Du lieber Himmel
28.02.2004 um 23:28
Hab da was, was hier irgendwie gut reinpasst.
Ich hoff Ihr könnt dem folgen, und was damit anfangen.
Ist nicht ganz einfach, aber naja, ich versuchs mal...
>>Was mich abgrenzt, was mich beiseite stellt gegen den Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung an jedermann enthält.
Hier nicht eher die Augen aufgemacht zu haben, gilt mir als die größte Unsauberkeit, die die Menschheit auf dem Gewissen hat, als Instinkt gewordener Selbstbetrug, als grundsätzlicher Wille, jedes Geschehen, jede Ursächlichkeit, jede Wirklichkeit nicht zu sehen, als Falschmünzerei in psychologicis bis zum Verbrechen. Die Blindheit vor dem Christentum ist das Verbrechen par excellence - das Verbrechen am Leben...
Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber - fünf, sechs Augenblicke der Geschichte abgerechnet, mich als siebenten - in diesem Punkte sind sie alle einander würdig.
Der Christ war bisher das „moralische Wesen", ein Kuriosum ohnegleichen - und, als „moralisches Wesen", absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger, als auch der größte Verächter der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral - die bösartigste Form des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit: das was sie verdorben hat. Es ist nicht der Irrtum als Irrtum, was mich bei diesem Anblick entsetzt, nicht der jahrtausendelange Mangel an "gutem Willen", an Zucht, an Anstand, an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verrät - es ist der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand, daß die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen blieb!...
In diesem Maße sich vergreifen, nicht als einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit!...
Daß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine „Seele", einen „Geist" erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt, daß man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (- das Wort schon ist verleumderisch! -) das böse Prinzip sucht, daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im „Selbstlosen", im Verlust an Schwergewicht, in der „Entpersönlichung" und „Nächstenliebe" (- Nächstensucht!) den höheren Wert, was sage ich! Den Wert an sich sieht!... Wie! wäre die Menschheit selber in décadence? War sie es immer? - Was feststeht, ist, daß ihr nur Décadence-Werte als oberste Werte gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache „ich gehe zugrunde" in den Imperativ übersetzt: „ihr sollt alle zugrunde gehen" - und nicht nur in den Imperativ!
...Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. - Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmungen emporgelogen hat - die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht erriet... Und in der Tat, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche, daher die Moral... Definition der Moral: Moral - die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen - und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition.-
Hat man mich verstanden? - Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal - er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm... Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen hat. Alles was bisher „Wahrheit" hieß, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu „verbessern", als die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus... Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochenen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnisvollste Art von Mißgeburten darin, verhängnisvoll, weil sie faszinieren... Der Begriff „Gott" erfunden als Gegensatzbegriff zum Leben - in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff „Jenseits", „wahre Welt" erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt - um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsere Erdenrealität übrigzubehalten! Der Begriff „Seele", „Geist", zuletzt gar noch „unsterbliche Seele", erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank - „heilig" - zu machen, um allen Dingen, die ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das „Heil der Seele" - will sagen eine folie circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs - Hysterie! Der Begriff „Sünde" erfunden samt dem dazugehörigen Folter - Instrument, dem Begriff „freier Wille", um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des „Selbstlosen", des „Sich-selbst-Verleugnenden" das eigentliche décadence-Abzeichen, das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können , die Selbstzerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur „Pflicht", zur „Heiligkeit", zum „Göttlichen" im Menschen! Endlich - es ist das Furchtbarste - im Begriff des guten Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, was zugrunde gehen soll -, das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht - dieser heißt nunmehr Böse... Und das alles wurde geglaubt als Moral!
Ecrasez l´infâme!
Hat man mich verstanden?
Dionysos gegen den Gekreuzigten...
PS. Hab das nicht selbst verfasst. Ist von Nietzsche...
Fands nur sehr passend für diese Seite.
Der Wissende lernt durch Erfahrung,
der Gläubige lernt die Erfahrung an sein Weltbild anzupassen.
Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken,
da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt.