Türkei hält 17-jährigen Deutschen gefangen
07.11.2007 um 20:04
Da es mit der 3sat-Seite technische Probleme gibt, habe ich den Artikel mal rein kopiert. Die Sendung wird heute Nacht und morgen früh wiederholt.
>>>Rigoroses Recht
Türkische Rechtskultur von Marco W. bis Ragip Z.
Die Aussichten sind düster. Im türkischen Knast sitzt Marco, der minderjährige Schüler aus Uelzen. Der Fall, der sich über ein halbes Jahr hinzieht, ohne dass die türkische Justiz das eigentliche Verfahren überhaupt eröffnet hätte, hat sattsam die Medien gefüttert. Große Empörung entstand über die unvertretbar lange Untersuchungshaft.
Boulevard-Journalisten wie seriöse Leitartikler geizten nicht mit Erstaunen - was wiederum eine prominente Berliner Anwältin, die beide Rechtssysteme sehr gut kennt, nun überhaupt nicht versteht. "Ich bin ganz irritiert über das Erstaunen", sagt die Juristin Seyran Ates. "Zumal das teilweise von Menschen kommt, die die Türkei eigentlich kennen müssten. Wir wissen doch schon seit Jahrzehnten, dass in der Türkei durchaus nicht immer das gleiche Recht angewandt wird wie bei uns in Deutschland oder Europa. Wir wissen, dass wir es mit einem Land zu tun haben, indem es zum Beispiel kein Jugendstrafrecht gibt. Das weiß man doch, und dann muss man sich nicht darüber wundern. Wir wissen auch, dass Menschen viele, viele Monate und Jahre ohne richtigen Prozess im Gefängnis sitzen können“.
Bittere Bilanz
Marco, ein ganz normaler Fall, einer von Tausenden? Der Weg zum Rechtsstaat jedenfalls scheint weit. Unternehmen wir eine Reise nach Istanbul, wo sich Orient und Okzident, aber eben auch zwei immer noch höchst unterschiedliche Rechts-Systeme, begegnen. 30 Kilometer abseits des Zentrums und dennoch jeden Tag von über zehntausend Menschen besucht, ist die Buchmesse Istanbul, jedes Jahr Anfang November. Ohne Zweifel ist dies ein Ort freier Begegnungen, im äußeren Erscheinungsbild der Frankfurter Messe nicht unähnlich. Aber sie ist eben auch die Stätte bitterer Bilanz. "Zur Zeit befinden sich in der Türkei insgesamt 23 Schriftsteller und Journalisten in Gefangenschaft", sagt Necati Abay von der Organisation "Journalists in Prison" in Istanbul. "Die meisten wegen vermeintlicher Beleidigung des Türkentums oder wegen Verstößen gegen das so genannte Anti-Terror-Gesetz."
Beleidigung des Türkentums, die Schmähung des großen Atatürk gar: Im kleinen, aber sehr bekannten Belge-Verlag weiß man, wie rigoros türkische Gerichte den berüchtigten Paragraph 301 des Strafgesetzbuchs auszulegen wissen. In einem Kellerloch, im Untergrund wortwörtlich, werden Übersetzungen von Dostojewski oder Georg Lukacs verlegt und verkauft, aber eben auch Bücher, die an den großen gesellschaftlichen Tabus rütteln. Ragib Zarakolu verlegt seit Jahrzehnten kritische Bücher über den Genozid an den Armeniern und dessen Duldung. Darum steht er auch jetzt wieder vor Gericht. "Mein Prozess könnte damit enden, dass ich ins Gefängnis muß", sagt Ragib Zarakolu. "Der Staatsanwalt hat auf eine Gefängnisstrafe plädiert, das bedeutet, zwischen einem Jahr und drei Jahren Gefängnis." Und das für ein einziges Buch.
Ständige Gefahr
Schon oft haben er und seine Frau, die 2002 gestorbene Menschenrechts-Preisträgerin Ayse, im Knast gesessen. In den 1990er Jahren wurde der Verlag gar von einer Miliz in Schutt und Asche gelegt. Ein langjähriger Mitstreiter, der Verleger Attila Tuygan, sagt: "Du kannst eigentlich kaum ein größeres Projekt in Angriff nehmen. Du sagst dir, morgen oder übermorgen werden sie dich ins Gefängnis werfen. Sie beteuern zwar immer wieder, dass in der Türkei niemand wegen einer Meinungsäußerung in den den Knast käme. Sie gaukeln Europa, ja der ganzen Welt vor, dass sie Demokraten geworden sind. Aber gleichzeitig werden im Namen des Staates Gefängnis-Strafen verhängt. Jeder dieser Prozesse kann mit einer Haftstrafe enden. Wir leben Monat für Monat mit dieser Gefahr, gestern wie auch heute."
Türkischer Alltag - kann da der Fall Marco, die offenkundige Willkür des Gerichts in Antalya, verwundern? Vor allem: Geht es hier wirklich ausschließlich um eine mögliche Vergewaltigung? Oder will man ein fundamentales Zeichen setzen? "Ich bin felsenfest der Überzeugung, dass es dem Gericht auch nicht darum geht, dass ein Mädchen sexuell missbraucht wurde", so Seyran Ates. "Denn auch in der Türkei werden regelmäßig viele, viele tausend Frauen und Mädchen sexuell missbraucht. Ich glaube, es geht um ein Politikum, zu zeigen, wir sind ein Land, das moralisch dem Westen gegenüber höher platziert ist. Dass man wirklich das Signal setzen will, wir hier in der Türkei, in einem muslimischen Land, setzen mehr auf Sitte und Moral, als ihr das im Westen tut."
"Nicht länger schweigen!"
Was aber ist von einer Justiz zu halten, die nicht Recht spricht, sondern Exempel statuiert? Szenenwechsel - und auch wieder nicht. Ragib Zarakolu führt uns in eine geheime Druckerei am Rande Istanbuls. Es ist wieder ein Keller. Selbst ein kurdisches Wörterbuch kann hier nur mit äußerster Vorsicht gedruckt werden. So viele unliebsame Titel, gerade des Belge-Verlags, wurden hier schon konfisziert. Was tun? Ganz einfach, sagt Ragib Zarakolu: nicht länger schweigen! "Ich finde, die europäischen Staaten sind verantwortlich für diese Probleme, weil sie zu tolerant waren", meint Zarakolu. "Damals brauchten sie die Türkei, speziell, die türkische Armee, gegen die Sowjetunion. Heute brauchen sie die Türkei im Kampf gegen den radikalen Islam. Sie haben schon immer die Augen vor diesen Defiziten in der türkischen Demokratie verschlossen. Wäre Europa kritischer, hätten wir hier nicht diese Probleme."
Diplomatisches Schweigen des europäischen Auslands hat wohl noch keinem Häftling in der Türkei geholfen, nicht den türkischen Journalisten und Schriftstellern. Und auch nicht dem jungen Deutschen, dessen Schicksal nun so viele Gemüter bewegt. "Meiner Ansicht nach ist das Maß dessen, was für jemanden in Untersuchungshaft erträglich ist, überschritten", meint die Juristin Seyran Ates. "Rein aus demokratischen, rechtsstaatlichen Gründen muss Deutschland, meine ich, klarere Worte in Richtung Türkei aussprechen." Nur, warum musste erst ein Deutscher in türkische Gefangenschaft geraten, um dieses Rechtssystem, die Verfolgung so vieler, nachweislich Unschuldiger, für alle Welt sichtbar zu machen? Das ist eigentlich eine Schande.<<<