Die civil religion der Türkei. Kemalistische und alevitische Atatürk-Rezeption imVergleich
Einleitung
Gliederungsansicht
Bestellen
Einleitung
"Atatürk ist nach Meinung der Alevi der wahre Mehdi. Er ist der wahre Mehdi-Befreier. Erist der Mehdi, er zeigt den Menschen das Licht."
Diese Sätze stammen von MehmetYaman, einer Führungs- persönlichkeit der Aleviten, der größten religiösen Minderheit inder Türkei. Die Konfrontation mit derartigen Aussagen über Mustafa Kemal Atatürk, denersten Staatspräsidenten der Türkischen Republik, und das Erstaunen darüber bildeten denAusgangspunkt dieser Arbeit.
Wenn man sich in der Türkei aufhält, dann begegneteinem Atatürk zwangsläufig, sei es in Form von Bildern, Büsten, Statuen oder Zitaten. Diekultische Verehrung seiner Person ist Dogma der Staatsideologie der Republik, die sich,so wie sie hier definiert wird, aus eben dieser Verehrung und den sogenannten"kemalistischen Prinzipien" zusammensetzt. Funktion dieser Staatsideologie war esursprünglich, dem neugegründeten türkischen Staat nach dem Untergang des OsmanischenReiches die nötige Legitimation für den angestrebten Säkularisierungs- undModernisierungsprozeß zu verschaffen. Aus den Resten des sich religiös und dynastischlegitimierenden Osmanischen Reiches sollte eine säkulare Republik geformt werden. Aufgabeder neuen Staatsideologie war es, ein säkulares Sinnsystem bereitzustellen, das der neuenGemeinschaft Identität und Legitimität bieten konnte. Gleichzeitig hat sie jedoch, unddas ist ihr Paradoxon, Funktionen übernommen, die ehemals der Islam innehatte und tratdadurch in mancherlei Hinsicht selbst an die Stelle der Religion.
Diese Arbeitversucht, die türkische Staatsideologie mit dem civil religion-Begriff zu beschreiben.Die Diskussion um den Terminus civil religion eröffnet eine theoretische Perspektive, mitderen Hilfe die dezidiert religiösen Konnotationen der türkischen Staatsideologie sowiedie Verehrung Kemal Atatürks faßbar und in ihrem Wechselspiel erklärbar werden.
Der Kult um Atatürk und seine Darstellung im Rahmen der türkischen civil religionerinnern an muslimische Heiligenverehrung. Gleichzeitig fällt auf, daß sich das BildAtatürks innerhalb der türkischen civil religion in substantieller Weise von derAtatürk-Rezeption durch die Aleviten unterscheidet. Hier ist er nicht primär der "Vaterder Nation", der "unsterbliche", "omnipräsente" "größte Held der Türken". Die Alevitenweisen Atatürk vielmehr durch seine Deutung als "Reinkarnation Alis" und als "Erlöser"(mehdi) einen festen Platz in der eigenen religiösen Tradition zu. Das spezifischeAtatürk-Bild der Aleviten herauszuarbeiten, es der allgemeinen Atatürk-Verehrung - alseinem Teil der türkischen civil religion - gegenüberzustellen und nach dem Zusammenhangzwischen beiden Rezeptionen zu fragen, ist ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit.
Aus dieser einleitenden Skizze ergeben sich drei übergeordnete Fragen, die imVerlauf dieser Studie beantwortet werden sollen:
1. Inwiefern kann man die ausden "kemalistischen Prinzipien" und der Verehrung Atatürks bestehende Staatsideologie derTürkei als civil religion bezeichnen?
2. Auf welche Weise und weshalb wirdAtatürk von den Aleviten der Türkei in deren religiöse Vorstellungswelteinbezogen?
3. Was ist das Spezifische des alevitischen Atatürk-Bildes imVergleich zu demjenigen, welches als Teil der türkischen Staatsideologie (civil religion)propagiert wird ?
Es ergibt sich eine Gliederung der Arbeit in dreiTeile:
Das erste Kapitel (Civil religion) gibt einen Einblick in die Diskussion umden religionssoziologischen Terminus civil religion. Dabei werden insbesondere solcheDiskussionsbeiträge aufgegriffen, welche die Funktio-nen der türkischen Staatsideologieaus einer religionssoziologischen Sicht heraus verständlicher machen. Dies sind zum einenfunktionalistische Ansätze, durch die der analytische Blick aufgesellschaftsübergreifende Sinnsysteme geschärft und deren Funktion für das jeweiligeGesellschafts-system klarer erkennbar wird. Zum anderen sind es empirisch verankerteBeiträge, die an konkreten Beispielen das Erscheinungsbild nationaler Sinnsystemedarstellen und ihre Funktionsweise beschreiben.
Abschließend soll eine Definitiondes Terminus civil religion als heuristischer Typus geleistet werden.
Im zweitenKapitel (Die civil religion der Türkei) werden zunächst in historischer Perspektive dieEntstehung der Türkischen Republik und ihrer Ideologie dargestellt. Vor allem diewesentlichen Bestandteile dieser Ideologie (der "türkische Nationalismus" und "Laizismus"sowie die Verehrung Atatürks) werden entsprechend ihrer Bedeutung für den skizziertenKontext vorgestellt und interpretiert. Anhand einer inhaltlichen und funktionalen Analyseder Elemente dieser Ideologie soll nachgewiesen werden, daß es sich hier um einSinnsystem handelt, das, in Anlehnung an die Ausführungen des ersten Kapitels, als civilreligion bezeichnet werden kann.
Um diesen Nachweis zu führen, wurdenstichprobenartig (die Masse der Publikationen über Atatürk ist so umfangreich, daß eineumfassende Durchsicht derselben schlechthin unmöglich ist) unterschiedliche Quellenherangezogen. Die Auswahl der Quellen orientierte sich an dem Kriterium der Erfassungeiner großen Bandbreite unterschiedlicher literarischer Formen, um die Vielschichtigkeitder Aspekte und Dimensionen der Atatürk-Verehrung wiederzuspiegeln.
Von großerBedeutung sind Schulbücher, da ihr Inhalt von staatlicher Seite sehr genau vorgegebenwird. Mittels einer inhaltlichen Analyse von Schulbüchern kann daher detailliert erfaßtwerden, welche ideologischen Anschauungen im Rahmen des nationalen Erziehungsauftragesden Kindern und Jugendlichen weitergegeben werden sollen. Als weitere Quellen wurdenGedichte, vor allem über die türkische Nation und über Atatürk, herangezogen, eröffnensie doch im Gegensatz zu den Schulbüchern Einsichten über die individuelle Rezeptiondieser Phänomene. Schließlich wurden auch türkische Literatur über Atatürk und die vonihm geschaffenen "kemalistischen Prinzipien" - Prinzipien, die, wie gezeigt werden soll,als "Dogmen" der türkischen civil religion gelten können - sowie Artikel aus dertürkischen Presse (hauptsächlich neueren Datums) als Primärquellen berücksichtigt.
Das dritte Kapitel (Mustafa Kemal Atatürk in der religiösen Vorstellungswelt derAleviten) kontrastiert das Atatürk-Bild der türkischen civil religion mit derAtatürk-Rezeption der Aleviten. Die Analyse basiert größten Teils auf alevitischenQuellen neueren Datums und bietet eine systematische Auswertung alevitischer Literaturnach Aussagen über Atatürk. Der Facettenreichtum der religiösen Interpretation Atatürkswird dokumentiert und aus der Religionsgeschichte der Aleviten heraus erläutert. Somitkann die Frage beantwortet werden, welche konkreten historischen Ursachen der religiösenVerherrlichung Atatürks bei den Aleviten zugrunde liegen und welche Funktionen sieübernimmt.
Abschließend sollen die alevitische und die kemalistischeAtatürk-Verehrung zusammenfassend gegenübergestellt und miteinander verglichen werden,wobei auch die Frage nach der Bedeutung der türkischen civil religion für die Aleviteneinbezogen wird.
http://www.uni-erfurt.de/maxwe/personen/dressler/civil_rel.html (Archiv-Version vom 09.03.2005)