Das Dilemma der muslimischen Fundamentalisten
31.10.2005 um 00:34Hier zu Beginn einige Auszüge aus Bassam Tibi´s Buch „Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie“:
Bereits die islamisch-osmanischen Sultan-Kalifen haben seinerzeit erkannt, dass ihre militärischen Niederlagen gegenüber den technologisch überlegenen europäischen Armeen mit der techno-wissenschaftlichen Rückständigkeit der Muslime im modernen Zeitalter zusammenhängen; deshalb entsandten sie ihre ersten Botschafter und Missionäre nach Europa, um das Geheimnis der europäischen Überlegenheit zu erkunden und sich hierüber berichten zu lassen. Als sie entdeckten, dass dieses Geheimnis Wissenschaft und Technologie heißt, finden sie an, ihre Studenten nach Europa zu schicken, um sich diese Quelle der europäischen Überlegenheit anzueignen. Islamische Herrscher haben jedoch nicht erkannt, dass Wissenschaft und Technologie als zivilisatorische Leistungen nicht nur Instrumente sind, sondern auch mit einem neuen Weltbild zusammenhängen, das man von den technischen Gütern der Modernität nicht trennen kann. Seitdem und bis heute noch prägt diese Unfähigkeit das Verhältnis der Muslime zur Moderne, und sie steht deshalb im Mittelpunkt dieses Buches; die Muslime wollen sich die Instrumente der Moderne bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer Logik aneignen.
Das Scheitern der Muslime, sich der Moderne anzueignen, korrespondiert eng mit ihrer Vorstellung, kulturelle Moderne und techno-wissenschaftliche Modernität könnten voneinander getrennt werden. Der islamische Fundamentalismus ist trotz aller antiwestlichen Rhetorik kein Traditionalismus, sondern ein Produkt des gescheiterten islamischen Versuchs, sich die Moderne instrumentell anzueignen. Der historische Rahmen dieser Prozesse ist die zivilisatorische Krise des modernen Islams als einer vorindustriellen Kultur in einer Welt, die von Industrienationen mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie als Basis einer überlegenen Ökonomie dominiert wird.
Europäer geben ihr kosmologisches Weltbild auf, das die Entfaltung des Menschen dadurch behindert, dass es ihm keine Schöpfungskraft zukommen lässt und ihn kosmischen, gleichermaßen natürlichen und übernatürlichen Kräften unterordnet. Auf der Basis der Bestimmung subjektiver Freiheit entfalten die Europäer dann ihr "Könnens-Bewußtsein", das ihnen zu den weltgeschichtlich bisher unübertroffenen zivilisatorischen Leistungen verholfen hat. Im Rahmen der sozial verankerten kulturellen Prozesse der Individuation, d. h. der Befreiung des Menschen vom Kollektiv und der Entfaltung eines entsprechenden Menschenbildes, begreift sich der nun von Tradition und äußeren Mächten befreite neuzeitliche Mensch als Schöpfer seiner eigenen natürlichen und sozialen Umwelt. So sehr man heute die Krise der an ihre Grenze gelangten Moderne anerkennen muss, so darf man dennoch die Befreiung des Menschen durch die Moderne nicht übersehen.
Durch die militärischen Niederlagen der osmanisch-türkischen Armeen... erkennen Muslime die Realität, in der nicht mehr sie, sondern die Feinde, d. h. die Europäer, die Überlegenen sind. Jedoch haben Muslime damals auf diese Überlegenheit noch nicht mit Fundamentalismus und mit Defensiv-Kultur reagiert, so wie dies in unserer Zeit geschieht. Vielmehr waren die Muslime jener Epoche bemüht, sich durch Reformen die europäischen "Instrumente" anzueignen... Der erste arabo-islamische Student in Paris... bringt die auch heute noch fortdauernden Schwierigkeiten der damaligen Muslime zum Ausdruck: Einerseits erkennt er... die zivilisatorische Überlegenheit der Europäer und somit den Bedarf der Muslime, "nach fremden Wissenschaften und Künsten und Fertigkeiten zu streben". Andererseits erlegt er sich als Muslime die Beschränkung auf, "nur das, was nicht in direktem Widerspruch... zum Wortlaut unseres islamischen Gesetzes" steht, d. h. nur selektiv und instrumentell, zu übernehmen. Moderne Wissenschaft und Technologie sollten übernommen werden, nicht aber die ihnen zugrundeliegende kulturelle Logik der Moderne. Seitdem und bis heute noch ist dies das Dilemma aller Muslime.
Muslime wollen sich seither nur die zivilisatorischen Instrumente (vor allem Kriegstechnologie) aneignen, ohne parallel ihre theozentrische Weltsicht zu verändern; sie lehnen das rationalistisch-menschenzentrierte Weltbild, welches die kulturelle Moderne begründet, ab. Über einen Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten erstrecken sich die islamischen Reformen, denen dieses Anliegen zugrunde lag: Sie scheiterten, ja sie mussten scheitern, weil die Moderne sich von ihrem kulturellen Projekt nicht trennen lässt. Die instrumentelle Übernahme von technischen Produkten der Modernität ist noch keine Modernisierung, so lange sie nicht als Ganzes mit der kulturellen Aneignung der Fähigkeit, die Modernität selbst zu schaffen, verbunden ist.Der islamische Fundamentalismus weist die Prinzipien der einst für universell gehaltenen europäischen Aufklärung, besonders das der Individuation und des somit damit verbundenen Subjektivitätsprinzips zurück; die Fundamentalisten lehnen das Primat der menschlichen Vernunft ab.... dass die islamischen Anklagen gegen den Primat der menschlichen Vernunft, gegen das, was sie den "epistemologischen Imperialismus" Europas nennen, eindeutig im Zeichen einer Antiaufklärung stehen. Es geht ihnen darum, die von Descartes begründeten Prinzipien der Erlangung eines durch Zweifel relativierten menschlichen Wissens durch das absolute, vom Menschen unabhängige kosmologische Wissen abzulösen. In diesem Sinne prägten islamische Fundamentalisten den Formel "Entwestlichung des Wissens"... Die Entzauberung der Welt soll rückgängig gemacht werden. Vor allem soll das Prinzip, dass jedes Wissen revidierbar ist, aufgehoben werden, um den Weg für den Glauben an die Autorität von Verkündung und Überlieferung und somit das sichere, einer Reflexion nicht mehr untergeordnete absolute Wissen zurückzuerobern...
Der Eingang der Moderne in den Islam scheiterte... am Widerstand der Muslime, das Reflexiv-Werden des Religiösen... zuzulassen. Offenbarung und Tradition (Sunna) sind für Muslime Quellen absoluten und nicht hinterfragbaren Wissens... Ohne die Annahme des Reflexionsprinzips kann in keiner Kultur... Wissenschaftstradition gedeihen. In seiner historischen Entwicklung konnte der Islam nicht zulassen, dass sich die Sphäre des Wissens von der Sphäre des Glaubens absonderte.... das Dilemma der muslimischen Fundamentalisten..., das sich in der "unglücklichen" Kombination einer positiven Beurteilung von Wissenschaft und Technologie einerseits und der Forderung nach einer "Entwestlichung des Wissen", d. h. einer Loslösung vom kulturellen Hintergrund dieser Leistungen, andererseits manifestiert...Muslimische Fundamentalisten glauben, die moderne Naturwissenschaft und technologischen Errungenschaften dadurch "islamisieren" zu können, dass sie sie für islamische Zielsetzungen einsetzen bzw. sie von ihrer Normativität "reinigen"... ist der islamische Fundamentalismus als eine Gegenbewegung zur vernunftbestimmten Weltsicht der aufklärerischen Tradition der kulturellen Moderne zu deuten.... Lehrbuch-Definition des Fundamentalismus: Modernität ist nur selektiv auf der Basis der Textgläubigkeit zu übernehmen, wobei der Rückgriff auf den verabsolutierten Text unter raum-zeitlichen Bedingungen ebenso selektiv erfolgt, wenngleich dies ohne Bewusstsein von der Selektivität des Skripturalismus geschieht.Die ursprünglichen Quellen des Islams dienen als unveränderliche Grundlage für eine eigene Version von Kultur; Fundamentalisten nehmen die ihnen fragmentiert erscheinende, weil durch "Zweifel und Vermutung" eingeschränkte Weltsicht, die aus der fremden Kultur des Westens stammt, als feindlichen Rivalen wahr... sie vertreten beispielsweise die Ansicht, dass die Aspekte moderner Wissenschaft, die sie bereit sind vom Westen zu übernehmen, in Wirklichkeit ihren Ursprung im Islam haben. Die Übernahmen werden also nicht als kulturelle Anleihen gesehen, sondern vielmehr als ein Akt der Wiederaneignung gerechtfertigt. Berücksichtigt man die kritischen Einstellungen der europäischen Aufklärung gegenüber der Religion und setzt diese zu dem Argument muslimischer Fundamentalisten in Beziehung, dass die techno-wissenschaftliche Modernität Europas ihren Ursprung in der islamischen Religion hätte und deshalb dem Islam verpflichtet sei, werden folgende Fragen relevant: Hat Wissenschaft als eine von der Religion unabhängige Disziplin im Islam jemals existiert?... Bekanntlich lässt die islamische Offenbarung keinerlei Raum für Autonomie und Subjektivität des Menschen, da dieser – laut Koran – sein Wissen nur vom Schöpfer/Gott bekommen kann... Im Islam ist – nach dieser Auffassung – das Wissen, welches die Menschen auf "den richtigen Weg"... leite, stets göttlichen Ursprungs. Der Muslim kann als frommer Mensch nur der Empfänger göttlicher Anleitungen sein und hat von sich aus keine schöpferische Kraft, weil dies eine Anmaßung göttlicher Eigenschaften darstellen würde.
Einige islamische Fundamentalisten fordern... die Entfaltung einer... (islamischen Technologie), die jedoch nichts anderes ist als die in "den Dienst des Islams" gestellte, aus dem Westen übernommene Technologie... So ist ein Computer für sie erst dann "islamisch", wenn seine... (Anwendung) im "Dienste des Islams" steht. Aber seine Herstellung erfolgt andernorts. Muslimen bleibt – aufgrund dieser Einstellung – vorenthalten, wie Computer und die entsprechende Software hergestellt werden; ihre Weltsicht steht ihnen im Wege und behindert die Entfaltung eines islamischen Könnens-Bewusstseins.
Wissenschaft und Technologie dienen der militärischen Überlegenheit, daher ist das zentrale Interesse der Muslime, sich diese anzueignen, und 2. Wissenschaft und Technologie sind und waren immer dem Islam... inhärent; sie sich anzueignen ist lediglich ein Akt der Rücknahme, eine Handlung der Wiederaneignung.
Die heutige Woge des arabisch-islamischen Fundamentalismus ist teilweise eine Auswirkung der vernichtenden und demütigenden Niederlage der arabischen Staaten im dritten arabisch-israelischen Krieg im Juni 1967.
Einerseits wurde diese Niederlage als eine Strafe Gottes verstanden, weil Muslime durch die Hinwendung zu nicht-islamischen Systemen vom "Pfad Gottes"... abgewichen seien; andererseits jedoch wurde sie – durchaus angemessen – als Versagen der muslimischen Araber, mit moderner Technologie umzugehen und als eine Folge ihres mangelnden technologischen Know-hows angesehen.
... die Krise des modernen Islams. Diese Krise erwächst aus der Diskrepanz zwischen dem Glauben der Muslime, im Besitz des vollständigen und abschließenden Wissens (Offenbarung) zu sein, und der konkreten Realität, in der sie leben; es ist die Realität eines von den modernen, militärisch überlegenen euroamerikanischen Mächten in seiner Existenz bedrohten Islams.
Es geht nicht um die Aneignung der Moderne, mit dem Ziel, die Kluft zwischen Orient und Okzident zu schließen, sondern primär darum, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen Design islamisch zu gestalten. Es ist dabei niemals die Rede von kulturellem Relativismus, geschweige denn von gleichberechtigter Pluralität der Kulturen nach dem Prinzip der Vielfalt. Der Fundamentalismus ist deshalb nicht nur ein Traum von einer "halben Moderne"... sondern auch ein Traum von einer islamischen Weltherrschaft.
Weil Muslime glauben, dass der Koran die höchste Offenbarung des vollständigen und endgültigen Wissens darstellt, fühlen sie sich... allen anderen nichtislamischen Kulturen überlegen. Lerntheoretisch gesehen bildet diese Einstellung ein psychologisches Hemmnis, von anderen Kulturen zu lernen.
Nach islamischer Auffassung liegt die Ursache für den Fortschritt der Europäer in der unterstellen Übernahme islamsicher Wissenschaften... Wissenschaft beruht nach islamischen Glauben auf offenbartem göttlichen Wissen; die höchste Stufe des Wissens ist die islamische Offenbarung. Wenn dem so ist, warum gehören die Muslime im modernen Zeitalter dennoch zu den rückständigen Völkern der Dritten Welt?
Die islamischen Fundamentalisten zeigen... eine mangelnde Vertrautheit mit der Geschichte der Wissenschaft im Islam. Übersehen wird vor allem die bekannte und von Muslimen des Hochislams selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei voneinander verschiedenen Wissenstraditionen im Islam: 1. den islamischen religiösen Wissenschaften und 2. den rationalen Wissenschaften... Im Islam des Mittelalters traf man die klassische Unterscheidung zwischen den "fremden Wissenschaften"... dagegen gründeten sich die rationalen, "fremden" Wissenschaften im Islam erkenntnistheoretisch auf die menschliche Vernunft. Hierauf beziehen sich Wissenschaftshistoriker, wenn sie von der Aufnahme des griechischen Erbes im Islam und von seiner Hellenisierung sprechen. Es waren diese rationalen Wissenschaften – und nicht die religiösen Disziplinen -, die im Mittelalter über das arabische Spanien auf Europa wirken.
Nach der vorherrschenden islamischen Interpretation der göttlichen Offenbarung ist der Mensch von sich aus ohne Gott nicht fähig, seine soziale und natürliche Umwelt zu erkennen... Wenn das Wissen falsch ist, dann ist dies eine Folge der entsprechenden menschlichen Unfähigkeit, den Koran richtig zu verstehen...
Im Islam des Mittelalters unterschieden sowohl orthodoxe als auch hellenisierte Muslime klar zwischen diesen wahrhaften islamischen Wissenschaften und dem aus griechischen Quellen erworbenen philosophischen reflexiven Wissen, das als... Wissenschaften der Alten, d. h. fremde Wissenschaften der Griechen) bezeichnet wurde. Islamische Wissenschaften waren im allgemeinen... (Koran-Exegese),... (Lesen des Koran), Wissenschaft des hadith... und (Theorie und Methodologie des göttlichen Gesetzes)... Im islamischen Mittelalter bestand eine Dichotomie zwischen diesen islamischen und den "fremden Wissenschaften", die bereits damals, auf dem Höhepunkt der islamischen Zivilisation, als "gottlose Wissenschaften" inkriminiert wurden und somit vom Curriculum des formalisierten Lernens im Islam ausgeschlossen war...
Europäer... neigen mangels fundierter Information dazu, die beiden aufgeführten konträren Wissentraditionen im Islam zu verwechseln. Nur die eine konnte über das islamische Spanien nach Europa hinübergerettet werden.
Islamische Fundamentalisten... Zum einen betrachten sie Wissenschaft als eine Totalität und betonen, indem sie auf die islamische Wissenschaftstradition verweisen, dass der Islam primäre Quelle von Wissenschaft überhaupt sei. Sie übersehen damit die... Unterscheidung zwischen den religiösen Wissenschaften im Islam (die Wissenschaften der fiqh) und der im Gegensatz dazu stehenden islamischen Tradition der Philosophie und rationalen Wissenschaften.
... fundamentalistischer Autor, Husain Sadr...:" Das Streben nach Wissen im Islam ist nicht ein Selbstzweck; es ist nur ein Mittel, um Gott zu verstehen und die Probleme der muslimischen Gemeinschaft lösen zu können... Vernunft und Streben nach Wissen haben einen wichtigen Stellenwert in der islamischen Gesellschaft, aber sie sind den Werten und der Ethik des Korans unterworfen. In diesem Bezugsrahmen gehen Vernunft und Offenbarung Hand in Hand. Moderne Wissenschaft dagegen betrachtet Vernunft als übergeordnet." Kurzum: Islamisches Wissen muss sich nach dieser fundamentalistischen Perspektive selbst die Fesseln auferlegen, nicht über den Text der Offenbarung hinauszugehen.
Aufgrund meiner Analyse teile ich die Sorge..., dass die Islamisierung der Sozialwissenschaft... zu einem neuen Zeitalter eines „flat-earthism“ führen könnte. "Flat-earthism" bedeutet, dass die Menschen glauben, die Erde sei eine Scheibe, und jedes abweichende Denken als Häresie inkriminieren. Dieses Zeitalter... könnte im Nahen Osten anbrechen, wo es möglich ist, die der sozialwissenschaftlichen Analyse zugrundeliegende Epistemologie als kulturell fremden Import zurückzuweisen, als ein Werkzeug des Teufels oder zumindest als ein Werkzeug der Feinde der Araber und des Islams.
Vielmehr geht es hier um die muslimische Aneignung der Moderne und um die Irrwege, die diesen Prozess begleiten, etwa den Glauben, dass Innovation ohne Wandel, vor allem ohne eine Veränderung des kosmologisches Weltbildes, möglich wäre, der zwangsläufig im Traum von einer halben Moderne endet.
... Ungeachtet ihrer unerschütterlichen Selbstgewissheit und rhetorischen Wortgewalt erkenn muslimische Fundamentalisten die temporäre Überlegenheit des industrialisierten Westens über das "Haus des Islams" an und erklären dies mit dem wissenschaftlichen Fortschritt des Westens. Damit diese Erklärung vereinbar bleibt mit ihrer theozentrischen Weltsicht, der zufolge die Muslime – dank der ihnen gewährten endgültigen Offenbarung Gottes – allen anderen überlegen sind, betonen sie, dass moderne europäische Wissenschaft ihre Wurzeln im Islam habe... Allerdings erklärt al-Scharqawi nicht, was Europa vom Islam übernahm; er spricht nicht aus, dass es sich dabei um das hellenisierte Erbe und nicht um die fiqh (Sakraljurisprudenz) handelte.
q.
What are you looking for? What are you searching for? What are you waiting for?
The most important choices are the ones we are afraid to make.
Bereits die islamisch-osmanischen Sultan-Kalifen haben seinerzeit erkannt, dass ihre militärischen Niederlagen gegenüber den technologisch überlegenen europäischen Armeen mit der techno-wissenschaftlichen Rückständigkeit der Muslime im modernen Zeitalter zusammenhängen; deshalb entsandten sie ihre ersten Botschafter und Missionäre nach Europa, um das Geheimnis der europäischen Überlegenheit zu erkunden und sich hierüber berichten zu lassen. Als sie entdeckten, dass dieses Geheimnis Wissenschaft und Technologie heißt, finden sie an, ihre Studenten nach Europa zu schicken, um sich diese Quelle der europäischen Überlegenheit anzueignen. Islamische Herrscher haben jedoch nicht erkannt, dass Wissenschaft und Technologie als zivilisatorische Leistungen nicht nur Instrumente sind, sondern auch mit einem neuen Weltbild zusammenhängen, das man von den technischen Gütern der Modernität nicht trennen kann. Seitdem und bis heute noch prägt diese Unfähigkeit das Verhältnis der Muslime zur Moderne, und sie steht deshalb im Mittelpunkt dieses Buches; die Muslime wollen sich die Instrumente der Moderne bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer Logik aneignen.
Das Scheitern der Muslime, sich der Moderne anzueignen, korrespondiert eng mit ihrer Vorstellung, kulturelle Moderne und techno-wissenschaftliche Modernität könnten voneinander getrennt werden. Der islamische Fundamentalismus ist trotz aller antiwestlichen Rhetorik kein Traditionalismus, sondern ein Produkt des gescheiterten islamischen Versuchs, sich die Moderne instrumentell anzueignen. Der historische Rahmen dieser Prozesse ist die zivilisatorische Krise des modernen Islams als einer vorindustriellen Kultur in einer Welt, die von Industrienationen mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie als Basis einer überlegenen Ökonomie dominiert wird.
Europäer geben ihr kosmologisches Weltbild auf, das die Entfaltung des Menschen dadurch behindert, dass es ihm keine Schöpfungskraft zukommen lässt und ihn kosmischen, gleichermaßen natürlichen und übernatürlichen Kräften unterordnet. Auf der Basis der Bestimmung subjektiver Freiheit entfalten die Europäer dann ihr "Könnens-Bewußtsein", das ihnen zu den weltgeschichtlich bisher unübertroffenen zivilisatorischen Leistungen verholfen hat. Im Rahmen der sozial verankerten kulturellen Prozesse der Individuation, d. h. der Befreiung des Menschen vom Kollektiv und der Entfaltung eines entsprechenden Menschenbildes, begreift sich der nun von Tradition und äußeren Mächten befreite neuzeitliche Mensch als Schöpfer seiner eigenen natürlichen und sozialen Umwelt. So sehr man heute die Krise der an ihre Grenze gelangten Moderne anerkennen muss, so darf man dennoch die Befreiung des Menschen durch die Moderne nicht übersehen.
Durch die militärischen Niederlagen der osmanisch-türkischen Armeen... erkennen Muslime die Realität, in der nicht mehr sie, sondern die Feinde, d. h. die Europäer, die Überlegenen sind. Jedoch haben Muslime damals auf diese Überlegenheit noch nicht mit Fundamentalismus und mit Defensiv-Kultur reagiert, so wie dies in unserer Zeit geschieht. Vielmehr waren die Muslime jener Epoche bemüht, sich durch Reformen die europäischen "Instrumente" anzueignen... Der erste arabo-islamische Student in Paris... bringt die auch heute noch fortdauernden Schwierigkeiten der damaligen Muslime zum Ausdruck: Einerseits erkennt er... die zivilisatorische Überlegenheit der Europäer und somit den Bedarf der Muslime, "nach fremden Wissenschaften und Künsten und Fertigkeiten zu streben". Andererseits erlegt er sich als Muslime die Beschränkung auf, "nur das, was nicht in direktem Widerspruch... zum Wortlaut unseres islamischen Gesetzes" steht, d. h. nur selektiv und instrumentell, zu übernehmen. Moderne Wissenschaft und Technologie sollten übernommen werden, nicht aber die ihnen zugrundeliegende kulturelle Logik der Moderne. Seitdem und bis heute noch ist dies das Dilemma aller Muslime.
Muslime wollen sich seither nur die zivilisatorischen Instrumente (vor allem Kriegstechnologie) aneignen, ohne parallel ihre theozentrische Weltsicht zu verändern; sie lehnen das rationalistisch-menschenzentrierte Weltbild, welches die kulturelle Moderne begründet, ab. Über einen Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten erstrecken sich die islamischen Reformen, denen dieses Anliegen zugrunde lag: Sie scheiterten, ja sie mussten scheitern, weil die Moderne sich von ihrem kulturellen Projekt nicht trennen lässt. Die instrumentelle Übernahme von technischen Produkten der Modernität ist noch keine Modernisierung, so lange sie nicht als Ganzes mit der kulturellen Aneignung der Fähigkeit, die Modernität selbst zu schaffen, verbunden ist.Der islamische Fundamentalismus weist die Prinzipien der einst für universell gehaltenen europäischen Aufklärung, besonders das der Individuation und des somit damit verbundenen Subjektivitätsprinzips zurück; die Fundamentalisten lehnen das Primat der menschlichen Vernunft ab.... dass die islamischen Anklagen gegen den Primat der menschlichen Vernunft, gegen das, was sie den "epistemologischen Imperialismus" Europas nennen, eindeutig im Zeichen einer Antiaufklärung stehen. Es geht ihnen darum, die von Descartes begründeten Prinzipien der Erlangung eines durch Zweifel relativierten menschlichen Wissens durch das absolute, vom Menschen unabhängige kosmologische Wissen abzulösen. In diesem Sinne prägten islamische Fundamentalisten den Formel "Entwestlichung des Wissens"... Die Entzauberung der Welt soll rückgängig gemacht werden. Vor allem soll das Prinzip, dass jedes Wissen revidierbar ist, aufgehoben werden, um den Weg für den Glauben an die Autorität von Verkündung und Überlieferung und somit das sichere, einer Reflexion nicht mehr untergeordnete absolute Wissen zurückzuerobern...
Der Eingang der Moderne in den Islam scheiterte... am Widerstand der Muslime, das Reflexiv-Werden des Religiösen... zuzulassen. Offenbarung und Tradition (Sunna) sind für Muslime Quellen absoluten und nicht hinterfragbaren Wissens... Ohne die Annahme des Reflexionsprinzips kann in keiner Kultur... Wissenschaftstradition gedeihen. In seiner historischen Entwicklung konnte der Islam nicht zulassen, dass sich die Sphäre des Wissens von der Sphäre des Glaubens absonderte.... das Dilemma der muslimischen Fundamentalisten..., das sich in der "unglücklichen" Kombination einer positiven Beurteilung von Wissenschaft und Technologie einerseits und der Forderung nach einer "Entwestlichung des Wissen", d. h. einer Loslösung vom kulturellen Hintergrund dieser Leistungen, andererseits manifestiert...Muslimische Fundamentalisten glauben, die moderne Naturwissenschaft und technologischen Errungenschaften dadurch "islamisieren" zu können, dass sie sie für islamische Zielsetzungen einsetzen bzw. sie von ihrer Normativität "reinigen"... ist der islamische Fundamentalismus als eine Gegenbewegung zur vernunftbestimmten Weltsicht der aufklärerischen Tradition der kulturellen Moderne zu deuten.... Lehrbuch-Definition des Fundamentalismus: Modernität ist nur selektiv auf der Basis der Textgläubigkeit zu übernehmen, wobei der Rückgriff auf den verabsolutierten Text unter raum-zeitlichen Bedingungen ebenso selektiv erfolgt, wenngleich dies ohne Bewusstsein von der Selektivität des Skripturalismus geschieht.Die ursprünglichen Quellen des Islams dienen als unveränderliche Grundlage für eine eigene Version von Kultur; Fundamentalisten nehmen die ihnen fragmentiert erscheinende, weil durch "Zweifel und Vermutung" eingeschränkte Weltsicht, die aus der fremden Kultur des Westens stammt, als feindlichen Rivalen wahr... sie vertreten beispielsweise die Ansicht, dass die Aspekte moderner Wissenschaft, die sie bereit sind vom Westen zu übernehmen, in Wirklichkeit ihren Ursprung im Islam haben. Die Übernahmen werden also nicht als kulturelle Anleihen gesehen, sondern vielmehr als ein Akt der Wiederaneignung gerechtfertigt. Berücksichtigt man die kritischen Einstellungen der europäischen Aufklärung gegenüber der Religion und setzt diese zu dem Argument muslimischer Fundamentalisten in Beziehung, dass die techno-wissenschaftliche Modernität Europas ihren Ursprung in der islamischen Religion hätte und deshalb dem Islam verpflichtet sei, werden folgende Fragen relevant: Hat Wissenschaft als eine von der Religion unabhängige Disziplin im Islam jemals existiert?... Bekanntlich lässt die islamische Offenbarung keinerlei Raum für Autonomie und Subjektivität des Menschen, da dieser – laut Koran – sein Wissen nur vom Schöpfer/Gott bekommen kann... Im Islam ist – nach dieser Auffassung – das Wissen, welches die Menschen auf "den richtigen Weg"... leite, stets göttlichen Ursprungs. Der Muslim kann als frommer Mensch nur der Empfänger göttlicher Anleitungen sein und hat von sich aus keine schöpferische Kraft, weil dies eine Anmaßung göttlicher Eigenschaften darstellen würde.
Einige islamische Fundamentalisten fordern... die Entfaltung einer... (islamischen Technologie), die jedoch nichts anderes ist als die in "den Dienst des Islams" gestellte, aus dem Westen übernommene Technologie... So ist ein Computer für sie erst dann "islamisch", wenn seine... (Anwendung) im "Dienste des Islams" steht. Aber seine Herstellung erfolgt andernorts. Muslimen bleibt – aufgrund dieser Einstellung – vorenthalten, wie Computer und die entsprechende Software hergestellt werden; ihre Weltsicht steht ihnen im Wege und behindert die Entfaltung eines islamischen Könnens-Bewusstseins.
Wissenschaft und Technologie dienen der militärischen Überlegenheit, daher ist das zentrale Interesse der Muslime, sich diese anzueignen, und 2. Wissenschaft und Technologie sind und waren immer dem Islam... inhärent; sie sich anzueignen ist lediglich ein Akt der Rücknahme, eine Handlung der Wiederaneignung.
Die heutige Woge des arabisch-islamischen Fundamentalismus ist teilweise eine Auswirkung der vernichtenden und demütigenden Niederlage der arabischen Staaten im dritten arabisch-israelischen Krieg im Juni 1967.
Einerseits wurde diese Niederlage als eine Strafe Gottes verstanden, weil Muslime durch die Hinwendung zu nicht-islamischen Systemen vom "Pfad Gottes"... abgewichen seien; andererseits jedoch wurde sie – durchaus angemessen – als Versagen der muslimischen Araber, mit moderner Technologie umzugehen und als eine Folge ihres mangelnden technologischen Know-hows angesehen.
... die Krise des modernen Islams. Diese Krise erwächst aus der Diskrepanz zwischen dem Glauben der Muslime, im Besitz des vollständigen und abschließenden Wissens (Offenbarung) zu sein, und der konkreten Realität, in der sie leben; es ist die Realität eines von den modernen, militärisch überlegenen euroamerikanischen Mächten in seiner Existenz bedrohten Islams.
Es geht nicht um die Aneignung der Moderne, mit dem Ziel, die Kluft zwischen Orient und Okzident zu schließen, sondern primär darum, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen Design islamisch zu gestalten. Es ist dabei niemals die Rede von kulturellem Relativismus, geschweige denn von gleichberechtigter Pluralität der Kulturen nach dem Prinzip der Vielfalt. Der Fundamentalismus ist deshalb nicht nur ein Traum von einer "halben Moderne"... sondern auch ein Traum von einer islamischen Weltherrschaft.
Weil Muslime glauben, dass der Koran die höchste Offenbarung des vollständigen und endgültigen Wissens darstellt, fühlen sie sich... allen anderen nichtislamischen Kulturen überlegen. Lerntheoretisch gesehen bildet diese Einstellung ein psychologisches Hemmnis, von anderen Kulturen zu lernen.
Nach islamischer Auffassung liegt die Ursache für den Fortschritt der Europäer in der unterstellen Übernahme islamsicher Wissenschaften... Wissenschaft beruht nach islamischen Glauben auf offenbartem göttlichen Wissen; die höchste Stufe des Wissens ist die islamische Offenbarung. Wenn dem so ist, warum gehören die Muslime im modernen Zeitalter dennoch zu den rückständigen Völkern der Dritten Welt?
Die islamischen Fundamentalisten zeigen... eine mangelnde Vertrautheit mit der Geschichte der Wissenschaft im Islam. Übersehen wird vor allem die bekannte und von Muslimen des Hochislams selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei voneinander verschiedenen Wissenstraditionen im Islam: 1. den islamischen religiösen Wissenschaften und 2. den rationalen Wissenschaften... Im Islam des Mittelalters traf man die klassische Unterscheidung zwischen den "fremden Wissenschaften"... dagegen gründeten sich die rationalen, "fremden" Wissenschaften im Islam erkenntnistheoretisch auf die menschliche Vernunft. Hierauf beziehen sich Wissenschaftshistoriker, wenn sie von der Aufnahme des griechischen Erbes im Islam und von seiner Hellenisierung sprechen. Es waren diese rationalen Wissenschaften – und nicht die religiösen Disziplinen -, die im Mittelalter über das arabische Spanien auf Europa wirken.
Nach der vorherrschenden islamischen Interpretation der göttlichen Offenbarung ist der Mensch von sich aus ohne Gott nicht fähig, seine soziale und natürliche Umwelt zu erkennen... Wenn das Wissen falsch ist, dann ist dies eine Folge der entsprechenden menschlichen Unfähigkeit, den Koran richtig zu verstehen...
Im Islam des Mittelalters unterschieden sowohl orthodoxe als auch hellenisierte Muslime klar zwischen diesen wahrhaften islamischen Wissenschaften und dem aus griechischen Quellen erworbenen philosophischen reflexiven Wissen, das als... Wissenschaften der Alten, d. h. fremde Wissenschaften der Griechen) bezeichnet wurde. Islamische Wissenschaften waren im allgemeinen... (Koran-Exegese),... (Lesen des Koran), Wissenschaft des hadith... und (Theorie und Methodologie des göttlichen Gesetzes)... Im islamischen Mittelalter bestand eine Dichotomie zwischen diesen islamischen und den "fremden Wissenschaften", die bereits damals, auf dem Höhepunkt der islamischen Zivilisation, als "gottlose Wissenschaften" inkriminiert wurden und somit vom Curriculum des formalisierten Lernens im Islam ausgeschlossen war...
Europäer... neigen mangels fundierter Information dazu, die beiden aufgeführten konträren Wissentraditionen im Islam zu verwechseln. Nur die eine konnte über das islamische Spanien nach Europa hinübergerettet werden.
Islamische Fundamentalisten... Zum einen betrachten sie Wissenschaft als eine Totalität und betonen, indem sie auf die islamische Wissenschaftstradition verweisen, dass der Islam primäre Quelle von Wissenschaft überhaupt sei. Sie übersehen damit die... Unterscheidung zwischen den religiösen Wissenschaften im Islam (die Wissenschaften der fiqh) und der im Gegensatz dazu stehenden islamischen Tradition der Philosophie und rationalen Wissenschaften.
... fundamentalistischer Autor, Husain Sadr...:" Das Streben nach Wissen im Islam ist nicht ein Selbstzweck; es ist nur ein Mittel, um Gott zu verstehen und die Probleme der muslimischen Gemeinschaft lösen zu können... Vernunft und Streben nach Wissen haben einen wichtigen Stellenwert in der islamischen Gesellschaft, aber sie sind den Werten und der Ethik des Korans unterworfen. In diesem Bezugsrahmen gehen Vernunft und Offenbarung Hand in Hand. Moderne Wissenschaft dagegen betrachtet Vernunft als übergeordnet." Kurzum: Islamisches Wissen muss sich nach dieser fundamentalistischen Perspektive selbst die Fesseln auferlegen, nicht über den Text der Offenbarung hinauszugehen.
Aufgrund meiner Analyse teile ich die Sorge..., dass die Islamisierung der Sozialwissenschaft... zu einem neuen Zeitalter eines „flat-earthism“ führen könnte. "Flat-earthism" bedeutet, dass die Menschen glauben, die Erde sei eine Scheibe, und jedes abweichende Denken als Häresie inkriminieren. Dieses Zeitalter... könnte im Nahen Osten anbrechen, wo es möglich ist, die der sozialwissenschaftlichen Analyse zugrundeliegende Epistemologie als kulturell fremden Import zurückzuweisen, als ein Werkzeug des Teufels oder zumindest als ein Werkzeug der Feinde der Araber und des Islams.
Vielmehr geht es hier um die muslimische Aneignung der Moderne und um die Irrwege, die diesen Prozess begleiten, etwa den Glauben, dass Innovation ohne Wandel, vor allem ohne eine Veränderung des kosmologisches Weltbildes, möglich wäre, der zwangsläufig im Traum von einer halben Moderne endet.
... Ungeachtet ihrer unerschütterlichen Selbstgewissheit und rhetorischen Wortgewalt erkenn muslimische Fundamentalisten die temporäre Überlegenheit des industrialisierten Westens über das "Haus des Islams" an und erklären dies mit dem wissenschaftlichen Fortschritt des Westens. Damit diese Erklärung vereinbar bleibt mit ihrer theozentrischen Weltsicht, der zufolge die Muslime – dank der ihnen gewährten endgültigen Offenbarung Gottes – allen anderen überlegen sind, betonen sie, dass moderne europäische Wissenschaft ihre Wurzeln im Islam habe... Allerdings erklärt al-Scharqawi nicht, was Europa vom Islam übernahm; er spricht nicht aus, dass es sich dabei um das hellenisierte Erbe und nicht um die fiqh (Sakraljurisprudenz) handelte.
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