Bürgerkrieg in Palästina?
18.12.2006 um 00:04
Hier was zum Hintergrund!
Das große Experiment
von Uri Avnery
uri-avnery.de / ZNet Deutschland 14.10.2006
IST ES möglich, ein ganzes Volkdahin zu bringen, sich einer fremden Besatzung zu unterwerfen, indem man es aushungert?
Das ist sicherlich eine interessante Frage. In der Tat so interessant, dass dieRegierungen Israels und der Vereinigten Staaten – in enger Zusammenarbeit mitEuropa – jetzt an einem streng wissenschaftlichen Experiment beteiligt sind, umeine gründliche und definitive Antwort zu erhalten.
Das Laboratorium, in demdas Experiment durchgeführt wird, ist der Gazastreifen – die Versuchstiere sind 1,3Millionen Palästinenser, die dort leben.
UM DAS Experiment nach denerforderlichen, sauberen wissenschaftlichen Standards durchzuführen, war es zunächstnötig, das Laboratorium vorzubereiten.
Das wurde auf folgende Weise ausgeführt:zunächst holte Ariel Sharon die israelischen Siedlungen, die dort feststeckten, heraus.Man kann ein sauberes Experiment doch nicht durchführen, wenn rund um das Laboratoriumdie gehätschelten Kinder herumlaufen. Dies wurde mit „Entschlossenheit undSensibilität“ gemacht, Tränen liefen wie Wasser, die Soldaten küssten und umarmtendie vertriebenen Siedler. Noch einmal wurde gezeigt, dass die israelische Armee dieallerbeste der Welt ist.
Nachdem das Laboratorium gereinigt war, konnte dienächste Phase beginnen: alle Ein- und Ausgänge wurden hermetisch abgesperrt, um störendeEinflüsse von der Außenwelt auszuschalten. Das machte einige Schwierigkeiten. Aufeinander folgende israelische Regierungen haben den Bau eines Hafens in Gaza verhindert,und die israelische Flotte achtet sehr darauf, dass sich kein Schiff der Küste nähert.Der prächtige internationale Flughafen, der während der Oslo-Periode gebaut wurde, wurdebombardiert und still gelegt. Der ganze Streifen wurde von einem hoch effizienten Zaunumgeben. Und nur ein paar Übergänge blieben, aber alle werden von der israelischen Armeekontrolliert.
Es blieb eine einzige Verbindung mit der Außenwelt: derRafah-Grenzübergang nach Ägypten. Der konnte nicht ganz abgesperrt werden, sonst hätteman Ägypten als Kollaborateur Israels hingestellt. Eine raffinierte Lösung wurdegefunden: die israelische Armee verließ scheinbar den Übergang und übergab ihn eineminternationalen Überwachungsteam. Seine Mitglieder (darunter Deutsche) sind nette Kerle,voll guter Absichten – in der Praxis aber sind sie vollkommen von der israelischenArmee abhängig, die den Übergang aus einem nahen Kontrollraum überwachen. Dieinternationalen Inspekteure leben in einem israelischen Kibbuz und können den Übergangnur mit israelischem Einverständnis erreichen.
Auf diese Weise ist nun alles fürdas Experiment fertig.
DAS SIGNAL für seinen Beginn wurde nach den einwandfreiendemokratischen Wahlen gegeben, die unter der Aufsicht des früheren Präsidenten JimmyCarter durchgeführt worden waren. George Bush war begeistert: seine Vision, dieDemokratie in den Nahen Osten zu bringen, schien sich zu erfüllen.
Aber diePalästinenser bestanden den Test nicht. Statt die „guten Araber“ zu wählen,die die USA anbeten, wählten sie die sehr „bösen Araber“, die Allah anbeten.Bush war beleidigt. Aber die israelische Regierung war begeistert: nach dem Hamas-Siegwaren die Amerikaner und Europäer bereit, an dem Experiment teilzunehmen. Es konnteanfangen.
Die USA und die EU verkündigten eine Sperrung aller Hilfsgelder an diepalästinensische Behörde, da sie von „Terroristen kontrolliert“ wird.Gleichzeitig sperrte die israelische Regierung den Geldfluss.
Um seine besondereBedeutung zu verstehen: gemäß dem „Paris-Protokoll“ (der wirtschaftlicheAnhang des Oslo-Abkommens) ist die palästinensische Wirtschaft ein Teil des israelischenZoll- und Steuersystems. Das heißt, dass Israel alle Zölle der Waren einkassiert, diedurch Israel laufen – es gibt keinen andern Weg. Nachdem eine beträchtliche Summeals Kommission abgezogen worden ist, ist Israel verpflichtet, das Geld derpalästinensischen Behörde weiter zu überweisen.
Wenn die israelische Regierungsich weigert, dieses Geld, das eigentlich den Palästinensern gehört, weiter zuüberweisen, so ist das ganz einfach Diebstahl am hellerlichten Tag. Aber wenn man„Terroristen“ ausraubt, wer kann dagegen protestieren?
DiePalästinensische Behörde – in der Westbank und im Gazastreifen – braucht aberdieses Geld wie die Luft zum Atmen. Auch dies bedarf einer Erklärung: in den 19 Jahrenunter jordanischer Besatzung der Westbank und der ägyptischen Besatzung im Gazastreifen -also von 1948-1967 - wurde dort keine einzige wichtige Fabrik gebaut. Die Jordanierwollten jede wirtschaftliche Entwicklung innerhalb des eigentlichen Jordaniens, alsoöstlich des Jordans. Und die Ägypter vernachlässigten den Gazastreifen ganz allgemein.
Dann kam die israelische Besatzung, und die Lage verschlimmerte sich sogar nochmehr. Die besetzten Gebiete wurden der monopolistisch beherrschbare Absatzmarkt für dieisraelische Industrie, und das Militär verhinderte die Errichtung jedes Unternehmens, dasmöglicherweise mit einem israelischen konkurrieren könnte.
Diepalästinensischen Arbeiter waren gezwungen, in Israel (nach israelischem Standard) fürHungerlohn zu arbeiten. Von diesem zog Israel wie bei israelischen Arbeitern noch alleSozialabgaben ab – ohne dass die Palästinenser selbst in den Genuss vonSozialhilfegelder kamen. Auf diese Weise bestahl die Regierung die ausgebeuteten Arbeiterum weitere Dutzende von Milliarden Dollar, die irgendwo im bodenlosen Fass der Regierungverschwanden.
Als die Intifada ausbrach, entdeckten die israelischen Industrie-und Landwirtschaftsbosse, dass man auch ohne palästinensische Arbeiter auskommen könne.Ja, dass es sogar profitabler ist. Arbeiter, die aus Thailand, Rumänien und andern armenLändern gebracht werden, arbeiten für einen noch geringeren Lohn und unter Bedingungen,die an Sklaverei grenzt. Die Palästinenser wurden arbeitslos.
Das war dieSituation zu Beginn des Experimentes: die palästinensische Infrastruktur zerstört,praktisch ohne Produktionsmittel, keine Arbeit für Arbeiter. Alles in allem, ein idealerAusgangspunkt für das große „Experiment Hunger“.
DIE AUSFÜHRUNGbegann – wie erwähnt – mit der Sperrung der Zahlungen.
DerGrenzübergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten war praktisch geschlossen. Alle paarTage oder Wochen wird er für ein paar Stunden geöffnet – nur um den Schein zuwahren – damit die Kranken oder Sterbenden nach Hause oder ein ägyptischesKrankenhaus erreichen können.
Die Grenzübergänge zwischen dem Streifen undIsrael wurde „wegen dringender Sicherheitsgründe“ geschlossen. Im richtigenAugenblick kommt immer „ die Warnung eines bevorstehenden Terroranschlages“.Palästinensische Produkte, die für den Export bestimmt sind, verfaulen am Übergang.Medikamente und Nahrungsmittel kommen nicht hinein, außer zuweilen für kurzeZeitabschnitte, auch um den Schein zu wahren – wenn eine wichtige Persönlichkeitaus dem Ausland ihre Stimme erhebt und protestiert. Dann kommt eine neue „dringendeSicherheitswarnung“ und die Situation ist wieder wie gehabt.
Um das Bildabzurunden, bombardierte die israelische Luftwaffe das einzige Elektrizitätswerk imGazastreifen, sodass es für einen großen Teil des Tages keinen Strom und kein Wassergibt, (da die Wasserpumpen vom Strom abhängen). Selbst an den heißesten Tagen mitTemperaturen von über 30 Grad C im Schatten gibt es keinen Strom für Gefriergeräte,Ventilatoren, Wasservorräte und anderes Lebensnotwendige.
In der Westbank,einem Gebiet, das viel größer ist als der Gazastreifen (6% der besetztenpalästinensischen Gebietes - aber mit 40% der Bevölkerung) ist die Situation nicht ganzso verzweifelt. Aber im Streifen lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb derpalästinensischen Armutslinie, die natürlich viel, viel niedriger liegt als dieisraelische „Armutslinie“. Viele Bewohner des Gazastreifens können nur davonträumen, so wie in der nahen israelischen Stadt von Sderot arm zu sein.
Wasversuchen die Regierungen Israels, der USA, und Europas, den Palästinensern zu sagen? DieBotschaft ist klar: ihr kommt an den Rand des Hungers und sogar darüber hinaus, wenn ihreuch nicht ergebt. Ihr müsst die Hamas-Regierung davonjagen und Kandidaten wählen, dievon Israel und den USA anerkannt werden. Und - was noch wichtiger ist – ihr müssteuch mit einem palästinensischen Staat zufrieden geben, der aus verschiedenen Enklavenbesteht, die alle von der Gnade Israels abhängig sind.
IM AUGENBLICK grübeln dieAusführenden des wissenschaftlichen Experimentes über einer komplizierten Frage: Wiehalten die Palästinenser trotz allem durch? Nach allen Hypothesen hätten sie längstaufgeben müssen.
Da gibt es tatsächlich „ermutigende“ Zeichen. Dieallgemeine Atmosphäre der Frustration und Verzweiflung schafft Spannungen zwischen derHamas und Fatah. Hier und dort gab es schon Zusammenstöße, Leute wurden getötet undverletzt, aber jedes Mal kam es kurz vor einem Bürgerkrieg zu einem Stillstand. DieTausenden von im Verborgenen wirkenden mit Israelis zusammen arbeitendenpalästinensischen Kollaborateure versuchen auch, die Dinge anzuheizen. Aber im Gegensatzzu den Erwartungen hörte der Widerstand nicht auf. Nicht einmal der gefangene israelischeSoldat ist entlassen worden.
Eine der Antworten liegt in der Struktur derpalästinensischen Gesellschaft. Die Hamula (die Großfamilie) spielt hier eine zentraleRolle. Solange eine Person in der Familie arbeitet, verhungern auch die Verwandten nicht,auch wenn es eine weit verbreitete Unterernährung gibt. Jeder der irgendein Einkommenhat, teilt es mit seinen Brüdern und Schwestern, Eltern, Großeltern, Cousins und derenKindern. Das ist ein einfaches System, aber unter solchen Umständen sehr wirksam. Esscheint, dass die Planer des Experimentes damit nicht gerechnet haben.
Um denProzess zu beschleunigen, wurde in dieser Woche noch einmal die ganze Wucht derisraelischen Armee eingesetzt. Drei Monate lang war die israelische Armee mit dem 2.Libanon-Krieg beschäftigt. Es wurde deutlich, dass die Armee, die während der letzten 39Jahre hauptsächlich als Kolonialpolizei beschäftigt war, nicht funktioniert, wenn sieplötzlich mit einem trainierten und bewaffneten Gegner konfrontiert ist, derzurückschlagen kann. Hisbollah wandte tödliche Panzerabwehrwaffen gegen Panzertruppen an,Granaten regneten in den Norden Israels. Die Armee hatte seit langem vergessen, wie mansich gegenüber solch einem Feind verhält. Und der Feldzug endete nicht gut.
Jetzt kehrt die Armee zu dem Krieg zurück, den sie kennt. Die Palästinenser imGazastreifen haben (noch) keine Panzerabwehrraketen, und die Qassams verursachen nurbegrenzten Schaden. Die Armee kann wieder Panzer ungehindert gegen die Bevölkerunganwenden. Die Luftwaffe, deren Hubschrauber sich fürchteten, im Libanon Verletzteherauszuholen, kann nun wieder nach Lust und Laune Raketen auf Häuser „gesuchterPersonen“, ihrer Familien und ihrer Nachbarn abfeuern. Wenn in den letzten dreiMonaten „nur“ 100 Palästinenser pro Monat getötet worden waren, so sind wirjetzt Zeugen eines dramatischen Anstiegs der Zahl von getöteten und verletztenPalästinensern.
Wie kann nur eine vom Hunger geplagte Bevölkerung, der auchMedikamente und die medizinischen Apparate für ihre einfachen Krankenhäuser fehlen, unddie Angriffen vom Land, Meer und aus der Luft ausgesetzt sind, durchhalten? Wird sienachgeben? Wird sie auf die Knie gehen und um Gnade bitten? Oder wird sie eineübermenschliche Kraft finden und die Prüfung bestehen?
Kurz gesagt: Was und wieviel ist nötig, bevor sich eine Bevölkerung ergibt?
Alle, die an dem Experimentteilnehmen – Ehud Olmert und Condoleezza Rice, Amir Peretz und Angela Merkel, DanHalutz und George Bush, vom Friedensnobelpreisträger Shimon Peres ganz zu schweigen– sind alle über Mikroskope gebeugt und warten auf eine Antwort, die zweifellos einwichtiger Beitrag für die politischen Wissenschaften sein wird.
Ich hoffe, dasNobelpreis-Komitee beachtet dies auch genau.