Was einstmals zählte
"Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäreneine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, inder Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sieweiß." Wer schreibt so einen Satz? Ein einflussloser Datenschutzbeauftragter? Oder einFDP-Oppositioneller, dem die Troika Schäuble-BKA-Wiefelspütz an der Essensausgabe derBundestagskantine über die Gendaten-gespeicherten Hachsen gefahren ist?
"Wer unsicherist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaftgespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solcheVerhaltensweisen aufzufallen. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancendes Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eineelementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeitseiner Bürger begründeten ... Gemeinwesens ist." Stammt dieser Satz vielleicht aus demEntwurf der Klageschrift, die einige Gegner einer zentralen Antiterror-Datei, vonVorratsdatenspeicherung und Bundestrojaner aufsetzen?
Nein. Der Text stammt aus einerUrteilsbegründung der Richter Benda, Simon, Hesse, Katzenstein, Niemeyer, Heußner undHensche - zusammen der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht. Das klitzekleineProblem: Das Papier der gorreichen Sieben ist 24 Jahre alt und als so genanntesVolkszählungsurteil in die Rechtsgeschichte eingangen.
1983 wollten Bundes- und alleLänderregierungen (außer Hamburg) alle Bundesbürger zu schriftlichen Auskünftenverpflichten. Die daraufhin überschwappende Protestwelle war nach heutigen Maßstäbenunglaublich breit und führte in ihrer Gischt mehrere Verfassungsbeschwerden mit. DasUrteil gilt als Meilenstein des Datenschutzes und führte zu einer Entschärfung desschließlich 1987 ausgeteilten Fragebogens. Gleichzeitig boykottierten viele Bundesbürgerdamals die Datensammlung - trotz Strafandrohung - oder machten bewusst falscheAngaben.
Warum, frage ich mich, warum kann man diese Geschichte heute kaum mehrglauben? Heute gibt ein jeder auf dem Formular zum Ratenkauf eines Sofas mehr Daten preisals einst der Volkszählungs-Fragebogen forderte! Was bewirkt, dass an ihrerinformationelle Selbstbestimmung aktiv interessierte Bürger sich willfährig zu gläsernenmachen lassen? Die ominöse Terrorgefahr wird wohl kaum größer sein als zu Anfang der80er, wo das Oktoberfest-Attentat in aller Gedächtnis und die RAF noch aktiv war.
EineAntwort darauf habe ich nicht. Aber vielleicht eine Theorie: In einer Zeit, die durchRentenlücken, Klimaveränderungen, Jobverlagerungen und ähnliche Verunsicherungen geprägtist, fehlt es unsererem kollektiven Unbewussten zunehmend an Pfeilern zum Anlehnen. Undwenn ehrbare Leute sagen: "Wir beobachten vorsorglich alles, damit du braver Bürgersicher leben kannst" - dann tut das unbewusst gut. Mag sein, trotzdem wünsche ich mir dieglorreichen Sieben zurück.
Quelle: Editorial des Linux-Manazins, AusgabeMai/2007
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