Welthunger
30.08.2010 um 08:52
Wenn ich mal die gute alte Tante FAZ zitieren darf:
Hilfe als Geschäft
Eine provozierende Beschreibung der internationalen Mitleidsindustrie
25. August 2010
Warum spenden noch immer vergleichsweise wenige für das zu einem Fünftel unter Wasser stehende Pakistan? Schon wird vermutet, es habe etwas mit einer Form der Islamophobie zu tun - dem Widerwillen, Menschen in einem Land zu helfen, in dem Fanatiker immer mehr die Oberhand zu gewinnen scheinen und der islamische Fundamentalismus aus seiner antiwestlichen Haltung kein Hehl macht - sogar wenn von westlicher Seite geholfen wird, wie das in diesen Tagen massiv die Amerikaner tun.
Man wisse nicht, wohin die Hilfsgelder fließen, wer sie sich unbefugt aneigne und was überhaupt Sinnvolles mit ihnen gemacht werde, lautet eine andere Antwort auf die Frage. Sie ist in jüngster Zeit immer häufiger öffentlich vorgebracht worden angesichts jener Berichte, die immer wieder zu belegen scheinen, dass große Teile der geleisteten Hilfsgüter und Spendengelder in dunklen Kanälen versacken und insgesamt gesehen möglicherweise sogar mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften.
Dieses Urteil bestätigt die niederländische Journalistin Linda Polman, erfahren an vielerlei Kriegs- und Katastrophenschauplätzen, mit ihrem jüngsten Buch: "Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen". Das Buch hat, kaum dass es erschienen war, für gehörigen Wirbel gesorgt. Viele Mitarbeiter von karitativen Gruppen, deren individuelles ethisches Engagement über jeden Zweifel erhaben ist, müssen sich darin zu Unrecht angegriffen, ja verunglimpft sehen; doch haben andere "Insider" der Autorin bescheinigt, was sie schildere sei in vielen Fällen nur zu wahr. Sie stützt sich auf eigene, jahrelange Erfahrungen und die Stellungnahmen von "Mitspielern" und Betroffenen.
Die Verfasserin beginnt mit Henri Dunant und Florence Nightingale, den beiden Begründern selbstloser institutionalisierter Hilfe in Kriegen und anderen Katastrophen. Beiden ging es um eine Hilfe - zu jener Zeit vornehmlich in Kriegen (Schlacht von Solferino, Krim-Krieg) - ohne Ansehen der Nationen, Parteien, Religionen, um der verwundeten und geschundenen einzelnen Menschen willen. Doch schon der "Engel von Skutari" musste im Krim-Krieg einsehen, was auch Mutter Courage zu benennen wusste: Der Krieg ernährt den Krieg. Die Soldaten, die nicht starben, sondern gesund gepflegt wurden, schickte man alsbald neuerlich an die Front, wo sie überlebten oder fielen. Zur Verkürzung der Leiden und "Desastres de la guerra" trug dies nicht bei. Es entlastete sogar die Kriegskasse der Beteiligten, denn sie brauchten weniger neue Soldaten auszuheben und auszurüsten.
Der Hauptkritikpunkt der Verfasserin lautet denn auch, dass das moderne Hilfswesen - ob es sich um weltweit agierende oder eher kleinere NGOs handelt - ständig in der Gefahr ist, in einem geschäftsmäßigen Sinne auf die Katastrophen geradezu angewiesen, ja mit ihnen längst verflochten zu sein. Altruismus ist nach ihrer Meinung zum wohlorganisierten "business" geworden, dessen milliardenschwere Umsatzzahlen es rechtfertigen, von einer "Fünften Ökonomie" zu sprechen.
Die Autorin, die an zahlreichen Schauplätzen jüngster Katastrophen recherchiert hat - von Goma 1994 angefangen bis nach Darfur und Afghanistan -, spart auch den eigenen Berufsstand, die Journalisten, von ihrer Kritik nicht aus. Die Hilfsorganisationen haben Interesse an effektiver Öffentlichkeitsarbeit und fördern sie mit Hilfe ihrer Kontakte zur Presse. Die Journalisten hingegen, in dem an sich lobenswerten Bestreben, die oft abgestumpfte Öffentlichkeit zu sensibilisieren, ja, aufzurütteln, können der Gefahr einer Dramatisierung der Verhältnisse - die meistens schon schlimm genug sind - schwer entkommen. Die von ihnen weitergegebenen Opferzahlen zum Beispiel sind die der Hilfsorganisationen und häufig nicht so einfach nachzuprüfen. Ein Großteil der Organisationen, so muss man die Analysen der Verfasserin verstehen, lebt nicht nur für die Hilfe, die sie zweifelsohne leisten, sondern auch von ihr - bis hin zur Finanzierung noch der abgeschmacktesten "Unterhaltungsmöglichkeiten" für ihre Mitarbeiter. Bisweilen, wie in den afrikanischen Bürgerkriegen der letzten zwanzig Jahre, wird die humanitäre Hilfe als Kriegswaffe eingesetzt.
Um die herrschende Korruption, ohne die vielfach "nichts geht", zu verdeutlichen, greift Frau Polman zu einem drastischen Vergleich. Sie schreibt: "Nehmen wir einmal an, es ist 1943. Sie sind Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Das Telefon klingelt. Sie dürfen Hilfsgüter in ein Konzentrationslager bringen, aber die Lagerverwaltung darf bestimmen, wie viel davon an das eigene Personal und wie viel an die Gefangenen geht. Was tun sie?"
Das Dilemma begleitet, wenn auch in unterschiedlichem Grade, das internationale Hilfswesen seit seinem Beginn. Opfer dieser Verhältnisse droht immer der einzelne Mensch zu werden, der an Leib und Leben bedroht ist, der in Armut und Elend versinkt, ohne schuldig zu sein. Er hat mit den Machtspielen, noch schlimmer: den Verbrechen der "Großen" nichts zu tun, bedarf jedoch der Hilfe - wie auch jetzt in Pakistan. Der jüngste Aufruf von Minister Niebel, den Pakistanern beizustehen, gilt zu Recht der Hilfe für den unschuldigen Einzelnen, ohne dass das Dilemma insgesamt aufzulösen wäre. Auch die Autorin kann keine Antwort geben. Wo alles längst zum Geschäft geworden ist, vom Sport bis zur Spitzenforschung, konnte es nicht ausbleiben, dass auch der Altruismus zum Geschäft wurde.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen, Campus-Verlag Frankfurt/New York 2010, 267 Seiten, 19,90 Euro.