"War Goethe ein Japaner?"
->>Leutheusser: Heißt das, dass wir davon etwas lernen können, dass wir mehr den
Augenblick ergreifen müssen, dass wir viel zu stark in Vergangenheit und
Zukunft leben?
Osten: Ja.
Leutheusser: Dies führt mich zu Ihrem zweiten großen Gebiet, nämlich dem Gebiet der
Goethe-Forschung. Goethe ist ja Ihr Spezialgebiet: Warum haben Sie sich
Ihr Leben lang immer wieder mit Goethe beschäftigt? Sie haben vor kurzem
auch ein sehr erfolgreiches Buch publiziert mit dem Titel "'Alles veloziferisch'
- oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit". Gibt es da auch eine
Verbindung zu Japan oder ist das von mir doch sehr weit hergeholt?
Osten: Nein, es gibt mit Sicherheit Verbindungen zu Japan. Ich habe lange vor
diesem Buch auch schon einmal einen Essay geschrieben für die
"Frankfurter Allgemeine Zeitung" mit dem Titel "War Goethe ein Japaner?".
Die Japaner sind ja die Nation, die Goethe in einer Weise rezipiert hat wie
sonst keine. Es gibt ein Goethe-Museum in Tokio mit 230000 Goethebezogenen
Schriften, es gibt mehrere große Gesamtausgaben Goethes auf
Japanisch. Die Japaner haben in Goethe im Grunde genommen den
Protagonisten der Verehrung der Gegenwart gesehen. Er hat ja selbst
einmal gesagt, die Gegenwart sei die einzige Göttin, die er anbete. Sie
haben in ihm vor allem aber auch denjenigen Schriftsteller gesehen, der das
verteidigt hat, was sie selbst praktizieren, nämlich den Synkretismus.
Goethe hat selbst nach dem Prinzip des Apostels Paulus gehandelt: "Prüfet
alles, doch das Beste behaltet!" Wenn man sich die Religionen in Japan
ansieht, dann stellt man fest, dass es in Japan synkretistisch eine Fülle von
Religionen gibt, ohne dass dort jedoch jemals Religionskriege
ausgebrochen wären. Das heißt, die Japaner nehmen im Grunde aus allen
Religionen das Beste und können damit leben, ohne dass sie von dem
Syndrom der Widerspruchsfreiheit geplagt werden, wie uns das in Europa
so massiv umtreibt.
Leutheusser: Das heißt, Sie kommen zu dem Schluss, Goethe war in der Tat ein Japaner
– zumindest in seinem Denken kam er dem Japanischen sehr nahe. Aber
Sie haben noch einen anderen Aufsatz geschrieben mit dem Titel "War
Goethe ein Mohammedaner?" War denn Goethe alles?
Osten: Goethe hat im Hinblick auf den Islam freilich genau das von sich selbst
behauptet. Er hat in der Vorankündigung des “West-östlichen Divans”,
dieses großen Gedichtzyklus – diesem großen Weisheitsbuch, das leider
viel zu wenig bekannt ist und von dem noch Anfangs des 20. Jahrhunderts
Tausende von Remittenden bei Cotta auf dem Dachboden gelegen haben
– gesagt, er könne den Verdacht nicht zurückweisen, dass er selbst ein
Mohammedaner sei. Und in der Tat gibt es ja eine Fülle von Hinweisen,
dass sich Goethe intensivst mit dem islamischen Glauben beschäftigt hat.
Er selbst hat 1814, als im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen
baschkirische Soldaten in Weimar waren, im dortigen Jungen-Gymnasium
moslemische Gebete gebetet. Er hat sich vor allem auch mit der Religion
und der Kultur sehr stark beschäftigt, u. a. angeregt auch durch Hammer-
Purgstall, den großen Orientalisten. Er hat sich dann auch selbst in
arabischer Schrift versucht, er hat die 6. Sure aus einem lateinischen Text
übersetzt usw. Er hat sich also sehr intensiv mit dem Islam beschäftigt und
dabei entdeckt, dass es eine ganze Reihe von Dingen gibt, die man dort
verehren könnte. Er sieht z. B. im islamischen Determinismus – also in der
Ansicht, dass alles bereits durch Gott vorherbestimmt ist – eine große
Ermutigung des Menschen, dass er sich vor der Zukunft nicht fürchten
müsse. Das heißt, diese Ermutigung, die in der islamischen Welt aufgrund
dieses Determinismus vorhanden ist, hielt er für sehr wichtig für uns, weil er
glaubte, dass das Abendland vor allen Dingen eine Angstkultur sei. Er hat ja
auch den abendländischen Philister bekanntermaßen so definiert: "Was ist
ein Philister? Ein hohler Darm, mit Furcht und Hoffnung angefüllt, dass Gott
erbarm!" Er hat also im Islam eine Gegenwelt zur unseren gesehen. Und er
hat vor allen Dingen...
Leutheusser: Inwieweit ist das heute aktuell? Wir haben ja heute die Auseinandersetzung
mit dem Islam, ich denke auch an den 11. September. Wir kennen also die
andere, die gewalttätige Seite des Islam. Ergebenheit in das Schicksal ist
eine Seite des Islam, aber die Gewaltbereitschaft, die wir kennen gelernt
haben, ist die andere. War das denn von Goethe aus bereits erkennbar?
Oder sind wir heute damit doch in einer ganz anderen Weise konfrontiert?
Osten: Goethe hat das damals schon erkannt. Wir haben damals selbst so etwas
wie einen 11. September von der westlichen Seite aus dort praktiziert. Das
war im Jahr 1798. In diesem Jahr hat kein Geringerer als Napoleon bei
seinem Feldzug in Ägypten das Eliteheer des Islams vernichtet: Er hat
nämlich in der Schlacht bei den Pyramiden mit seinen modernen Waffen
die Mamelucken zusammenkartätscht. Das war immerhin dasjenige
Eliteheer, das im Jahr 1246 in einer großen Schlacht verhindert hat, dass
der Islam von den Mongolen überrannt wurde. Das heißt, in dieser Schlacht
bei den Pyramiden hat eine ungeheure Kränkung stattgefunden.
Leutheusser: Für die islamische Welt.
Osten: Ja, für die islamische Welt. Und Goethe hat eben schon damals die Gefahr
heraufziehen sehen, dass diese Inferiorität gegenüber den avanciertesten
Techniken und Wissenschaften der Moderne in Europa möglicherweise
kompensiert werden könnte durch eine Superiorität des Islam auf dem
Gebiet des Glaubens. Deshalb hat er in den Abhandlungen zum "Westöstlichen
Divan" bereits den Satz ausgesprochen, dass die eigentliche
Geschichte der Menschheit wahrscheinlich der Kampf des Glaubens gegen
den Unglauben sein wird.
Leutheusser: Das klingt unerhört modern.
Osten: In der Tat.
Leutheusser: Und das hängt natürlich auch mit den sozialen Verhältnissen zusammen.
Minderwertigkeitsgefühle entstehen ja auch, wenn kein Wohlstand da ist;
dann flüchtet man in den Glauben. Was würden Sie denn Goethe heute
fragen, wenn Sie ihn treffen würden? Damit komme ich nun zu Ihrem Buch,
das ich soeben vorgestellt habe. Was würden Sie ihn fragen, wenn er hier
wäre und das Thema "Islam" anzusprechen wäre?
Osten: Ich würde Goethe fragen, welche Hoffnungen er damals mit der Möglichkeit
verbunden hat, einen Dialog mit dem Islam zu stiften. Goethe hat ja sehr
wohl gesehen, dass der Islam aufgrund der zweiten Sure im Koran, wie er
selbst sagt, groß und furchtbar sei. Denn dieses Buch, der Koran, lässt ja
keinen Zweifel zu: Es handelt sich hier nicht um Poesie, sondern es handelt
sich um das Wort Gottes, das unverändert hier stehen bleiben muss, weil
es eben nicht von Menschen geschaffen und nur durch den Propheten
hindurch niedergeschrieben worden ist. Das heißt, Goethe hat schon
damals die Gefahr gesehen, dass hier ein Fundamentalismus entstehen
könnte. Er hat also schon sehr früh geahnt, dass man Strategien eines
Dialogs mit dem Islam entwickeln muss. Er hat sich dann damals jenen
persischen Dichter ausgesucht, nämlich Hafis, der das bereits praktiziert
hat: Hafis hatte bereits seinerseits den Versuch gemacht, diesen
Fundamentalismus zu humanisieren und zu flexibilisieren. Hafis war
nämlich derjenige gewesen, der einerseits paktierte und paktieren musste.
Denn Persien war damals durch den Islam besetzt. Hafis war nämlich
Koranlehrer. Aber er hat schon damals andererseits diejenigen Dinge
gerühmt, die der Prophet zutiefst gehasst und verabscheut hat.<<-
www.br-online.de/download/pdf/alpha/o/osten.pdf
Goethe war alles, wofür er sich interessierte. Er war Mohammedaner (siehe Text), Japaner, (siehe Text), Dichter, Denker, Gelenkter und Lenker seiner eigenen Welt. Auch war er ein hervorragender Italiener.
http://www.anthroposophie.net/bibliothek/kunst/dichtung/goethe/bib_goethe_biographie.htm-