etrachtet man sich den Artikel und die hier zitierte Passage allerdings etwas genauer, fällt auf, daß Bahr mitnichten zum Kronzeugen für die Existenz der "Kanzlerakte" taugt.
Wir erinnern uns: angeblich soll es sich bei der "Kanzlerakte" um einen Teil eines geheimen Staatsvertrags von 1949 handeln, mit dem sich die Alliierten u.a. die "Medienhoheit" in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2099 sichern. Jeder Kanzler habe diese vor Ablegung seines Amtseides zu unterzeichnen.
Hiervon ist jedoch bei Bahr nichts zu lesen. Wenn es dieses Gespräch zwischen Brandt und Bahr mit dem von Bahr behaupteten Inhalt tatsächlich gegeben haben sollte, dann hätte Brandt drei Briefe unterschreiben sollen (wie angeblich auch die Bundeskanzler zuvor), nicht ein einzelnes Schriftstück, also die besagte "Kanzlerakte". In diesen Briefen wäre es auch nicht um die "Medienhoheit" der Alliierten bis ins Jahr 2099 oder um die "Pfändung der Goldreserven der Bundesrepublik" gegangen, sondern um die Zustimmung zu Vorbehalten der Alliierten aus ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 (-> zu finden bei verfassungen.de). Die Szene, die Brandt Bahr angeblich beschrieben haben soll, soll sich auch nicht vor Ablegung des Amtseides Brandts abgespielt haben, sondern danach. Einzig Bahrs Behauptung, daß da angeblich alle Bundeskanzler eine Erklärung gegenüber den Alliierten abgeben mußten, stimmt mit der Verschwörungstheorie zur "Kanzlerakte" überein.
Nach der Veröffentlichung von Bahrs Text kam übrigens eine weitere Verschwörungstheorie im Zusammenhang mit der "Kanzlerakte" auf.
Der von Brandt laut Bahr erwähnte "hohe Beamte", der ihm angeblich die drei "Unterwerfungsbriefe" vorgelegt habe, sei niemand Geringeres gewesen als der später als "DDR-Agent im Bundeskanzleramt" enttarnte Günter Guillaume.
Guillaume habe von Stasi und/oder KGB den Auftrag erhalten, Brandt die – gefälschten – Papiere unterzeichnen zu lassen. Man habe ein Druckmittel gegen Brandt in der Hand haben wollen, falls dieser während seiner Kanzlerschaft nicht im Sinne der Sowjetunion handeln würde. Wäre dies der Fall gewesen, hätte man Brandt erpressen können. Denn die angeblichen Beweise dafür, daß ein Bundeskanzler die Interessen seiner Bürger ohne Not dermaßen verrät, hätten für Brandt das Aus bedeutet.
"Bewiesen" sei dies angeblich durch drei wesentliche Fakten:
Zum einen wisse niemand außer Brandt – wohl vielmehr genauer: außer Bahr, der sich auf angebliche Aussagen Brandts beruft – von dieser "Kanzlerakte". Dies spreche dafür, daß sie nur ein einziges Mal "zum Einsatz" kam.
Zum anderen sei Guillaume zwar erst 1972 persönlicher Referent Brandts geworden. Allerdings sei er - anhand seiner vielerorts veröffentlichten Biographie nachweisbar - bereits nach der Bundestagswahl 1969 ins Bundeskanzleramt vermittelt worden, wo er ab 1970 zunächst Referent in der Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik des Bundeskanzleramts wurde.
Darüber hinaus spreche die Formulierung "provisorische Regierung" in dem angeblichen "Rickermann-Papier" dafür, daß die Erfinder der "Kanzlerakten-Verschwörung" aus der DDR stammten. Denn nur dort - also nicht in der Bundesrepublik - gab es eine "provisorische Regierung".
http://www.krr-faq.net/kanzlerakte.php (Archiv-Version vom 09.11.2011)