Wie Doors schon anspricht, bei der Judenverfolgung war man ziemlich rigoros und fixiert, wäre es nach Eichmann höchstselbst gegangen, wären auch "Vierteljuden" aus der Wehrmacht entfernt worden.
"Im Reichssicherheitshauptamt gab es viele Abteilungen, die hatten alle ihre Referenten. Die hat man alle, ohne Ausnahme, nach ein, zwei Jahren aufgrund von Rotation ausgetauscht. Der einzige Referent, der während des ganzen Krieges seine Position behielt, war der Referent der Judenabteilung. Der Referent dieser Abteilung, der blieb, war Eichmann. Das haben sicher auch seine Vorgesetzten gemerkt, dass es bei ihm eine Art Besessenheit wurde, dass er so fanatisch war. Was diese ganze Idee, die geäußert wurde, angeht, dass er ja nur Befehlsempfänger war – natürlich war er ein Befehlsempfänger. Aber eben nicht nur. Vielleicht noch nicht am Anfang, aber im Laufe der Jahre konnte man sehen, das war ein Mann, der sich absolut identifiziert hat mit diesem Vorgehen. Wir haben Beweise, dass er zu Freunden gegen Ende des Krieges gesagt hat: »Ich weiß, der Krieg ist verloren, aber ich werde meinen Krieg noch gewinnen.« Und dann fuhr er nach Auschwitz, um die Tötungen von 10 000 pro Tag auf 12 000 heraufzubringen. Zum Ende des Krieges gab es plötzlich einen Vorschlag, den Eichmann ungeheuer unterstützt hat: dass man sogenannte Vierteljuden in der Armee, also Soldaten, die entweder einen jüdischen Großvater oder eine jüdische Großmutter hatten, dass man die entweder kastriert oder in Konzentrationslager bringt. Das hat Eichmann ungeheuer befördert, zu versuchen, dass dies akzeptiert wird. Wer war dagegen? Keitel, der Oberkommandant der deutschen Armee. Aber nicht aus humanitären Gründen: Der sagte, es gibt Tausende von solchen Soldaten, das schwächt. Das sind Soldaten, die den ganzen Krieg mit den anderen zusammen gekämpft haben in der Armee. Das kann man unmöglich machen, das schwächt und demoralisiert die Armee. Und Hitler hat Keitel unterstützt. Trotzdem war Eichmann ungeheuer dafür.
(...)
Der Polizeioffizier, der für Frankreich zuständig war, brachte mir einmal eine Depesche, von einem deutschen General der Wehrmacht, dem Kommandanten von Paris. Der schrieb an Eichmann: Es gibt einen jüdischen Professor Weiß, ein Experte für Radar. Der hat einige Entdeckungen gemacht und einige Patente über Radarinstrumente. Das ist von besonderer Bedeutung für die deutsche Wehrmacht, schrieb dieser General, wir wollen diesen Mann verhören und das mit unseren Untersuchungen vergleichen. Und deswegen verlangte der General, dass dieser Jude Weiß und seine Frau nicht in den Osten deportiert werden. Das sei wichtig.
Da habe ich bei mir gedacht, mitten im Krieg, eine jüdische Persönlichkeit, ein Radarexperte, über den ein General der Wehrmacht schreibt, dass man ihn gebrauchen kann, da kann Eichmann doch gar nicht anders als bei dem eine Ausnahme zu machen.
Nach ein paar Tagen dann die Antwort von Eichmann: Aus prinzipiellen Erwägungen kann ich unmöglich einwilligen. Wieder ein paar Tage später eine Notiz, aus der hervorgeht, dass der deutsche General bei Eichmann angerufen hat: Wie können Sie es wagen, meiner Forderung nicht nachzugeben! Ich bin General der Wehrmacht. Die Antwort von Eichmann: Und ich bin Obersturmbannführer der SS, und es interessiert mich nicht, was der Jude über Radar weiß. Wieder ein paar Tage später ein Brief von Eichmann an den General: Ich habe diese Sache noch weiter untersucht und festgestellt, dass die deutsche Armee die Patente von diesem Juden Weiß schon übernommen hat. Deswegen sehe ich keinen Grund, die Deportation von diesem Juden Weiß auch nur einen Tag weiter zu verschieben. Daneben die Notiz, dass es ausgeführt wurde. Im Prozess unterstand mir die Beweisvorlage zu Frankreich, da habe ich diese Dokumente beim Gericht eingereicht.
Zwei Tage danach kam eine Sekretärin zu mir und hat gesagt, es sei ein junges Mädchen draußen, das mich sprechen möchte, Anita Weiß. Ich sagte: Kenne ich nicht, aber gut, bringen Sie sie rein. Da kam sie und sagte: Ich bin die Tochter von diesem Professor Weiß. Ich war ein Baby, als man meine Eltern abgeholt hat. Meine Eltern haben anscheinend gesehen, dass die SS kam, um sie abzuholen, da hat man mich zu Nachbarn geschickt. Die haben mich aufgenommen und mich nach Amerika geschickt. Jetzt habe ich gelesen, dass Sie diese Dokumente über meine Eltern eingereicht haben. Aber ich habe meine Eltern nicht nur nicht gekannt, ich habe auch kein Bild von ihnen, das zeigt, wie sie ausgesehen haben könnten. Könnten Sie mir einen Ratschlag geben, wie ich ein Bild von meinen Eltern bekommen könnte, die dann nachher in Auschwitz umgebracht wurden?
Einige Tage später kam eine andere Geschichte aus Holland – das war alles simultan in verschiedenen Ländern –, da kam der Mann, der für Holland zuständig war, und brachte mir einen Brief von dem Vorsitzenden der faschistischen Partei. Da gab es eine faschistische Partei in Holland, und dieser Mann schrieb an Eichmann: Es gibt zwölf Juden, die gehören der faschistischen Partei Hollands an. Es gab solche Typen, warum auch immer, sie waren da. Der Vorsitzende der faschistischen Partei hat verlangt, dass man diese zwölf Juden, die er mit Namen und Adresse anführte, nicht deportiert. Denn das könne demoralisierend wirken auf alle Mitglieder der Partei, das seien loyale Mitglieder der Partei. Deswegen verlangte er, dass diese Leute nicht deportiert werden. Um es noch attraktiver zu machen für Eichmann, schlug er vor, sie könnten ja eventuell Spitzeltätigkeiten in der Jüdischen Gemeinde durchführen. Das könne dabei helfen, alle Juden zu erfassen, wenn diese Leute der faschistischen Partei dort Ausschau hielten.
Wieder habe ich gedacht: Also da wird Eichmann doch wahrscheinlich einwilligen. Die Antwort von Eichmann war aber wieder: Aus prinzipiellen Gründen kann ich unmöglich einwilligen. Wenn es, schrieb er noch, demoralisierend wirken könnte, wenn die Leute heute deportiert werden würden, dann warten wir vielleicht drei, vier Wochen. Bis dahin werden sich alle so an die Deportationen gewöhnt haben, dass es keinen besonderen Eindruck mehr machen wird auf irgendjemanden. Aber er bestehe darauf, dass die zwölf Leute auch deportiert werden, sagte Eichmann.
Es gibt noch ein Beispiel, das ich unmöglich verstehen konnte. Da hat sich der italienische Konsul in Estland an Eichmann gewandt, genauer gesagt an die Abteilung der SS, zu der Eichmann gehörte: Da gibt es eine Frau, eine italienische Jüdin, deren Eltern in Estland wohnen. Die hat ihre Eltern besucht und ist dort gefasst worden. Man will sie deportieren. Da schrieb dieser Konsul: Diese Frau ist die Witwe eines hohen Offiziers der italienischen Armee, der gefallen ist. Er ist nicht nur gefallen, er ist für seine ungeheure Tapferkeit ausgezeichnet worden, in den Kämpfen dieses Krieges. Der ist gefallen, aber ganz Italien spricht von ihm. Von seiner Tapferkeit, von seinem Heldenmut, wie phantastisch er da gekämpft hat. Deshalb verlangte dieser Konsul im Namen der italienischen Behörden, dass man dieser Frau, der Witwe, die Möglichkeit gibt, nach Italien zurückzufahren. Italien, das waren ja die Alliierten von Deutschland – und dieser Offizier hatte auf der deutschen Seite gekämpft. Aber auch hier lautete Eichmanns Antwort: Aus prinzipiellen Erwägungen ausgeschlossen. Eichmanns Abteilung hat das dann genau verfolgt und dafür gesorgt, dass diese Frau auch in ein Lager gekommen ist und dort zu Tode gebracht wurde. Solche Dokumente gab es viele damals in der Voruntersuchung, so etwas macht man da durch, es ist traumatisch."
http://jungle-world.com/artikel/2011/14/42978.html (Archiv-Version vom 02.02.2014)