Minderheiten werden Mehrheiten
23.04.2006 um 18:52Bernard Lewis blickt skeptisch, aber gelassen auf die Zukunft Europas. Der Kontinentwird muslimisch werden, glaubt der Islamwissenschaftler
Die WELT: Das Zwölfer-Manifest,unterzeichnet Mitte März auch von Ayaan Hirsi Ali, Irschad Manji, Salman Rushdie und IbnWarraq, bezeichnet den Islamismus als neue globale totalitäre Bewegung wie einstNationalsozialismus und Stalinismus. Folgt jetzt eine Epoche heftiger ideologischerZwiste, die über islamische Minderheiten Europas nicht nur außen-, sondern gleichwohlinnenpolitisch ausgetragen werden?
Bernhard Lewis: Ja, wobei in einer Reihe voneuropäischen Ländern Minderheiten zu Mehrheiten werden. Ein Syrer fragte dazu:islamisiertes Europa oder europäisierter Islam? Das ist die Kernfrage. Wir wissen nicht,wohin es gehen wird. Klar ist, daß die islamischen Gemeinschaften in Europa durch eigeneLeute terrorisiert werden. Viele wagen nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Sichergibt es viel mehr Moslems in Europa, die einen europäischen Ansatz favorisieren, alsoffen deutlich wird. Leicht werden sie als Verräter hingestellt und sogar ermordet. Daherist es schwer, die echte Meinung herauszufinden, sofern nicht solche mutigen Menschen wiedie von Ihnen erwähnten auftreten. Doch für einfache Leute ist das auch sehr gefährlich.
WELT: Umgekehrt muß der Rechtsstaat strikter moslemische Dissidenten in derBreite beschützen. Ist nun Demokratie oder Islamismus die neue Weltfrage?
Lewis:Nein, ich würde es nicht Islamismus nennen. Denn dies verführt dazu, alles mit dem Islamzu identifizieren. Wir haben es jedoch nur mit einer Bewegung innerhalb des Islams zutun. Obzwar sicher mit der stärksten, lautstärksten und am besten finanzierten, nichtzuletzt durch Quellen des saudiarabischen Wahhabismus.
WELT: Trifft dieseAnnahme auch auf die Türken, die in Deutschland leben, zu?
Lewis: Diese sindsicher radikaler und revolutionärer als die der Türkei. Die Vermittlung des Islams in derTürkei ist traditioneller. In Deutschland aber geht mehr die fanatische undextremistische Art der islamischen Lehren um. Weder kontrollieren das EuropasRegierungen, noch finanzieren sie es. Eine Grauzone, die für die Wahhabiten zugänglichist.
WELT: Hat bisher jemand Ihre These, wonach Europa am Ende des Jahrhundertsislamisch sein werde, entkräften können?
Lewis: Ein Argument wäre, daß Moslemsbald das demographische Muster Europas übernehmen. Aber ich sagte ohnehin, sofern dieaktuellen Trends der Immigration und Demographie bleiben, dann wird Europa islamischwerden. Freilich gab es bislang keine große Änderung in diesen Trends.
WELT:Ein Blick zurück auf die Unruhen in Frankreich: Besteht Europas Kurs nur noch in derBeschwichtigung seiner moslemischen Minoritäten?
Lewis: Jedenfalls ist es das,was Europa tut. Und diese Minderheiten werden Mehrheiten.
WELT: Die iranischenHerrscher reagierten auf die umstrittenen Mohammed-Karikaturen damit, Karikaturen zumHolocaust auszuschreiben. Landen da nicht zwei völlig verschiedene Momente in einem Topf?
Lewis: Ja, sie provozieren erfolgreich. In Europa gab es immer KarikaturenMohammeds. Nicht wenige Biographien des Propheten bargen imaginäre Bilder von ihm,manchmal nicht zu seinen Gunsten. In Dantes "Inferno" schmort Mohammed für seine Sündenin der Hölle. Das ist in der Kathedrale von Bologna in einem lebendigen Bild aus dem 15.Jahrhundert dargestellt, schlimmer als die dänischen Karikaturen. Aber das hat Moslemsnie bewegt. Dem Propheten zu nahe zu treten galt nur im islamischen Raum als Straftat fürMoslems und für Nichtmoslems, letztere als untergeordnete Schutzbefohlene, Dhimmis. Dochheute verlangen sunnitische islamische Richter erstmals, dänische Nichtmoslems zubestrafen. Da gibt es nur eine Erklärung: Sie sehen Europa jetzt als Teil des islamischenGebiets an, des Dar al-Islam. Und die Dänen sind für sie Dhimmis geworden. Historischgesehen waren diese anfänglich Mehrheiten und sind dann allmählich zu Minderheitengeworden. Wie heute in Europa.
WELT: Gibt es eine arabische Holocaust-Rezeption,und was würde sie für die Geschichtsauffassung im Nahen und Mittleren Osten bedeuten, woRegimes Versatzstücke von totalitären Ideologien adaptiert haben?
Lewis:Üblicherweise wird dort der Holocaust entweder abgestritten, oder es heißt, die Judenhätten ihn selbst über sich gebracht und verdient. Die Leute reden zuweilen über denSaddam-Hussein-Typ eines Regimes, die Araber wären immer so gewesen. Das ist nicht wahr.Diese Art von Regimes, wie es auch unter Hafis al-Assad in Syrien entstand, hat wederWurzeln in der arabischen noch in der islamischen Geschichte. Sie sind Importe aus Europain zwei Stadien: erst das Modell der Nazis, dann das der Sowjets. Beide trennt nichtviel.
WELT: Sie sagen, die Türkei ist die einzige islamische Demokratie. Kommtsie in die Europäische Union, könnten sich nicht nur Probleme anhäufen, sondern dieEuropäer in Konflikte des Nahen Ostens gezogen werden, oder?
Lewis: Die Türkeiist eine Demokratie einer vorrangig islamischen Nation. Andere islamische Länder habenein gewisses Maß an Demokratie. Was die Türkei heraushebt, ist, daß sie mit der säkularenVerfassung demokratische Institutionen etablierte. Nagelprobe dafür ist die Ablösung derRegierung durch Wahlen. Woanders ändern Regierungen die Wahlen, in der Türkei ändernWahlen die Regierungen. Aber die islamistische Regierung versucht, die Türkei zuentsäkularisieren. Sie hat eine religiöse Agenda. Dieses Ringen ist nicht ausgestanden.
WELT: Amerikaner und Europäer ziehen gegenüber der Hamas-Regierung an einemStrang. Solange diese Israel vernichten will, fließen keine Mittel. Tickt da nicht einesoziale Zeitbombe?
Lewis: Der Westen gewährt ja weiterhin humanitäre Hilfe, nurnicht über die Hamas-Administration. Ein aufschlußreiches Detail: In der Stadt Kalkiljagewann die Hamas voriges Jahr die Wahlen zu lokalen Ämtern, doch dieses Jahr nicht. DieFatah machte das Rennen. Während die Hamas also insgesamt gewann, verlor sie in Kalkilja,wo sie zuvor einmal die Macht errungen hatte. Das spricht Bände. Wenigstens gibt es mitder Hamas eine gewisse intellektuelle Ehrlichkeit, denn sie gibt nicht vor, den Friedenzu suchen.
WELT: Sollten die Palästinenser von den Israelis lernen, die oft mitfinanzieller Hilfe ihrer Diaspora Wüsten begrünten? Es gibt weltweit reichePalästinenser, die eine tüchtige Regierung in Gaza in die Arbeitsbeschaffung einbindenkönnte.
Lewis: Sie sind offenbar nicht willens, dies zu tun. PalästinensischeFührer haben eine lange Geschichte, gute Angebote auszuschlagen und sich danach nochschlechtere Situationen einzuhandeln. Der ehemalige israelische Außenminister Abba Ebanmeinte, sie verfehlen nie eine Gelegenheit, eine Chance zu verfehlen.
WELT:Liegt es nicht auch an den arabischen Regierungen?
Lewis: Die verbesserten sichleicht. Zumindest zwei haben diplomatische Beziehungen zu Israel, Ägypten und Jordanien.Andere pflegen im stillen ihre Beziehungen mit Israel.
WELT: Was halten Sie vonIsraels Absicht, auch das Westjordanland zu verlassen und die Grenze vorläufig zubefestigen?
Lewis: Das ist nur Taktik. Die Israelis verringern ihreAngreifbarkeit und verbessern ihre Verteidigungsfähigkeit, indem sie die Siedlerzahl invorrangig arabischen Räumen vermindern. Solange es keine Aussicht auf echten Friedengibt, ist dies ein guter Schritt.
WELT: Und die Grenzfrage?
Lewis: Nachden Waffenstillstandsabkommen von Rhodos sind alle sogenannten GrenzenWaffenstillstandslinien, mit Ausnahme der gleich festgelegten Grenze zwischen Israel unddem Libanon. Die Araber bestanden darauf, daß Grenzen erst in einer allgemeinen Regelunggezogen werden. Inzwischen legten Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien die alteninternationalen Grenzen fest. Offen bleibt die Grenze zu Syrien und zum palästinensischenStaat. All das Gerede von der Rückkehr zu den alten Grenzen ist daher falsch, denn diesegibt es nicht. Die Mandatsgrenze zwischen Syrien und Jordanien war ja auch aufgehobenworden. Aber selbst Arafat und seine Nachfolger wollten nicht die Grenze verhandeln. Diesist nun mit der Hamas noch weniger wahrscheinlich.
WELT: Welche Optionen habendie Israelis?
Lewis: An der Waffenstillstandslinie festzuhalten oder einseitigeine Grenze zu ziehen. Besser wäre, wenn das bilateral geschähe. Aber ohne gegenseitigeAnerkennung und Verhandlungen ist dies unmöglich. Die Wahl, die die Israelis haben, liegtalso nicht zwischen einer verhandelten und einer einseitigen Grenze, sondern zwischeneiner einseitigen Grenze oder gar keiner Grenze.
WELT: Haben die iranischenHerrscher durch die Hamas-Regierung neue Hebel erhalten, im palästinensisch-israelischenKonflikt mitzumischen?
Lewis: Ja, sie unterstützen nun auch die Hamas, ganzabgesehen von der Hisbollah. Sie haben versprochen, die Hamas zu finanzieren, was siegewiß einhalten werden. Sie lieferten bereits Waffen. Fraglos auch, daß sie anderePalästinenser fördern wie den Islamischen Dschihad.
WELT: Worin liegen dieAlternativen für den islamischen Raum und den Nahen Osten?
Lewis: Entweder siewerden erfolgreich demokratische Institutionen entwickeln, wie es im Irak und in anderenLändern trotz aller Probleme begann, oder es wird einen endlosen Kampf zwischen Islam undChristentum geben. Der führt zur allgemeinen gegenseitigen Zerstörung. Wenn es dann nocheine gemeinsame Zukunft gibt, bestreiten diese Indien und China, die kommendenSupermächte des ausgehenden 21. Jahrhunderts.
WELT: Und Amerika?
Lewis:Das hängt vom Gang der Dinge ab. Die Vereinigten Staaten haben sicher eine bessere Chanceals Europa. Aber sie sind noch immer gefährdet durch moslemische Attacken. Es gibt eineUnsicherheit, was Islamisten vorhaben und wo sie dabei gerade stehen. Nein, Amerika istnicht gesichert, wenn auch sicherer als Europa. Doch könnte es noch mehr "9/11" geben.Dabei ist Amerika nicht nur von außen, sondern auch durch innere Spaltungen bedroht.
WELT: Präsident Ahmadi-Nedschads Hardliner hoffen, durch die Bindung der Koalition imIrak dem nuklearen Klub beizutreten, und feiern angereichertes Uran. Werden sie Erfolghaben?
Lewis: Sicher, wenn sie nicht aufgehalten werden. Ich habe meine Zweifel,ob dies auf dem diplomatischen Wege möglich ist.
WELT: Wo gibt es für Moslemsein demokratisches Beispiel?
Lewis: Zur Zeit nur die Türkei, die eine originäreDemokratie ist: Sie haben erprobte Wahlen, wo die Opposition gewinnen und das Ruderübernehmen kann; sie haben eine unabhängige Judikative, und sie haben eine freie Presse.
WELT: Wie steht es um den islamischen Märtyrerkult, der sowohl in Kriegenuntereinander - wie im Irak-Iran-Krieg bis 1988 -, aber auch gegen Israel und den Westenals Kriegsideologie eine Hauptrolle spielt?
Lewis: Da ist ein Unterschiedzwischen dem moslemischen und dem judäo-christlichen Märtyrerkonzept. Letzteres bedeutet,daß jemand lieber stirbt, als den Glauben abzutun. Ersteres heißt, jemand wird zumMärtyrer, der im Kampf des Heiligen Krieges fällt.
WELT: Was ist mit Selbstmord?
Lewis: Er ist im Islam streng verboten. Wer dies tut, kommt nicht nur in dieHölle, sondern durchlebt dort als ewige Strafe genau die Art, in der er sein Lebenbeendet hat. In den frühen Tagen des Islams meinten Richter mehrheitlich: in den Kampfmit sicherem Tod als Folge zu ziehen sei nicht als Selbstmord zu betrachten. Dies seierlaubt. So war es auch bei den mittelalterlichen Assassinen, die nie durch die eigeneHand starben. Heute nun wird der Selbstmord mehr und mehr erlaubt. Diese Art desMärtyrertums widerspricht aber dem traditionellen Islam.
Die WELT: Das Zwölfer-Manifest,unterzeichnet Mitte März auch von Ayaan Hirsi Ali, Irschad Manji, Salman Rushdie und IbnWarraq, bezeichnet den Islamismus als neue globale totalitäre Bewegung wie einstNationalsozialismus und Stalinismus. Folgt jetzt eine Epoche heftiger ideologischerZwiste, die über islamische Minderheiten Europas nicht nur außen-, sondern gleichwohlinnenpolitisch ausgetragen werden?
Bernhard Lewis: Ja, wobei in einer Reihe voneuropäischen Ländern Minderheiten zu Mehrheiten werden. Ein Syrer fragte dazu:islamisiertes Europa oder europäisierter Islam? Das ist die Kernfrage. Wir wissen nicht,wohin es gehen wird. Klar ist, daß die islamischen Gemeinschaften in Europa durch eigeneLeute terrorisiert werden. Viele wagen nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Sichergibt es viel mehr Moslems in Europa, die einen europäischen Ansatz favorisieren, alsoffen deutlich wird. Leicht werden sie als Verräter hingestellt und sogar ermordet. Daherist es schwer, die echte Meinung herauszufinden, sofern nicht solche mutigen Menschen wiedie von Ihnen erwähnten auftreten. Doch für einfache Leute ist das auch sehr gefährlich.
WELT: Umgekehrt muß der Rechtsstaat strikter moslemische Dissidenten in derBreite beschützen. Ist nun Demokratie oder Islamismus die neue Weltfrage?
Lewis:Nein, ich würde es nicht Islamismus nennen. Denn dies verführt dazu, alles mit dem Islamzu identifizieren. Wir haben es jedoch nur mit einer Bewegung innerhalb des Islams zutun. Obzwar sicher mit der stärksten, lautstärksten und am besten finanzierten, nichtzuletzt durch Quellen des saudiarabischen Wahhabismus.
WELT: Trifft dieseAnnahme auch auf die Türken, die in Deutschland leben, zu?
Lewis: Diese sindsicher radikaler und revolutionärer als die der Türkei. Die Vermittlung des Islams in derTürkei ist traditioneller. In Deutschland aber geht mehr die fanatische undextremistische Art der islamischen Lehren um. Weder kontrollieren das EuropasRegierungen, noch finanzieren sie es. Eine Grauzone, die für die Wahhabiten zugänglichist.
WELT: Hat bisher jemand Ihre These, wonach Europa am Ende des Jahrhundertsislamisch sein werde, entkräften können?
Lewis: Ein Argument wäre, daß Moslemsbald das demographische Muster Europas übernehmen. Aber ich sagte ohnehin, sofern dieaktuellen Trends der Immigration und Demographie bleiben, dann wird Europa islamischwerden. Freilich gab es bislang keine große Änderung in diesen Trends.
WELT:Ein Blick zurück auf die Unruhen in Frankreich: Besteht Europas Kurs nur noch in derBeschwichtigung seiner moslemischen Minoritäten?
Lewis: Jedenfalls ist es das,was Europa tut. Und diese Minderheiten werden Mehrheiten.
WELT: Die iranischenHerrscher reagierten auf die umstrittenen Mohammed-Karikaturen damit, Karikaturen zumHolocaust auszuschreiben. Landen da nicht zwei völlig verschiedene Momente in einem Topf?
Lewis: Ja, sie provozieren erfolgreich. In Europa gab es immer KarikaturenMohammeds. Nicht wenige Biographien des Propheten bargen imaginäre Bilder von ihm,manchmal nicht zu seinen Gunsten. In Dantes "Inferno" schmort Mohammed für seine Sündenin der Hölle. Das ist in der Kathedrale von Bologna in einem lebendigen Bild aus dem 15.Jahrhundert dargestellt, schlimmer als die dänischen Karikaturen. Aber das hat Moslemsnie bewegt. Dem Propheten zu nahe zu treten galt nur im islamischen Raum als Straftat fürMoslems und für Nichtmoslems, letztere als untergeordnete Schutzbefohlene, Dhimmis. Dochheute verlangen sunnitische islamische Richter erstmals, dänische Nichtmoslems zubestrafen. Da gibt es nur eine Erklärung: Sie sehen Europa jetzt als Teil des islamischenGebiets an, des Dar al-Islam. Und die Dänen sind für sie Dhimmis geworden. Historischgesehen waren diese anfänglich Mehrheiten und sind dann allmählich zu Minderheitengeworden. Wie heute in Europa.
WELT: Gibt es eine arabische Holocaust-Rezeption,und was würde sie für die Geschichtsauffassung im Nahen und Mittleren Osten bedeuten, woRegimes Versatzstücke von totalitären Ideologien adaptiert haben?
Lewis:Üblicherweise wird dort der Holocaust entweder abgestritten, oder es heißt, die Judenhätten ihn selbst über sich gebracht und verdient. Die Leute reden zuweilen über denSaddam-Hussein-Typ eines Regimes, die Araber wären immer so gewesen. Das ist nicht wahr.Diese Art von Regimes, wie es auch unter Hafis al-Assad in Syrien entstand, hat wederWurzeln in der arabischen noch in der islamischen Geschichte. Sie sind Importe aus Europain zwei Stadien: erst das Modell der Nazis, dann das der Sowjets. Beide trennt nichtviel.
WELT: Sie sagen, die Türkei ist die einzige islamische Demokratie. Kommtsie in die Europäische Union, könnten sich nicht nur Probleme anhäufen, sondern dieEuropäer in Konflikte des Nahen Ostens gezogen werden, oder?
Lewis: Die Türkeiist eine Demokratie einer vorrangig islamischen Nation. Andere islamische Länder habenein gewisses Maß an Demokratie. Was die Türkei heraushebt, ist, daß sie mit der säkularenVerfassung demokratische Institutionen etablierte. Nagelprobe dafür ist die Ablösung derRegierung durch Wahlen. Woanders ändern Regierungen die Wahlen, in der Türkei ändernWahlen die Regierungen. Aber die islamistische Regierung versucht, die Türkei zuentsäkularisieren. Sie hat eine religiöse Agenda. Dieses Ringen ist nicht ausgestanden.
WELT: Amerikaner und Europäer ziehen gegenüber der Hamas-Regierung an einemStrang. Solange diese Israel vernichten will, fließen keine Mittel. Tickt da nicht einesoziale Zeitbombe?
Lewis: Der Westen gewährt ja weiterhin humanitäre Hilfe, nurnicht über die Hamas-Administration. Ein aufschlußreiches Detail: In der Stadt Kalkiljagewann die Hamas voriges Jahr die Wahlen zu lokalen Ämtern, doch dieses Jahr nicht. DieFatah machte das Rennen. Während die Hamas also insgesamt gewann, verlor sie in Kalkilja,wo sie zuvor einmal die Macht errungen hatte. Das spricht Bände. Wenigstens gibt es mitder Hamas eine gewisse intellektuelle Ehrlichkeit, denn sie gibt nicht vor, den Friedenzu suchen.
WELT: Sollten die Palästinenser von den Israelis lernen, die oft mitfinanzieller Hilfe ihrer Diaspora Wüsten begrünten? Es gibt weltweit reichePalästinenser, die eine tüchtige Regierung in Gaza in die Arbeitsbeschaffung einbindenkönnte.
Lewis: Sie sind offenbar nicht willens, dies zu tun. PalästinensischeFührer haben eine lange Geschichte, gute Angebote auszuschlagen und sich danach nochschlechtere Situationen einzuhandeln. Der ehemalige israelische Außenminister Abba Ebanmeinte, sie verfehlen nie eine Gelegenheit, eine Chance zu verfehlen.
WELT:Liegt es nicht auch an den arabischen Regierungen?
Lewis: Die verbesserten sichleicht. Zumindest zwei haben diplomatische Beziehungen zu Israel, Ägypten und Jordanien.Andere pflegen im stillen ihre Beziehungen mit Israel.
WELT: Was halten Sie vonIsraels Absicht, auch das Westjordanland zu verlassen und die Grenze vorläufig zubefestigen?
Lewis: Das ist nur Taktik. Die Israelis verringern ihreAngreifbarkeit und verbessern ihre Verteidigungsfähigkeit, indem sie die Siedlerzahl invorrangig arabischen Räumen vermindern. Solange es keine Aussicht auf echten Friedengibt, ist dies ein guter Schritt.
WELT: Und die Grenzfrage?
Lewis: Nachden Waffenstillstandsabkommen von Rhodos sind alle sogenannten GrenzenWaffenstillstandslinien, mit Ausnahme der gleich festgelegten Grenze zwischen Israel unddem Libanon. Die Araber bestanden darauf, daß Grenzen erst in einer allgemeinen Regelunggezogen werden. Inzwischen legten Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien die alteninternationalen Grenzen fest. Offen bleibt die Grenze zu Syrien und zum palästinensischenStaat. All das Gerede von der Rückkehr zu den alten Grenzen ist daher falsch, denn diesegibt es nicht. Die Mandatsgrenze zwischen Syrien und Jordanien war ja auch aufgehobenworden. Aber selbst Arafat und seine Nachfolger wollten nicht die Grenze verhandeln. Diesist nun mit der Hamas noch weniger wahrscheinlich.
WELT: Welche Optionen habendie Israelis?
Lewis: An der Waffenstillstandslinie festzuhalten oder einseitigeine Grenze zu ziehen. Besser wäre, wenn das bilateral geschähe. Aber ohne gegenseitigeAnerkennung und Verhandlungen ist dies unmöglich. Die Wahl, die die Israelis haben, liegtalso nicht zwischen einer verhandelten und einer einseitigen Grenze, sondern zwischeneiner einseitigen Grenze oder gar keiner Grenze.
WELT: Haben die iranischenHerrscher durch die Hamas-Regierung neue Hebel erhalten, im palästinensisch-israelischenKonflikt mitzumischen?
Lewis: Ja, sie unterstützen nun auch die Hamas, ganzabgesehen von der Hisbollah. Sie haben versprochen, die Hamas zu finanzieren, was siegewiß einhalten werden. Sie lieferten bereits Waffen. Fraglos auch, daß sie anderePalästinenser fördern wie den Islamischen Dschihad.
WELT: Worin liegen dieAlternativen für den islamischen Raum und den Nahen Osten?
Lewis: Entweder siewerden erfolgreich demokratische Institutionen entwickeln, wie es im Irak und in anderenLändern trotz aller Probleme begann, oder es wird einen endlosen Kampf zwischen Islam undChristentum geben. Der führt zur allgemeinen gegenseitigen Zerstörung. Wenn es dann nocheine gemeinsame Zukunft gibt, bestreiten diese Indien und China, die kommendenSupermächte des ausgehenden 21. Jahrhunderts.
WELT: Und Amerika?
Lewis:Das hängt vom Gang der Dinge ab. Die Vereinigten Staaten haben sicher eine bessere Chanceals Europa. Aber sie sind noch immer gefährdet durch moslemische Attacken. Es gibt eineUnsicherheit, was Islamisten vorhaben und wo sie dabei gerade stehen. Nein, Amerika istnicht gesichert, wenn auch sicherer als Europa. Doch könnte es noch mehr "9/11" geben.Dabei ist Amerika nicht nur von außen, sondern auch durch innere Spaltungen bedroht.
WELT: Präsident Ahmadi-Nedschads Hardliner hoffen, durch die Bindung der Koalition imIrak dem nuklearen Klub beizutreten, und feiern angereichertes Uran. Werden sie Erfolghaben?
Lewis: Sicher, wenn sie nicht aufgehalten werden. Ich habe meine Zweifel,ob dies auf dem diplomatischen Wege möglich ist.
WELT: Wo gibt es für Moslemsein demokratisches Beispiel?
Lewis: Zur Zeit nur die Türkei, die eine originäreDemokratie ist: Sie haben erprobte Wahlen, wo die Opposition gewinnen und das Ruderübernehmen kann; sie haben eine unabhängige Judikative, und sie haben eine freie Presse.
WELT: Wie steht es um den islamischen Märtyrerkult, der sowohl in Kriegenuntereinander - wie im Irak-Iran-Krieg bis 1988 -, aber auch gegen Israel und den Westenals Kriegsideologie eine Hauptrolle spielt?
Lewis: Da ist ein Unterschiedzwischen dem moslemischen und dem judäo-christlichen Märtyrerkonzept. Letzteres bedeutet,daß jemand lieber stirbt, als den Glauben abzutun. Ersteres heißt, jemand wird zumMärtyrer, der im Kampf des Heiligen Krieges fällt.
WELT: Was ist mit Selbstmord?
Lewis: Er ist im Islam streng verboten. Wer dies tut, kommt nicht nur in dieHölle, sondern durchlebt dort als ewige Strafe genau die Art, in der er sein Lebenbeendet hat. In den frühen Tagen des Islams meinten Richter mehrheitlich: in den Kampfmit sicherem Tod als Folge zu ziehen sei nicht als Selbstmord zu betrachten. Dies seierlaubt. So war es auch bei den mittelalterlichen Assassinen, die nie durch die eigeneHand starben. Heute nun wird der Selbstmord mehr und mehr erlaubt. Diese Art desMärtyrertums widerspricht aber dem traditionellen Islam.