneuem Lichte zeigen.
Wie der philosophische Positivismus heute im Fortgange derBewußtseinsentwickelung auf die Frage nach seiner metaphysischen Begründung Rede undAntwort stehen muß, so steht auch der christliche Positivismus heute zum ersten Male vorder Aufgabe, zu begründen, warum nach seiner Behauptung die Erlösung im Sinne desChristentums nur auf dem Boden der einmaligen geschichtlichen Wirklichkeit Jesu Christiund nicht vielmehr auf dem der ewigen metaphysischen möglich sein soll. Jedenfalls hatder christliche Positivismus kein Recht, die Angriffe, die ihn von der christlichenMetaphysik her treffen, als Angriffe gegen das Christentum als solches hinzustellen; dennauch die positivistische Christlichkeit ist nur eine sehr relative. Und nachdem sich nunherausgestellt hat, daß die älteste Quelle des
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Christentums, wie es sich in den Evangelien darstellt, nämlich das Markusevangelium,gerade da entsprang, wo das historistische und positivistische Christentum sie amwenigsten vermutete, in der Gnosis, die die Geburt Jesu leugnete und darum die Geschichteseiner Geburt mit lautem Schweigen überging, so sind beide Parteien quitt. Denn dasproton pseudos war überhaupt die Behauptung von der historischen Existenz Jesu Christi.Wer die historische Existenz behauptet, muß aber auch eine andere Geburt als die aus derJungfrau behaupten, bewegt sich damit aber schon außerhalb des Christentums. Wer aber dieGeburt aus der Jungfrau behauptet, dürfte sich damit außerhalb der Möglichkeit derhistorischen Existenz eines wirklichen Menschen von Fleisch und Blut bewegen — jedenfallsnach heutigen Wirklichkeitsbegriffen.
Und so leugnete die eine Partei diehistorische Existenz auch nur deshalb, weil die andere sie behauptete, wozu sie nichtberechtigt war. Es wäre demnach an der Zeit, daß beide Parteien ihre Akten zum Zwecke derProzeßrevision zurückerbitten; denn sie haben die gegenseitigen Anklagen unterirrtümlicher Voraussetzung erhoben.
Die historische Existenz Jesu braucht nichtgeleugnet zu werden, weil sie in Wirklichkeit gar nicht behauptet werden konnte. Denndas, was das christliche Altertum von Jesus Christus behauptet, ist zwar eineWirklichkeit überhaupt, aber nicht eine historische Wirklichkeit in unserem heutigenSinne, und es ist eine philosophische Fahrlässigkeit und Unterlassungssünde der sog.historischen und kritischen Schule, unkritisch dem altchristlichen Wirklichkeitsbegriffunseren Sinn und unsere Bedeutung unterzuschieben und zu meinen, als ob damit alles inbester Ordnung wäre. Der christliche Historismus ist in die Behauptung der historischenExistenz geradezu mit verbundenen Augen hineingetaumelt, ohne überhaupt die Möglichkeitzu erwägen, ob es sich hier nicht um eine ganz andere Wirklichkeit, etwa nur einepostulative und metaphysische im Sinne des naiven Wirklichkeitsbewußtseins der Antikehandelt. Die Ursünde ist das Übersehen des gegen damals veränderten und entwickeltenWirklichkeitsbewußtseins. Was nach damaligen Begriffen durchaus möglich war, d. h.innerhalb der Grenzen der Wirklichkeit lag, liegt nach heutigem Wirklichkeitsbewußtseinaußerhalb der Wirklichkeitsgrenzen.
Muß Jesus Christus historisch wirklich inunserem Sinne gewesen sein, um dem urchristlichen Erlösungsbedürfnis Genüge zu leisten?Nein.
Muß Jesus Christus irgendwie wirklich sein — ohne näher zu bestimmen, inwelchem Sinne —, um dem urchristlichen Erlösungsbedürfnis Genüge zu leisten? Ja.
Denn der evangelische Christus ist nur ein geschichtlich gekleideter paulinischerChristus.