Wunderbares Europa
15.05.2006 um 16:39
Interessenkonflikt mit Berlin
Mit der Annexion Äthiopiens wollte Mussolini auchgegenüber Hitler die eigenen Expansionsziele herausstellen. Die widerstreitendenInteressen zwischen Italien und Deutschland kulminierten in der Österreich-Frage. Beieinem »Anschluß« Österreichs und einer gemeinsamen Grenze fürchtete Rom um dasdeutschsprachige, früher österreichische Südtirol, die Kriegsbeute aus dem ErstenWeltkrieg. Außerdem lag von Wien aus der Balkan in greifbarer Nähe, eine Einflußsphäre,die Italien für sich beanspruchte. Als am 25. Juli 1934 die SS-Standarte in Wien nach derErmordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß mit einem Putsch das Signal zum EinmarschDeutschlands geben wollte, sicherte Mussolini Österreich Unterstützung zu und schicktevier Divisionen an die Brennergrenze. Hitler gab nach und verschob den »Anschluß«.
Mussolini betrachtete sich zu dieser Zeit nicht nur als »Führer des Faschismus« überItalien hinaus, sondern geistig auch über Hitler erhaben. Nachdem er sich in derÖsterreich-Frage durchgesetzt hatte, führte er die »historische Überlegenheit Italiens«ins Feld und verkündete: »Dreißig Jahrhunderte Geschichte erlauben uns, mit einemsouveränen Mitleid auf gewisse Ideen von jenseits der Alpen zu blicken, die von einerBrut vertreten werden, welche wegen Unkenntnis der Schrift unfähig war, Dokumente ihresVorhandenseins zu hinterlassen, als Rom einen Cäsar, Vergil und Augustus besaß.«3
Paris gab Carte blanche
Frankreich und Großbritannien wollten die Gegensätzezwischen Berlin und Rom ausnutzen. Sie versuchten, Hitlers Expansionsdrang nach Osten,vor allem gegen die UdSSR, zu lenken und gleichzeitig Italien, den früheren Verbündetenaus dem Ersten Weltkrieg, für eine Allianz gegen Deutschland zu gewinnen. Zum Ausgleichboten sie Mussolini freie Hand für die Eroberung Äthiopiens. Als der französischeAußenminister Pierre Laval am 7. Januar 1935 Rom besuchte, sprachen sich beide Seiten fürdie Wahrung der Unabhängigkeit Österreichs aus. In einem Geheimvertrag stimmte Paris deritalienischen Annexion Äthiopiens zu, während Rom die französische Politik im Mittelmeerunterstützte. London, das um seine an Äthiopien grenzenden Kolonien Kenia und Ugandasowie den anglo-ägyptischen Sudan fürchtete, versicherte Mussolini, seine Interessen inOstafrika würden nicht beeinträchtigt.
Im Besitz dieser Carte blanche schrittMussolini zur militärischen Vorbereitung. Bereits im Februar 1935 begann die Verschiffungder Kolonialarmee nach Eritrea und Somalia, die zu Beginn der Aggression 400 000 Mannzählte. Im März wurde ein Ostafrika-Kommando gebildet, im Juli ein AllgemeinesKommissariat für die Kriegsproduktion, das alle strategischen Rohstoffe – wie Erdöl,Kohle, Kupfer, Zinn, Nickel – und 876 kriegswichtige Unternehmen kontrollierte.
Verhängnisvolles Appeasement
addis
Zerstörungen in Addis Abeba nach derInvasion 1936
Foto: jW-Archiv
Im April trafen sich Mussolini und dieRegierungschefs Frankreichs und Großbritanniens in Stresa am Lago Maggiore, um dieVerletzung des Versailler Vertrages durch Deutschland zu erörtern. Die »Äthiopien-Frage«wurde mit keinem Wort erwähnt. Es begann die sogenannte Politik des Appeasements, derBeschwichtigung, welche die Öffentlichkeit über die Aggressionsabsichten des »Duce«hinwegtäuschen sollte. Londons Haltung entsprach der großen Sympathie, die konservativebritische Politiker schon seit der Machtergreifung Mussolinis dafür bekundeten, daß erdas Land vor dem »Bolschewismus gerettet« und es »erneuert« habe. Als Außenministerdrückte Lord Curzon dem »Duce« seine »hohe Wertschätzung« aus. In den 30er Jahren führtedie englische Bourgeoisie »durch ihre Zugeständnisse und die Unterstützung, die sie denKriegsbrandstiftern in Europa und im Fernen Osten (gewährte), eine Beschleunigung einesneuen Weltkrieges herbei«.4
Nachdem Mussolini am 18. September 1935 in derMorning Post erneut feierlich versichert hatte, Italien habe nicht die Absicht, dieInteressen Frankreichs und Großbritanniens in Ostafrika zu beeinträchtigen und werdealles Mögliche tun, um mit Äthiopien einen Konflikt zu vermeiden, ließ er am 2. Oktoberdie Maske fallen und kündigte den Beginn des Eroberungsfeldzuges für den nächsten Tag an.
Der von Paris und London beherrschte Völkerbund verurteilte am 7. OktoberItalien als Aggressor, verhängte jedoch weitgehend nur wirkungslose Sanktionen. VomEmbargo für kriegswichtige Handelsgüter war das für den Einsatz der Luftwaffe und Panzerentscheidende Erdöl ausgenommen. Die USA, die dem Völkerbund nicht angehörten, brachendie Beziehungen zu Rom nicht ab und lieferten der faschistischen Regierung sogar bis Ende1935 für 1 252 000 US-Dollar Erdöl. Wirksame Sanktionen forderte nur die UdSSR, dieverlangte, jegliche Zufuhr von Erdöl nach Italien sowie zum Kriegsschauplatz zuunterbinden und dazu auch die Durchfahrt durch den Suezkanal zu sperren. Der Völkerbundignorierte die Anträge. Mussolini konnte ungehindert ans Werk gehen.
Internationale Solidarität
Die italienischen Kommunisten und Sozialisten,die 1934 ein Aktionseinheitsabkommen geschlossen hatten, beriefen nach Brüssel einen»Kongreß der Italiener im Ausland« ein, der am 13. Oktober die sofortige Einstellung derAggression forderte. Es gab jedoch in Italien noch keinen Widerhall. Es bestätigte sich,was Togliatti auf dem VII. Komintern-Kongreß gesagt hatte: Die »kriegerische Lösung«diene der »Festigung der Grundlagen der Diktatur«.5
Der rassistischen Losung vonder »zivilisatorischen Mission« setzte Togliatti die der Vereinigung der Proletarier undunterdrückten Völker entgegen und erklärte: »Das abessinische Volk ist der Verbündete desitalienischen Proletariats gegen den Faschismus und wir versichern (es) unsererSympathien«.6 Seine Worte blieben kein Lippenbekenntnis. 38 italienischen Kommunistengelang es, nach Äthiopien durchzukommen, wo sie in den Reihen der Armee des Kaisers HaileSelassie als Offiziere gegen Mussolini kämpften.
Äthiopien war ein fürafrikanische Verhältnisse entwickelter Staat und seit 1923 Mitglied des Völkerbundes.Nach der Mobilisierung verfügte es über eine Armee von 550 000 Mann. In der HauptstadtAddis Abeba herrschte an der Spitze einer feudalen Monarchie Kaiser Haile Selassie, derden Titel »Negus Neghesti«, König der Könige, trug. Er hatte 1930 den Thron bestiegen.
Das Gros der italienischen Truppen griff aus dem Raum Agordat im Norden Eritreas– in der Hauptstoßrichtung auf der alten Kaiserstraße – in Richtung Addis Abeba an. ImSüden stieß eine zweite Gruppe aus dem Raum Belet Uen von Somalia aus in Richtung Goraheizur Eisenbahnlinie Djibouti–Addis Abeba vor. Um das strategische Ziel der vollständigenEroberung zu verwirklichen, mußte bis Mai die Hauptstadt erreicht werden, da danach durchdie einsetzende Regenzeit das Gelände nicht mehr zu passieren war.
Mussolinisetzte Giftgas ein
Die Äthiopier erwarteten die Italiener im Landesinneren, weitvon deren Nachschubbasen entfernt. Sie verzichteten auf eine Partisanenstrategie undstellten sich der offenen Feldschlacht. Trotz der großen Überlegenheit des Gegners anFlugzeugen, schwerer Artillerie, Panzern und Fahrzeugen und trotz massiver Luftangriffeauf Städte und Dörfer brachten sie die Kolonialtruppen zunächst zum Stehen und gingensogar zu Gegenangriffen über. Am 16. November löste Mussolini General Emilio De Bonowegen der Mißerfolge als Befehlshaber ab und übergab Marschall Pietro Badoglio dasKommando. Gleichzeitig befahl er, Giftgas einzusetzen. Über den äthiopischen Stellungenwurden mehr als 350 Tonnen des von den Deutschen Lommel und Steinkopf entwickeltenSenfgas (Yperit) abgeworfen. Nach Angaben aus Addis Abeba fanden während des Feldzugesauf äthiopischer Seite etwa 275 000 Menschen den Tod, die meisten durch das Giftgas. DemHistoriker Angelo Del Boca zufolge wurde das Senfgas ab Dezember 1935 bis April 1936eingesetzt, also bis kurz vor Erreichen der Hauptstadt und auch dann noch, als dieÄthiopier kaum mehr in der Lage waren, Widerstand zu leisten.7 Italien brach mit derAnwendung von Giftgas das 1925 unterzeichnete internationale Abkommen über den Verzichtdes Einsatzes chemischer Waffen. Um keine Berichte über den Yperit-Einsatz an dieÖffentlichkeit kommen zu lassen, befahl der »Duce«, gefangengenommene Europäer, die inder äthiopischen Armee gekämpft hatten, zu erschießen.
Der Kolonialarmee gelangnach dem Giftgas-einsatz der Durchbruch. Am 5. Mai 1936 zog sie in Addis Abeba ein.Selassie hatte auf Beschluß seiner Regierung am 2. Mai die Hauptstadt in Richtung Londonverlassen. Am 1. Juni schloß Mussolini Äthiopien mit Eritrea und Somaliland zur KolonieItalienisch-Ostafrika zusammen. Der italienische König Vittorio Emanuele III. krönte sichzum äthiopischen Kaiser, und Pius XI. zwang den Äthiopiern auf den Trümmern derkoptischen Kirche eine ihnen fremde Religion auf.
Für das Kapital waren reicheRohstoffquellen erobert worden: Eisen, Kupfer, Mangan, Schwefel, Nickel, Platin und Gold.Es gelang indessen nicht, Äthiopien völlig zu unterwerfen. Die verschiedenen Stämme unterFührung ihrer Ras (Fürsten), aber auch selbständige Partisanenabteilungen aus früherenSoldaten und Offizieren kontrollierten die schwer zugänglichen Bergregionen undWüstengebiete. Um den Widerstand zu zerschlagen, führten Abteilungen der Schwarzhemden»Strafexpeditionen« durch. Der als Kriegsberichterstatter anwesende Korrespondent desMailänder Corriere della Sera Ciro Poggiali schilderte in seinen 1971 in Mailanderschienenen »geheimen Aufzeichnungen«, wie in Addis Abeba Italiener in »echterSA-Manier« herumliefen und »mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet« die Einheimischen,die sich noch auf der Straße befanden, erschlugen. Die Straßen seien »von Toten übersät«gewesen.8
Zehntausende im KZ interniert
Gegen den Widerstand wurdeerneut Giftgas eingesetzt. Nach einem erfolglosen Attentatsversuch auf seine Personbefahl Marschall Rodolfo Graziani, nunmehr Vizekönig und Generalgouverneur vonItalienisch-Ostafrika, am 19. Februar 1937 ein Massaker, dem allein in der Hauptstadt 30000 Menschen zum Opfer fielen. Die äthiopische Intelligenz ließ er als einen potentiellenOppositionsherd liquidieren, unzählige christlich-koptische Geistliche und alle Kadettender Militärakademie von Addis Abeba umbringen. Nur auf den Verdacht hin, daß sie an demAttentat beteiligt gewesen sein könnten, wurden im Mai 1937 nahezu 300 Ordensbrüder desKlosters Debra Libanos erschossen. Zehntausende Äthiopier sperrte das Kolonialregime inKonzentrationslager, wo die meisten elendig zugrunde gingen.
Bereits am 6.Januar 1936 schlug Mussolini Hitler vor, »die italienisch-deutschen Beziehungen von derösterreichischen Hypothek zu befreien«.9 Am 25. Oktober 1936 bildeten beide Regimes, dieAchse Berlin–Rom und am 6. November 1937 trat Italien dem Antikominternpakt bei.
Auf dem Weg zum Münchener Abkommen und weiter in den Abgrund des Zweiten Weltkriegesbezeichnete der Krieg in Afrika einen Markstein. Hitler war die Haltung Frankreichs undGroßbritanniens Beweis dafür, daß diese nicht gewillt waren, die Souveränität Äthiopienszu verteidigen. Er sah sich bestärkt, im März 1936 in das entmilitarisierte Rheinlandeinzumarschieren und zwei Jahre darauf Österreich zu besetzen. Großbritannien undFrankreich unterstützten mit der sogenannten Politik der Nichteinmischung 1936 denFranco-Putsch und schauten tatenlos der deutsch-italienischen Intervention gegen dieSpanische Republik zu.