Eine Welt bricht zusammen
Samarah rannte durch den Wald. Die junge Frau, beinahe noch ein Mädchen, war völlig hysterisch und voller Blut. Tränen liefen ihr über die Wangen während sie hemmungslos schluchzte und zwischen den Bäumen lang torkelte, so schnell es ihr das Gestrüpp und ihre Beine erlaubten. Mehrfach stolperte sie, raffte sich wieder auf und floh weiter. Alles was sie kannte war Vergangenheit. Wie eine ferne Illusion, während sie in einem surrealen Alptraum gefangen war. Sie hatte niemanden mehr. Keiner tröstete sie. Oder beschützte sie. Sie war ganz allein auf dieser plötzlich veränderten und grausamen Welt. Die einzige Stütze die sie jetzt noch hatte, war die kleine Pistole in ihrer ebenso kleinen Hand, die sie aber fest umklammerte…
43 Stunden vorher
Sie war überraschend zu Besuch gekommen. Vorher hatte die Familie zusammen in Deutschland gewohnt. Doch vor ein paar Jahren hatten die Müllers unerwartet eine Erbschaft gemacht. Von entfernten Verwandten ihrer Mutter. Annabelle Müller war selber Halbfranzösin und hatte, wie sich jetzt herausstellte, noch tatsächlich Verwandte in Frankreich gehabt. Und nun hatten sie ein Haus in Chateau Noir. Nun ja, zumindest in der Nähe davon. Irgendein Bruder ihres Urgroßvaters, den sie nie kennengelernt hatte. Aber durch ihre Arbeitsstelle bei DatSecTec in Mannheim konnten sie nicht so einfach weg. Und ihr Mann, Gerd, war auch noch bei der Bundeswehr. Beide arbeiten im Bereich der Elektronik und Datenverarbeitung/Kommunikation. Außerdem hatten sie ein Haus und alles was sie brauchten. Dann lief Gerd’s Dienstzeit ab. Nur mit einem Job in der Privatwirtschaft wollte es nicht so klappen. Er war einfach zu überqualifiziert! Immerhin hatten sie für Samarah eine Ausbildung und einen Studienplatz bekommen! Da sich irgendwie die ganze Familie für Computer&Co interessierte, war somit auch Samarahs Weg schon gekennzeichnet. Als Annabelle auf der Arbeit mit ihrem Abteilungsleiter sprach, überlegte dieser und meinte, er hätte vielleicht eine Lösung. Zu diesem Zeitpunkt begann sich DatSecTec unbemerkt zu vergrößern. Und plötzlich erhielten sie ein Angebot! Dort, wo sie geerbt hatten, in Chateau Noir, würde eine Neue Filiale und Zentralverwaltung der Firma eröffnet werden. Ob das nicht etwas wäre? Ein Haus hätten sie ja schon da… Und eine Stelle für Gerd würde es auch geben, sogar entsprechend seiner Qualifikation, natürlich mit allen Zulagen! Und sogar noch einem Stipendium für Samarah! Die Müllers überlegten nur kurz bei ihrem Familienrat, solch eine Chance musste ergriffen werden! Schnell war das Haus in Mannheim verkauft und der Umzug fand statt. Innerhalb eines halben Jahres war auch das geerbte Gemäuer völlig saniert und renoviert. Besser konnte es fast nicht gehen. Einziger Wermutstropfen dabei war, das Samarah so lange im Internat war. Aber auch das wäre bald vorbei und nach Abschluss des Studiums winkte ihr auch schon eine freie Stelle in Chateau Noir. Also besuchte sie ihre Eltern in den Semesterferien und wenn es ging, auch mal zwischendurch. Eine glückliche Familie, wie aus dem Bilderbuch.
Diesmal war ihr Besuch unangekündigt, Samarah wollte ihre Eltern überraschen! Da sie verschiedene Kurse und Prüfungen schon vorher erledigt hatte, konnte sie 2 Wochen früher los als sonst. Strahlend klingelte sie an der Tür und freute sich diebisch über die erstaunten Blicke ihrer Eltern. Aber irgendwie, schienen sie sich nicht so recht zu freuen fand sie. Gerd und Annabelle waren ernster als sonst. Sie meinten, es läge wohl an der Arbeit, sie hätten viel zu tun zurzeit. „Wahrscheinlich einfach nur Urlaubsreif“ dachte sich Samara nichts weiter dabei. Da sie ja ohnehin erst in zwei Wochen kommen sollte, hatten ihre Eltern bestimmt wieder vorgearbeitet, oder sie waren dabei, um die freie Zeit herauszuholen, die sie dann ungestört mit ihrer Tochter verbringen konnten. Doch noch ein anderer Gast war da. Franklin Gibbs! Darüber freute sie sich noch mehr. Früher war Onkel Franky, wie sie ihn nannte, öfter zu Besuch gewesen. Er und Gerd hatten sich bei der Armee kennengelernt, in Afghanistan. Auch er war Kommunikationsoffizier wie ihr Vater dereinst, auch wenn er sonst meist Hubschrauber flog. Er musste ungefähr zur selben Zeit wie Gerd aufgehört haben, was er jetzt tat, wusste sie nicht. Aber er war zu Besuch und alles andere war egal! Wie in den alten Zeiten! Am nächsten Tag gingen ihre Eltern wie gewohnt zur Arbeit. Nun fast jedenfalls. Sie ermahnten sie eindringlich nicht alleine in den Wald zu gehen oder das Haus zu verlassen, erklärten aber nicht weiter warum. Wenn etwas wäre, sollte sie Onkel Franky anrufen, sie kritzelten 2 Telefonnummern auf einen Zettel und gaben in ihr. Auf ihren erstaunten Blick hin meinten sie: „Nur so, zur Sicherheit. Und egal was ist, höre auf Franklin!“ Sie hatte sich den ganzen Tag beschäftigt und die seltsame Stimmung ihrer Eltern schon wieder vergessen, auch im Frei lernte sie gerne. Es wurde Nachmittag, dann Abend. Ihre Eltern kamen nicht. Sie rief sie an, ohne Ergebnis, die Handys waren wohl aus. Seltsam… Da DatSecTec einen eigenen Funkmast betrieb, war sonst immer Empfang hier! Dann rief sie in der Firma an. Man war erstaunt dass sie sich meldete. Noch erstaunter, das sie da war. Und man hielt sie eine ganze Weile in der Leitung. Es kam ihr schon komisch vor, als ob sie ausgefragt werden würde, aber niemand ihre Fragen beantwortete. Dann sagte ihr die Stimme am Telefon, sie solle sich keine Sorgen machen, man würde veranlassen das sofort jemand nach ihr und ihren Eltern sehen würde, sie solle einfach zu Hause bleiben und warten. Wahrscheinlich nur eine Autopanne, mehr nicht. Doch Samarah war davon nicht beruhigt, im Gegenteil, es verängstigte sie noch mehr. Der Wald und die Dunkelheit außerhalb der Fenster hatten plötzlich etwas Bedrohliches, Böses an sich. Ihre Angst steigerte sie und fast schon panisch suchte sie den Zettel mit den Telefonnummern heraus, den ihr ihre Mutter am Morgen gegeben hatte. Auf dem Handy konnte sie Onkel Franky nicht erreichen, das war seltsamerweise genauso tot wie die die Mobiltelefone ihrer Eltern. Aber auf der Festnetznummer seiner Ferienwohnung ging er sofort an den Apparat. Das war auch seltsam, wenn er zu Besuch war, übernachtete er bei den Müllers. Immer! Kaum hatte er abgenommen, plapperte sie auch schon wild und aufgeregt los. Er brauchte erst mal eine Weile um sie zu beruhigen. Und um zu erfahren was los war. Dafür handelte er aber umso schneller. Konzentriert und bedächtig darauf das Mädchen nicht noch mehr zu verunsichern, gab er ihr klare und kurze Anweisungen. „Zieh dir schnell was über Samarah und dann verlässt du sofort das Haus. Ohne Widerrede! Du kennst doch noch den alten Holzstapel zum Berg hin? Gut! Dahin gehst du sofort. Du wirst dich dort verstecken und warten bis ich da bin, hörst du? Ich werde dich dort abholen. Und du bleibst dort und bist still und machst nichts, egal was passiert, ok? Auch wenn jemand anderes kommt, wirst du nicht, auf keinen Fall zu ihm gehen! Hast du das verstanden? Und erst recht nicht zur Straße! Ich hole dich ab, ich beeile mich. Versteck dich und sei still! Du brauchst kei…..“ Dann brach das Telefonat ab, die Leitung war tot. Sie versuchte noch ein paarmal zu wählen, Onkel Franky erneut anzurufen, aber das Telefon blieb stumm. Samarah zo schnell ihre Schuhe an und lief sofort los. Sie war vielleicht 200 Meter vom Haus weg, als ihr einfiel, dass sie auch Handy und Jacke vergessen hatte. Sie wollte schnell zurücklaufen um die Sachen zu holen, auch wenn das Handy wohl keinen Empfang hatte und nutzlos war. Aber mit einem Mal hatte sie ein schlechtes Gefühl und Angst davor, wieder ins Haus zurückkehren zu müssen. War vorher der nächtliche Wald der Quell ihrer Besorgnis gewesen, so traf dies nun auf das Haus zu. Sie dachte kurz an Onkel Franky „Ich hole dich ab, ich beeile mich. Versteck dich und sei still!“ Flugs eilte sie weiter, so schnell sie konnte. Das was Frank als Holzstapel bezeichnete, war eine Ansammlung von Baumstämmen, die dort lagerten und warteten zu Brennmaterial zerkleinert zu werden. Sie erreichte das Versteck nach weiteren knapp fünfzig Metern und kletterte behende und eilends zwischen die Stämme, die zum Glück einige Hohlräume boten. Niemand sollte sie hier finden können. Außer Onkel Franky, auf den sie hoffte…
Franklin Gibbs war erschüttert über Samarahs Anruf. Er wusste nicht ob und was mit Gerd und Annabelle geschehen war, nur das etwas im Gange war. Und das er sofort handeln musste! Er fluchte leise, dass er Edward nicht schon früher kontaktiert und herbestellt hatte. Rückendeckung könnte er jetzt sicher gut gebrauchen. Und jemanden, dem er völlig vertrauen konnte! Das die Telefonleitung unterbrochen sagte ihm einiges, auch das Handy hatte kein Netz mehr. Ob er schon überwacht wurde? Wahrscheinlich ja. Schnell zog er sich Schuhe an, dann hob er die Matratze des Bettes hoch. Hervor zog er ein Schulterholster. Er öffnete routiniert die beiden Magazintaschen und checkte sie aus Gewohnheit. Die beiden Magazine fassten 15 Patronen und waren voll. Er schnallte sich das Halfter um, dann zog er die Waffe heraus, warf das Magazin aus und checkte auch dort ob es vollgeladen war, bevor er es in der Waffe wieder einrasten ließ. Er zog den Schlitten der Glock 19 zurück um sicher zu stellen, das eine Patrone in die Kammer geladen wurde. Dann ließ er ihn mit einem schnappenden Geräusch nach vorne gleiten. Die geladene und bereite Pistole, bei der anders als bei üblichen Standardmodellen noch ein Stummellauf mit Gewinde hervorstand, verstaute er wieder unter seinem rechten Arm, er war Linkshänder. Schnell streifte er sich seine alte Fliegerjacke über und holte noch den dazugehörigen Schalldämpfer unter der Matratze hervor. Möglicherweise brauchte er die Waffe ja und wenn er sie schon benutzen musste, wäre es sicher von Vorteil, nicht mehr Lärm zu machen als unbedingt notwendig war.
Er überlegte kurz, entschied sich dann aber gegen die Ausgangstür seines Appartements und schlüpfte durch das Badfenster, nachdem er sich überzeugt hatte, dass niemand hinter dem Haus war und auf ihn wartete. Er verschwand in die Dunkelheit, Richtung Wald und Samarah, als er die Wagen hörte. Mehrere Geländewagen, die mit quietschenden Reifen hielten und deren schwerbewaffnete und maskierte Insassen sofort das Haus umzingelten. Auf der Suche nach ihm! Er war keinen Moment zu früh los. Kurz dachte er daran sein Versteck aufzusuchen, die Reservewaffe erschien ihm verlockend ob der feindlichen Übermacht. Aber das Mädchen hatte Priorität. Kurz erschien vor seinem geistigen Auge die alte Szene aus Afghanistan… Nein! Samarah würde, dürfte nichts dergleichen passieren! Lautlos und schnell bewegte er sich durch die Nacht, zu allem entschlossen!
Fast hätte es Samarah gar nicht bemerkt, so war sie darin vertieft zu warten und sich zu verstecken, still zu sein. Es waren einige Autos, große Jeeps oder so. Aber sie kamen ohne Licht. Und hielten schon ein ganzes Stück vor dem Haus. Viele…Gestalten…kamen daraus hervor… Dann erkannte sie, dass es dunkel gekleidete und Schwerbewaffnete Männer waren. Was ging hier vor? Verwirrt blickte sie zum Haus, um das die Vermummten sich jetzt positionierten, soweit sie es erkennen konnte, es waren zwar fast 300 Meter, aber annähernd Vollmond und die Szenerie unheimlich auf eine kalte Art und Weise erleuchtet. Sie bemerkte noch das Flackern des Fernsehers durch die Fenster, sie hatte ihn in der Eile angelassen. Dadurch schienen die Männer anzunehmen, dass sich jemand, sie, darin aufhielt. Plötzlich hörte sie ein vielfaches Knallen, das aber viel zu leise für Schüsse war und dann das Splittern von Glas. Während sie noch überlegte, was das gewesen sein könnte, donnerten plötzlich die ersten Explosionen los! Die schwarzen Gestalten fuhren mit ihrem Tun fort und mit Entsetzen erkannte sie, dass das Haus von Granatwerfern unter Beschuss genommen wurde, die an die Sturmgewehre der Angreifer montiert waren! Fast hätte sie aufgeschrien, als sich plötzlich eine Hand auf ihren Mund legte und bevor sie vollends in Panik und Hysterie verfiel, ertönte ein bekannter, breiter schottischer Dialekt in deutscher Sprache hinter ihr. „Sei still Samarah, ich bin‘s Frank! Alles ok, sei nur still und gib keinen Laut von dir!“ Sie nickte schnell, antworten konnte sie ja nicht und dann ließ Onkel Frank ihren Mund los. Sie drehte sich aufgeregt und ängstlich zu ihm um, wollte ansetzen zu reden, aber er hielt den Finger vor seinen Mund und machte leise „Pssst“ zu ihr. Wieder nur nickte Samarah. Sie war froh, dass er endlich da war. Weitere Detonationen erschütterten das kleine Haus, ließen die Fenster bersten. Wer immer es auch war, sie machten weiter. Warum auch immer. Mit Tränen in den Augen blickte sie erneut zu Onkel Frank und erschrak erneut. Nicht nur das er mit eisigem, hasserfüllten Blick neben ihr hockte, nein, seine linke Hand machte ihr Angst. Sie war oft genug mit ihrem Vater auf einem Schießstand gewesen um eine Waffe zu erkennen. Und auch wenn sie noch keinen Schalldämpfer gesehen hatte, wusste sie doch was einer war. Nur warum um alles in der Welt hatte Onkel Frank jetzt so ein Ding dabei?
Einer kurzer Blick zum Haus, in dem jetzt die Gastanks explodierten und sie zusammen zucken ließen, genügte jedoch um sie um zustimmen. Egal warum und wozu Onkel Frank das brauchte und auch immer her hatte! Sie war jetzt froh, dass er bewaffnet war und auf sie aufpassen würde! Die Unbekannten setzten ihr Zerstörungswerk fort, bis das ganze Haus in Flammen stand, dann warteten sie noch eine Weile. Vielleicht entkam ja doch noch wer diesem Inferno? „Diese Schweine… Ich mach dich fertig du Drecksack!“ knirschte es zwischen Franklins Zähnen leise hervor. Erneut wollte sie fragen, doch wieder gebot er ihr still zu sein. Nach einer Weile verließen die Männer die Überreste des Hauses, das nun fast völlig abgebrannt war. Hier draußen in der Wildnis bekam das eh keiner mit… Bis jemandem auffiel, dass mit dem einsam gelegenen Haus etwas nicht stimmte, konnten Tage, sogar Wochen vergehen. Er bedeutete Samarah nach einigen Minuten, ihm leise zu folgen. Als er ihren Kopf heranzog, flüsterte er ihr leise ins Ohr. „Wir gehen jetzt los. Aber leise und geduckt. Du folgst mir und trittst nicht woanders hin! Verstanden?!“ Sie nickte völlig aufgelöst und verheult. „Und sei still! Wahrscheinlich wartet noch jemand in der Nähe des Hauses, die gehen garantiert auf Nummer sicher. Und wenn ich sage Runter, dann wirfst du dich sofort hin, ohne zu fragen!“ Wieder nickte sie nur. Dann schlichen sie sich durch die Dunkelheit in Richtung Chateau Noir, während Franklin achtsam die Umgebung sondierte und dabei die Pistole stets schussbereit hielt. Er wollte sich von nichts und niemanden überraschen lassen. Vor allem nicht mit seiner Schutzperson… Dann bemerkte wie das Mädchen, die junge Frau wies er sich in Gedanken zurecht, nicht nur vor Angst zitterte, sondern auch durch die Kälte der Nacht. Geschwind zog er sich die Jacke aus, ohne die Glock dabei aus den Händen zu legen, und gab sie Samarah, die sie dankbar anzog. Sie musterte ihn noch verwirrter, als sie jetzt das Schulterholster sah. „Warum…“ wollte sie anfangen, doch erneut hob er den Finger an den Mund. „Nicht jetzt“ flüsterte er ihr zu. Sie nickte nur stumm und verängstigt, dann setzten beide ihre Flucht durch die Nacht fort.
Onkel Franky brachte sie in ein Versteck, hinter dem alten Generatorhaus in Chateau Noir. Da dieser schon lange kaputt war, würde hier wohl kaum jemand vorbeikommen. Sie hatten fast den ganzen Tag dort zugebracht, nachdem sie sich in der Nacht dorthin geschlichen hatten. Samarah war mehr als nur erstaunt und verwirrt. Es war eingerichtet, als wollte Franky längere Zeit hier verbringen. Aber warum? Zwar hatten die beiden geredet, aber viel erfahren hatte sie nicht. „Ich kann dir nicht alles erzählen Kind“ versuchte er sie beruhigen. „Wenn du zu viel weist, bist du auch in Gefahr, noch mehr als jetzt!“ Sie verstand es einfach nicht, was hier geschah. Auch nicht warum. „Deine Eltern haben etwas herausgefunden. Und das ist gefährlich. Sehr gefährlich sogar. Deshalb bin ich auch hier.“ Samarah kam sich vor wie in einem Alptraum, einem schlechten Film. „Ich kann nicht darüber reden, noch nicht. Aber bitte glaube mir, deine Eltern tun das richtige. Und sie sind die Guten!“ Nichts ergab einen Sinn, sooft sie auch darüber nachdachte. Franky wurde den ganzen Tag über nervöser, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. „Ein alter Freund und Kollege von mir und deinem Vater sollte heute eigentlich kommen, er müsste schon da sein, mit dem wöchentlichen Zug…“ Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, aber er rückte nicht mit der Sprache heraus. „Tommy wird dich hier rausbringen, in Sicherheit“ versprach er ihr. Doch kein Tommy kam. Dann entschied sich Franklin, als der Abend anbrach, das Versteck zu verlassen. „Du bleibst hier, ich geh zum Bahnhof und zum Wirtshaus um nach Tommy zu sehen, er müsste längst da sein.“ Er ließ ihr die Schlüssel da und ermahnte sie, niemand anderen einzulassen und versteckt zu bleiben. Er würde sich schon bemerkbar machen und bald wieder da sein. Die Stunden verrannen, aber Onkel Franky kam nicht wie versprochen zurück. Wütend, frustriert und voller Angst weinte sich Samarah die Seele aus dem Leib, dann kam der Zorn. Hasserfüllt grummelte sie vor sich hin und dann brach es aus ihr heraus, machte sich Luft. Eine der Konservendosen warf sie an die Wand, dann schlug sie gegen einen Kistenstapel, der daraufhin bedrohlich wankte aber stehenblieb. Sie drehte sich immer noch wütend herum und trat gegen den kleinen Schrank, das es splitterte. Sie schrie laut auf durch den Schmerz und verstummte sogleich wieder. „Sei still, dass dich niemand hört“ kamen ihr Franklins Worte ins Gedächtnis zurück. Schuldbewusst senkte sie den Blick. Und dann sah sie das schwarze Schimmern, hinter der nun offenen, demolierten Kommodentür. Neugierig kam sie näher, hockte sich hin und schaute hinein. Nein, oder? Sie griff danach und teils erstaunt, teils erfreut hob sie die Waffe auf. Eine kleine Pistole. Leicht war sie. Aus Plastik?. Als sie auf die Aufdrucke sah, las sie „Glock 26 9x19 Made in Austria““
Ja, von Glockpistolen aus Kunststoff hatte sie schon gehört! Sie sah nochmal in den Schrank und fand dort noch 3 Magazine für die Pistole. Die Patronen darin sahen etwas seltsam aus, nicht die Spitzen, runden Dinger die sie von Papas Besuchen auf dem Schießstand kannte, sondern viel breiter waren diese hier, mit einem Loch in der Mitte. Aber das war ja egal. Hauptsache sie hatte jetzt etwas. Eifrig verstaute sie diese in ihrer Hosentasche, etwas anderes hatte sie ja nicht. Dann hockte sie sich wieder hinter den Kistenstapel und schob sich ihren neuen „Beschützer“ in den Hosenbund. Nach einer Weile döste sie ein, sich nun viel sicherer fühlend. Immerhin war sie einige Male mit ihrem Vater auf dem Schießstand gewesen!
Leises Kratzen weckte sie. Im ersten Moment wusste Samarah nicht wo sie war und was sie hier tat. Dann fiel es ihr wieder ein und Adrenalin durchströmte sie wie ein Schock! Stimmen waren zu vernehmen, gedämpft und geflüstert, dazu ein Schniefen und Röcheln. „Dieser Spitzel wird sich wundern, wenn er wieder in sein Versteck kommt! Sollte er dem Hachez noch einmal entkommen, bekommt er hier was er verdient!“ Ein anderer meldete sich zu Wort „Ist ja gut, beeilen wir uns, ich bin froh, wenn ich dieses…Vieh…los bin!“ Ein Schnippen und Schnappen ließ erahnen, dass jemand das Schloss öffnete, dann ging die Tür auf. Samarah versteckte sich weiter hinter den Kisten. Zwei Männer in Kampfanzügen, wie die bei ihr zuhause, durchfuhr es sie, schleppten einen leblosen Körper herein. Schnell legten sie ihn ab, er begann zu zucken. „Nichts wie weg, bevor der aufwacht“ Und schon waren die beiden Typen weg und die Tür wieder zu! Dann von draußen “Scheiße! Wo ist der andere?“ Getrampel. „Keine Ahnung! Mist! Wenn der andere auch so schnell aufwacht? Scheiße Scheiße Scheiße!“ Kurz Ruhe, dann „Vergiss es, wir hauen ab, weit kommt der eh nicht“ Stille. Dann ein Röcheln und Schniefen. Ein Körper der sich bewegt, langsam. Als Samarah über die Kisten sah schrie sie einfach nur! Das…Ding…war fast nackt! Voller Blut und die Haut fehlte! Von dem Schrei schien es wach zu werden und sie zu bemerken. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und ihr Hals schien fast zu platzen. Dann, als das…Ding…Monster…oder was immer es war aufstehen wollte, stieß sie mit aller Kraft erneut gegen den Kistenstapel. Er kippte auf diese Monstrosität und begrub sie schreiend unter sich. Sie rannte zur Tür, wollte raus, aber sie ging nicht auf! Hinter ihr Scharren und Klapper, das Ding befreite sich. Der Schlüssel! Schnell fischte sie in aus der Hosentasche und versuchte mit zittrigen Händen aufzuschließen. Es gelang ihr erst beim dritten Mal! Sie rannte raus, schlug die Tür hinter sich zu und schob den Schlüssel von außen ins Schloss, keinen Moment zu früh! Kaum war das erledigt, prallte dieses Vieh von drinnen an die Tür, kam aber nicht raus! „Oh Mein Gott!“ Gerade als sie dachte, jetzt in Sicherheit zu sein, hörte sie das Schniefen hinter sich… Sie sah sich um, erblickte noch so eine Kreatur, die eine völlig zerfetzte Katze vor sich hielt und wohl hineinbiss, begann zu schreien und lief einfach nur los, weg vom Gebäude, weg vom Ort, einfach in den Wald hinein. Sie rannte so schnell sie konnte, rannte um ihr Leben!
Aber das Getrampel und Gekeuche hinter ihr wollte einfach nicht aufhören. Sie schlug sich ins Dickicht, lief so schnell sie konnte und irgendwann verließen sie ihre Kräfte und sie stolperte. Unfähig weiter zulaufen rappelte sie sich auf und kniete auf dem Waldboden. Das Ding war immer noch da und kam näher. Es hätte wie ein breiter, massiger Mann aussehen können, wäre nicht das furchtbare Geröchele und das ganze Blut gewesen. Sie rutschte vor lauter Panik ab, unfähig wieder aufzustehen und landete auf ihrem Hintern. Der Schmerz an ihrem Gesäß erinnerte sie an etwas Hartes… Die Waffe fiel ihr wieder ein! Hektisch zog sie die Pistole aus dem Hosenbund in ihrem Kreuz, richtete sie zitternd auf die Gestalt und schrie. „Bleib stehen oder ich schieße!“ Keine Reaktion. Das gurgelnde Ding war noch zehn Meter vor ihr, als sie die Augen zusammenkniff und abdrückte. Nichts. Nochmal und nochmal drückte sie den Abzug, wieder geschah nichts. Es kam immer näher, keuchend, geifernd… Durchladen! Du musst durchladen! Mit diesem Gedanken zog sie hastig den Schlitten zurück, der mit einem Klacken wieder nach vorne sprang, sofort drückte sie ab. Wieder geschah nichts! Fünf Meter… Sein rasselnder Atem war überlaut… Plötzlich hob sie die Waffe und sah auf den Griff. Es war kein Magazin darin. Drei Meter… Die Zeit schien sich zu verlangsamen und alles zu dehnen, zu verzerren, übertönt vom Stöhnen des Verrückten Monsters… Fahrig und nervös versuchte sie ein Magazin aus ihrer Hosentasche zu ziehen, was im Sitzen nicht gerade einfach war. Irgendwann hatte sie es geschafft. Unter Tränen versuchte sie es in die Pistole zu schieben, es ging einfach nicht… Zwei Meter… Dann begriff Samarah, das sie das Magazin falsch herum hielt, sie drehte es mit zittrigen Händen und mit einem lauten TSCHAK rastete es im Griff der Glock ein! Einen Meter… Sie erschrak noch mehr als er direkt vor ihr war, fiel hintenüber, gewann dadurch etwas Zeit. Das dichte Gebüsch ließ den riesigen, breiten Körper nicht so einfach durch. Endlich schaffte sie es, den Schlitten zurück zuziehen und die erste Patrone zu laden. Kreischend, während dieses Monster versuchte sie zu greifen, riss sie die Waffe hoch, richtete sie auf das Ding vor ihr und betätigte den Abzug! Immer und immer wieder, so schnell sie nur konnte, während sie weiter um ihr Leben schrie! Die ersten Schüsse gingen dem Angreifer in den Bauch und die Hohlspitzprojektile rissen große Löcher, entlockten ihm Blutfontänen und noch mehr Grunzlaute der Agonie. Durch das schnelle Feuern Samarahs wurde die leichte Pistole immer höher geworfen wegen dem Rückstoß. Die Geschoßeinschläge wanderten über Bauch zu Brust, dann in den Hals. Die letzten beiden hämmerten ihm in Gesicht und Kopf, ließen neben Blut auch noch Hirnmasse aus seinem Hinterkopf in das spärliche, restliche Laub des Gebüsches spritzen. Sie schrie immer noch, rief verzweifelt nach der Hilfe ihrer Mutter, drückte den Abzug einer Waffe, die längst leergeschossen war, während ES über ihr in den Ästen hing und nun einfach stumm vor sich hin blutete… Langsam begann sie zu realisieren, dass sie soeben einen Menschen, oder was das auch immer war, getötet hatte. Sie wollte nur noch weg, wimmernd und schluchzend versuchte sie sich umzudrehen und auf allen vieren wegzukriechen, während das Blut auf sie tropfte. Irgendwie gelang es Samarah auch, die Pistole immer noch festhaltend, robbte sie durch das Gebüsch, bis sie mehr Platz hatte und langsam und keuchend aufstehen konnte. Immer noch außer Atem blickte sie zurück… Dann übergab sie sich aufs heftigste! Irgendwann war es vorbei und sie bekam auch wieder Luft, auch wenn sie weiter panisch ein und ausatmete. In ihrem Kopf war kein Platz mehr für logisches Denken, sie lief einfach los… Sie wollte nur noch weg…
Jetzt und Heute
Samarah rannte durch den Wald. Die junge Frau, beinahe noch ein Mädchen, war völlig hysterisch und voller Blut. Tränen liefen ihr über die Wangen während sie hemmungslos schluchzte und zwischen den Bäumen lang torkelte, so schnell es ihr das Gestrüpp und ihre Beine erlaubten. Mehrfach stolperte sie, raffte sich wieder auf und floh weiter. Alles was sie kannte war Vergangenheit. Wie eine ferne Illusion, während sie in einem surrealen Alptraum gefangen war. Sie hatte niemanden mehr. Keiner tröstete sie. Oder beschützte sie. Sie war ganz allein auf dieser plötzlich veränderten und grausamen Welt. Die einzige Stütze die sie jetzt noch hatte, war die kleine Pistole in ihrer ebenso kleinen Hand, die sie aber fest umklammerte…
Sie irrte durch den Wald, weiter und immer weiter, sie wusste nicht mehr wo sie war. Sie hatte Durst, Hunger, auch Schmerzen und konnte einfach nicht mehr, aber die grenzenlose Angst und das Grauen trieben sie immer weiter… Ohne Erbarmen…
Dann hörte sie Stimmen. Auf der Lichtung sah sie die Gruppe, zwei Männer und eine Frau. Sie sahen aus wie Wanderer, nicht wie diese Angreifer oder diese Soldaten! Sie torkelte aus dem Dickicht, lief unsicher auf die Leute zu, stammelte noch irgendetwas von „Hilfe…Hilfe…“ Dann brach sie einfach erschöpft zusammen. Sie war bewusstlos. Aber Ihre Hand hielt die Glock immer noch fest, wie ein Schraubstock.