Ist man normal - oder glaubt man das nur?
22.04.2017 um 11:24PoorSoul schrieb:Worauf ich hinaus wollte ist die Norm, die einfach von der Gesellschaft festgelegt wurde. Es gibt strenge Normen, von der eine Abweichung als abnorm gilt. Und es gibt Normen, die ein Mitglied der Gesellschaft erfüllen muss, um als normal betrachtet zu werden.Das Problem ist, dass man in eine Gesellschaft hineingeboren wird, in der es schon Normen gibt und man mehr oder weniger stark gezwungen wird, sich diesen Normen anzupassen, wobei der Kern des Problems in der frühesten und frühen Kindheit liegt.
Ist man erwachsen, hat man vieles davon schon so weit internallisiert, dass man es nicht mehr von dem Eigenen unterscheiden kann: Man hat sich vieles einverleibt.
Diese Einverleibung ist nicht per se problematisch, aber sie wird doch zu einem Problem, wenn sie auch Aspekte beinhaltet, die eine Entfremdung des Menschen von sich selbst voraussetzen, damit die Einverleibung "erfolgreich" vonstattengehen kann.
Nun ist es natürlich sehr zweifelhaft, ob eine Gesellschaft, die zu einem erheblichen Teil aus Menschen besteht, die sich angepasst haben, Normen definieren kann, die für ein menschliches Wesen eine Gültigkeit besitzen können.
Sie versucht es jedenfalls und das Resultat ist mangelhaft. Es ist ein Versuch, der noch nicht gelingen kann.
Man könnte diesen Versuch als einen ersten, primitiven Versuch betrachten, Phänomene zu umschreiben zu versuchen, die man noch nicht so recht versteht.
Man sollte auch unterscheiden: Normal in Bezug auf das Wesen einer Kreatur (der Mensch) und normal in den Augen der jeweiligen Gesellschaftli in einer bestimmten Epoche.
Beide können sich stellenweise überschneiden und sie können auch stellenweise nichts miteinander zu tun haben.
Ein Beispiel: Du entschließt dich aus irgendwelchen Gründen, die nur du selber kennst, eines Tages auf dem Bürgersteig seitwärts fortzubewegen, sagen wir mal nach rechts, d.h. du drehst deinen Kopf fast 90 Grad nach rechts und setzt einen Schritt nach dem anderem seitwärts nach rechts.
Fast 100% der Menschen, die dich dabei sehen, werden meinen, das sei nicht normal, ja auch wieder fast 100% der Menschen oder jedenfalls eine erdrückende Mehrheit wird meinen, du hättest eine Macke oder gar du seist abnormal (oder du machtest es aus nachvollziehbaren Gründen, z. B. um dich über die Anderen, die sich über deine Art der Fortbewegung wundern, lustig zu machen und ähnliches).
Denkbar wäre auch, dass jemand, sagen wir mal während einer akuten Psychose, absolut überzeugt ist, nur wenn er sich so fortbewegen würde, wäre er von dem bösen Geist, der ihn gerade verfolgen will, befreit.
Was ist jetzt hier normal?
Der Psychotiker ist sehr normal, weil er das tut, wonach er glaubt, dadurch vor dem Verfolger geschützt zu sein und zwar nur dadurch geschützt zu sein.
Er ist aber nicht normal, weil er so eine Vorstellung entwickeln musste, um in sich eine Art seelischen Gleichgewichts zu erreichen (das Wort "Gleichgewicht" ist hier sicherlich falsch; aber mir kommt jetzt kein passenderer, wirklichkeitsnaher Begriff in den Sinn).
Sagen wir mal, der Psychotiker, ist nicht gesund, da er so einen Mechanismus braucht.
Dennoch ist sein Verhalten aufgrund seiner inneren Wahrnehmung sehr normal, ja geradezu das einzig Richtige.
PoorSoul schrieb:Nun ist es wohl so, dass die Norm einen Normmenschen, oder einen 08/15 Menschen vorgibt, der als Referenz dient. Also einen absoluten Otto-Normalo.In Bezug auf Vieles ja, wobei hier in erster Linie das Verhalten im Fokus steht.
Es gibt z. B. eine Kleidernorm, Normen, wie man essen soll, wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat usw.
PoorSoul schrieb:Also so wie ich das lese, wird hier ein Durchschnittsbürger, oder mindestens ein Drittel der Individuen einer Population beschrieben.Mit dem einen Drittel liegst du, meiner Meinung nach, ziemlich richtig, so in etwa natürlich, denn das Ganze ist vielschichtig und man müsste genauer definieren usw.. aber so ungefähr..
Die Ziehung von Grenzen ist aber ein wenig irreführend (ein Drittel usw.), weil man sehr viele Menschen antreffen wird, die einige von den von dir zitierten Punkte in sich vereinen, aber dennoch nicht zu dem o.g. "Drittel" zuzurechnen sind. Sie sind gewissermaßen "dazwischen" und gerade diese sind viele, vielleicht sogar eine Mehrheit.
PoorSoul schrieb:Weitere Punkte (nicht einer der Subdimensionen zuzuordnen)Na ja, menschlich muss nicht bedeuten, dass es nicht auf ein Defizit, auf ein Problem hinweist.
Promiskuität
viele kurzzeitige eheähnliche Beziehungen
polytrope (vielgestaltige) Kriminalität
Also bis auf die Kriminalität muss wohl auch dieses Krankheitsbild ein wirklich allzu menschliches sein.
Das verhalten des oben erwähnten Psychotikers ist auch menschlich, weist abere dennoch auf ein sehr belastendes Problem hin.
Wahr ist, jenseits der "offiziellen Kranken" (psychischer Art) gibt es Millionen Menschen, die auch weit davon entfernt sind, sich ihren inneren, potentiellen Möglichkeiten gemäß zu entwickeln, viele Millionen!
Sie gehen arbeiten, heiraten, haben Kinder, manche machen sogar richtig Karriere, werden deswegen von anderen bewundert - und sind dennoch gestört, manche sogar erheblich.
Sie findet man überall: Ärzte, Polizisten, Lehrer, Politiker, Wissenschaftler, Priester, Juristen, Sänger, Schauspieler usw.. Nahezu überall können sie einem begegnen und nicht immer wird man merken, wie gestöre sind.
Allenfalls wird man sich vielleicht über ihr als unangemessen empfundenes Verhalten, über ihre Reaktion, aufregen, ohne zu spüren, wie gestört dieser eine Mensch eigentlich ist.
Das wird man eben auch deswegen nicht spüren, weil man oft nur an die Erscheinung der Dinge zu schauen gewohnt ist in unserer Gesellschaft und nicht in die Tiefe - das ist eben in unserer Gesellschaft auch eine der Normen, die man sich früh einverleibt hat.
PoorSoul schrieb:Das bringt mich zu der alles entscheiden Frage: Ist der Mensch grundsätzlich geistig krank? Und macht ihn seine, zumindest kleine Normabweichung erst zum Menschen?Ich weiß nicht, was du mit "grundsätzlich" meinst.
Falls du meinst, ob der Mensch vielleicht von Natur aus geistig krank sein muss, dann kann ich das verneinen.
Falls du meinst, ob er in unserer Gesellschaft krank ist, dann würde ich "Jein" sagen: Sehr viele Menschen sind krank, gestört, konnten ihr menschliches Potential nicht ausreichend entwickeln. Unter ihnen wiederum gibt es sehr viele "Subgruppen".
Neben den "offiziell Kranken" gibt es, wie gesagt, sehr viele und zahlenmäßig noch weit mehr (!) nicht als krank eingestufte Menschen, von denen man wiederum einem Teil nicht gleich anmerkt, wie gestört sie sind (als Bsp. die oben erwähnten Menschen, die in fast allen Berufen zu finden sind und von denen manche sogar phantastische Karrieren hinlegen).
Festzuhalten bleibt für mich, dass unsere Gesellschaft insgesamt kranke Züge aufweist und dass dem Einzelnen oft der Mut fehlt, sich der Gesellschaft entgegenzustellen.
Man tut es manchmal, aber nur bis zu einem gewissen Grad und dann schreckt man wieder zurück.
Ein sehr gutes Beispiel ist für mich, dass die allermeisten von uns es fertigbringen (mich inkl.!), sozusagen damit einverstanden sind, dass es vollkommen in Ordnung sein soll, sehr teute Massenspektakel zu organisieren (Fußball-WM, olympische Spiel u. a.), während gleichzeitig anderswo auf der Welt manchmal Hunderte Millionen Menschen, Millionnen Kinder, nicht wissen, wo sie ein Stück Brot finden können.
Wir wissen das, setzen uns aber gemütlich vor den Fernseher, umringt von Leckereien und schauen dem Massenspektakel zu.
Das ist für mich krank, ein Zeichen unserer Massengestörtheit.
Ich weiß, ich habe schon alle nur denkbaren "Argumente" gehört, warum es eben doch angeblich vollkommen normal sein soll, sich so zu verhalten.
Oft heißt es u.a., der Einzelne kann ja daran nichts ändern. "Wenn du deinen Fernseher ausschaltest und anstatt dir das Spiel anzuschauen, spazieren gehst oder ein Buch liest oder was auch immer, dann rettest du dadurch auch kein einziges Kind vor dem Hungern."
Ja. Richtig. Aber warum nehmen wir es hin? Bis auf wenige Länder, leben wir nicht in Diktaturen, jedenfalls nicht in der westlichen Welt.
Wenn wir es nur wollten, wenn es uns ein Anliegen wäre, dass sich das ändern muss, dann würden wir es zumindest versuchen.
Stattdessen sitzen wir vor dem Fernseher und essen Chips.
Deswegen meinte ich oben:
"Festzuhalten bleibt für mich, dass unsere Gesellschaft insgesamt kranke Züge aufweist und dass dem Einzelnen oft der Mut fehlt, sich der Gesellschaft entgegenzustellen.
Man tut es manchmal, aber nur bis zu einem gewissen Grad und dann schreckt man wieder zurück."
Ich kann es nicht ändern: Für mich íst es ein Beweis dafür, dass etwas in unserer Menschlichkeit, in unserem Menschsein, gestört ist.