Die DDR-Bürger wurden damals im Unklaren gelassen
"Gezielte Vergiftung"
Im Westen wurden die Spielplätze geschlossen, Jodtabletten kursierten.
Aber imOsten ging das Leben nach dem GAU von Tschernobyl seinen ganz normalen Gang - zumindestoffiziell. Die DDR-Führung zensierte die Angst.
Berlin - Als derDDR-Radrennprofi Olaf Ludwig zum zweiten Mal die Internationale Friedensfahrt gewann,traute sich kaum jemand, ihn einen "strahlenden Sieger" zu nennen. Die "Tour de Francedes Ostens" war am 7. Mai 1986 in Kiew gestartet, hundert Kilometer entfernt vonTschernobyl, elf Tage nach dem GAU. Verwundert war der Spitzensportler schon über dieLastwagen, die auf der Strecke standen und mit Geigerzählern abgetastet wurden, über dievielen Absagen von Teams aus dem Westen. Geweigert hat er sich trotzdem nicht.
Warnhinweis auf einer Weide in Westdeutschland: Im Osten verboten
"Die haben unsgesagt: Da gab es einen Unfall. Aber das ist weit weg. Da kann nichts passieren", sagtder heutige Sportchef vom Team Telekom. "Die", das waren hohe Sport- undParteifunktionäre der DDR, die ihre Mannschaft begleiteten, um, wie Ludwig sagt,"diejenigen zu beruhigen, die sehr unruhig wurden." Beruhigen, beschönigen, belügen - daswar die Strategie des SED-Staates im Umgang mit der größten Kernkraftwerk-Katastrophealler Zeiten.
Eine kleine Meldung auf Seite fünf im Partei-Blatt "NeuesDeutschland" informierte die Bevölkerung drei Tage nach der Explosion über eine "Havarieim Kernkraftwerk Tschernobyl", bei der ein Reaktor "beschädigt" worden sei. Kein Wort vonder Wolke, die über Europa hinwegzog und radioaktiven Regen mit sich brachte - auch indie DDR. Kein Wort, auch in den folgenden Tagen nicht, von kontaminierten Kühen undKopfsalaten.
Erst als die Panik, die in der Bundesrepublik ausgebrochen war,via West-Fernsehen auch die DDR erreichte, wurden die Berichte länger. Geschrieben wurdensie alle in der Abteilung Agitation, eng abgestimmt mit Moskau. "Tschernobyl" war zumHaupt- und Staatsakt erklärt worden - eine Angelegenheit, in der die Presse nicht mehrals drucken durfte. Was gedruckt wurde, diente einem einzigen Zweck: Den Menschen zuversichern, wie sicher sie seien. Die Angst wurde zensiert.
So ließ dieStaatsleitung zwar als eine der ersten in Europa eine Zahlentabelle mit denRadioaktivitätswerten der Luft veröffentlichen. Mitgeliefert wurde die Interpretation,dass "eine Stabilisierung auf einem niedrigen Niveau" eingetreten sei. Wo das Niveau vorTschernobyl lag, stand nicht dabei. Dass die Strahlung einen Tag vor dieser MessungSpitzenwerte erreicht hatte und am Folgetag wieder anstieg, sollte auch niemand erfahren.Auch nicht, dass Regenfälle in Sachsen-Anhalt den Boden verseucht hatten und einigeMilchproben eine Radioaktivität aufwiesen, die bis zu 700 Prozent über dem Grenzwert fürSäuglinge lag.
"Da wird nur erzählt, was die in Moskau fabrizieren"
"Man könnte von gezielter Vergiftung reden", sagt Kathrin Göring-Eckardt, die grüneVizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Sie stammt aus Thüringen und erinnert sich nochgut an die Regale, die plötzlich voll waren mit Obst und Gemüse, das im Westen keinermehr kaufen wollte. Im Osten allerdings auch nicht. "Wir wussten doch alle Bescheid." Aufder Straße, unter Freunden und in der Kirche flüsterten sich die Menschen dieWarnhinweise von drüben zu. Den liegen gebliebenen Salat verteilte die DDR-Führung inSchulen und Kindergärten.
Das Risiko war der Regierung sehr wohl bewusst. "Wirhaben das natürlich mit gemischten Gefühlen gesehen", sagt Günter Schabowski, damalsMitglied im Politbüro. Auch er habe sich in den Westmedien informiert und Gedankengemacht, auch um die eigenen Kinder. Es habe allerdings für den Katastrophenfall eineisernes Gesetz gegolten: "Auf jeden eigenen Kommentar verzichten. Da wird nur erzählt,was die in Moskau fabrizieren."
Die Wahrheit, die Moskau dann fabrizierteund der das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) mit seinenMessanalysen kräftig zulieferte, entsprach zu hundert Prozent der ideologischen Maximeder DDR. Die Untersuchungen hätten ergeben, dass "keinerlei gesundheitliche Gefährdungenfür die Bevölkerung der DDR bestanden haben oder bestehen", heißt es in einerPressemitteilung des SAAS vom 8. Mai. Die Atomindustrie diente als Symbol für technischenFortschritt im Sozialismus. Die Kernkraft galt als saubere und billige Alternative zu Ölund Kohle. Risiken gab es offiziell keine. Wer öffentlich Bedenken äußerte, wurdesystematisch bespitzelt und verfolgt.
"'Atomkraft - Nein Danke!'
durfte man hier nicht ungestraft als Sticker an die Jacke heften", sagt Pastor RainerEppelmann, der letzte Verteidigungsminister der DDR und spätere Bundestagsabgeordnete.Als Tschernobyl explodierte, betreute er die evangelische Gemeinde inBerlin-Friedrichshain.
Nach dem GAU kamen viele Menschen, die über Atomkraft unddie Folgen von Tschernobyl reden wollten. "Das Thema hat die DDR-Öffentlichkeit brennendinteressiert", so der Pastor. Dass die Führung solche Diskussionen verboten hat und sogarnoch Menschen wie den Sportler Olaf Ludwig in die Nähe des Reaktors schickte, macht ihnheute noch fassungslos: "Das war menschenverachtend denen gegenüber, die sich hättenschützen können."
Quelle:
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,409457,00.htmlCredendo Vides --- E nomine patre et fili et spiritu sancti Amen