Der Raum war riesig. Um nicht zu sagen gigantisch. Eigentlich war es kein Raum, eher eine Halle. Nat sah sich ehrfürchtig um und staunte, während die Lampe wie mit einem grellen Lichtfinger die Dunkelheit teilweise erhellte.
Original anzeigen (0,3 MB)Allerdings schaffte es der Leuchtkegel nicht bis zur anderen Gegenseite, die Entfernung war einfach zu groß. Sie kam sich wie in einer großen Kuppel vor. Alles war rund, es gab keine Ecken. Dafür aber jede Menge Nischen an der umlaufenden Wand. Diese schritt sie nun ab, fand aber keine weitere Tür oder ähnliches. Scheinbar gab es nur einen Zugang, nämlich den, durch welchen sie dieses Sanktuarium betreten hatte. Es war still. Völlig still. Während draußen die Geräusche des Dschungels zu vernehmen waren und einen einhüllten, war hier schlichtweg nichts. Selbst in den anderen Gebäuden, die sie vorher untersucht hatte, war Leben gewesen und wenn es nur das Flüstern des Windes war. Hier jedoch… Es war wie eine andere Welt, als hätte sie mit dem Durchschreiten des Eingangs ein anderes Universum betreten. Im selben Moment, wie sie so nachdachte, kam sie sich unglaublich dumm und klein vor. Wahrscheinlich war diese Emotion von den Erbauern so gewollt und zeigte nun auch bei ihr Wirkung. Genau! Das und nichts anderes! Sie schüttelte sich noch einmal und lachte dann über sich selbst. Die alten Baumeister hatten schon etwas drauf gehabt. Und die damaligen Bewohner waren sicherlich viel einfacher zu beeindrucken gewesen. Dann begann sie die Wandnischen zu untersuchen.
Überall an den Wänden waren Skulpturen untergebracht. Nur dazu waren die Nischen gedacht. Teils waren es eher schon Statuen. Mal größer, mal kleiner. Und ziemlich Abstrakt bisweilen. Einige stellten Menschen dar. Andere wiederum eine Art Mischung aus Mensch und Tier. Das verwirrende daran war, dass dies eher zu den alten Ägyptern gepasst hätte, als zu den Mayas oder Azteken. Doch wie sollten diese hier her gekommen sein? Und warum? Und vor allem: Wann? Natalie machte viele Fotos mit der Handycam, so gut es ging und soweit sie die Szenerie mit der Taschenlampe ausleuchten konnte. Hier drin war es stockfinster. Fenster schien es nicht zu geben. Und wenn doch, waren die wohl eher von der Vegetation zugewuchert. Kurz dachte sie an den Riesigen Baum am Eingang, der alles mit seinen Wurzeln verdeckte. Ja genau, das ´musste es sicher sein! Zufrieden mit ihrer eigenen Erklärung machte sie weiter. Oja, diese Bilder würden auch Professor Mendez interessieren, dessen war sie sich sicher. Ob er wusste worum es sich hier handelte? Sie selbst war der Meinung, dass es eine Art Tempel sein musste, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wer oder was hier angebetet worden war. Wenn es nach all den Figuren ging, müsste es eine umfangreiche Religion mit vielen Götzen gewesen sein. Sehr vielen… Von den Nischen gab es sicher mindestens drei Dutzend und sie war noch nicht einmal fertig…
Natalie wurde immer verwunderter, aber auch interessierter. Die Formen der Statuen nahmen immer abstraktere Formen an. Fast kam sie sich beinahe ein bisschen wie in der Horrorabteilung eines Wachsfigurenkabinettes vor. Einige der Gestalten kamen ihr sogar seltsamerweise vage vertraut vor… Dann fiel ihr wieder ein, woher. Legenden. Alte Sagen und Überlieferungen! Bei diesen alten Geschichten waren nicht immer die Ursprünge bekannt, aber hier waren sie ebenso bekannt gewesen. Nat runzelte die Stirn. „Hm… Dieses Pferdeartige… Könnte man für ein Einhorn halten… Und dieses kleine, gekrümmte… Wie hieß dieses Viech nochmal?“ Angestrengt dachte sie nach, dann schrie sie es beinahe triumphierend heraus. „Der Chupacabra! Genau!“ Staunend lief sie weiter und knipste alles. Weitere vertraute Gestalten fanden sich in den Nischen, aber noch mehr unbekanntes, teils regelrecht furchteinflößendes. Etliche der Kreaturen schienen Mischwesen zu sein, Hybride.
Original anzeigen (0,2 MB)Natalie war mit der Runde fertig. Sie war erstaunt, dass dies, was sie gerade entdeckt hatte, noch nirgendwo publiziert worden war. Dann wurde ihr mit einem Schlag klar, dass dies alles durcheinander werfen würde. Es wäre so eine Art Kulturschock. Für die ganze Welt. Weil es die meisten der Götzenstatuen hier gar nicht geben dürfte. Was ein weiteres, großes Rätsel darstellte. Angestrengt überlegte sie, kam aber zu keinem logischen Schluss. Sie seufzte tief. Das war frustrierend… Und wie passte dieser Kult dazu? Auch das ergab keinen Sinn. Sie wusste, dass sie die Hilfe von Arturo Mendez und weiteren Fachleuten brauchte. Aber womöglich waren selbst diese überfordert. Sie grübelte. Konnte es sein? Das es vorher etwas anderes gab? Das noch niemand kannte und von dem noch niemand wusste? Sie erinnerte sich an alte Legenden und auch Verschwörungstheorien, doch hatte sie solchen Hirngespinsten nie Glauben geschenkt. Doch jetzt? Sie wusste nicht mehr so Recht, was sie glauben sollte, geschweige denn überhaupt zu wissen schien. Ansonsten schien der Raum leer, aber sie war ja bis jetzt auch nur an der Wand lang gelaufen. Sie richtete den breiten Strahl der Lampe in Richtung Mitte. Nichts war zu sehen, außer einem flachen Schemen an Ende des Lichtkegels. Instinktiv schaute sie auf ihre Uhr. Ja, draußen musste es jetzt schon dunkel sein… Ach egal, jetzt war sie schon einmal hier und konnte sich auch noch den Rest ansehen!
Der riesige, kreisrunde Raum war tatsächlich leer, Naja, beinahe jedenfalls. Außer den Nischen an der Wand gab es nur noch ein flaches Rechteck aus Stein, genau in der Mitte des Raumes. Es war quadratisch und aus Stein und etwas mehr als Hüfthoch. Aber das war es auch schon. Nichts weiter. Möglicherweise gab es früher noch mehr, was als Einrichtung gedient hatte, aber heute nicht mehr. Aber es waren auch keine Spuren oder Reste zu sehen. Verwirrt und erschöpft nahm Nat Platz und trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Angestrengt überlegte sie, kam aber zu keinem Ergebnis. Auf der riesigen Granittafel war auch nicht neues zu finden gewesen. Sie vermutete, dass es sich dabei um eine Art Altar handeln musste, war sich aber ehrlich gesagt auch nicht ganz sicher. Zu mindestens war das Gebilde reich verziert…
Als sie genauer hinsah, entdeckte sie wieder die seltsamen Schriftzeichen, die sie auch draußen gefunden hatte. Immer noch hatte sie keine Ahnung was diese bedeuteten, geschweigen denn, wo sie herstammten. In Gedanken versunken strich sie über die eingemeißelten Reliefs, als sie plötzlich das Gefühl bekam, dass diese bewegen würden… Sie schrak kurz hoch, dann tastete sie erneute, drückte und presste leicht. Bis sie mit einem leisen Klick belohnt wurde! Was war das? Warum war das beweglich? Schnell drückte sie auf weitere der Muster, aber nichts geschah. Sie wollte schon enttäuscht aufhören, als bei dem letzten wieder ein KlickKlack zu hören war. Und ein donnerndes, kurzes Rumpeln unter ihren Füßen, das den Boden leicht beben ließ. Dann herrschte wieder Totenstille. Nun voller Aufmerksamkeit, leuchtete sie alles nochmals ab. Wenn es eine Art Muster, ein Code war, wie sollte sie diesen herausfinden? Mit zusammengekniffenen Augen studierte Nat die Tafeln erneut. Scheinbar waren sie unterbrochen. Das meiste war von den Maya, ein weiterer Teil schien Aztekisch oder gar Inka zu sein. Aber dazwischen war immer diese seltsame Keilschrift. Entschlossen presste sie erneut. Nichts geschah oder bewegte sich, bis sie wiederum eines der unbekannten Symbole erwischte. Wieder ein leises Rumpeln… Und das Zeichen schien etwas in den Altar einzusinken, verschwand aber nicht ganz. Eine Idee nahm Form an in Nats Geist und so beschloss sie, einfach alle Fragmente der unbekannten Art zu testen. Und in der Tat, jedes Mal war ein Klicken und Rumpeln zu vernehmen! Sie drückte weiter und weiter, wurde aufs Neue mit Klicken und Rumpeln belohnt. Und dann, endlich, offenbarte der riesige Steinquader sein Geheimnis!
Erschrocken wich Natalie rasch einige Schritte zurück. Das Rumpeln war stärker geworden und steigerte sich zu einem schabenden Getöse. Auch der Boden vibrierte wieder. Und es hörte nicht auf. Kurz überlegte sie, ob es nicht vielleicht besser wäre abzuhauen, dann ging ein Ruck durch den Altar und ein Spalt wurde sichtbar. Zwei der großen Segmente schienen in die Tiefe abzurutschen, dann blieben sie wieder stehen. Nun schoben sie sich weiter auseinander und vergrößerten den Spalt. Erneut glitten sie donnernd und mahlend auseinander bis sie unter den anderen Steinpaneelen verschwanden und die Sicht freigaben. Auf eine alte Treppe, die nach unten führte…
Keuchend sah Natalie erstaunt zu, wie bei einem unglaublichen Zauberkunststück. Das konnte doch nicht sein! Sie war schon in vielen Ausgrabungsstätten gewesen, hatte so etwas aber noch nie zuvor gesehen. Der Anblick sah völlig surreal aus und mit einem Male kam sich Nat vor wie in einem Indiana Jones Film. Ungläubig starrte sie weiter auf den Altar und seinen geheimen Zugang. Mittlerweile war auch die Geräuschkulisse verschwunden, wie auch die Steintafeln, die den verborgenen Zugang verdeckt hatten. In der plötzlichen Stille klang das Piepsen ihres Handys lauter als ein Pistolenschuss, schallte durch die Tempelkuppel, die die Akustik noch verstärkte und erschrak Natalie erneut. Mit einem spitzen Kreischen sprang sie in die Höhe, bevor sie mit realisierte, dass es nur das Smartphone war… Völlig durcheinander holte sie das Smartphone heraus und stierte auf das Display. Natürlich hatte sie immer noch keinen Empfang und es hatte sie auch niemand angerufen. Das rot blinkende Akkusymbol verkündete ihr, dass das Mobiltelefon dringend aufgeladen werden musste. Tief ein und ausatmend pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, bevor sie kopfschüttelnd das Gerät wieder wegsteckte. Kein Wunder, die vielen Photos und die ständige Suche nach einem Netz, das hier nicht vorhanden war, hatten die Batterie ausgelaugt. Wieder Stille… Vorsichtig trat sie ein, zwei Schritte vor und lugte teils neugierig, teils ängstlich auf die ersten Stufen der Treppe, die sie nun sehen konnte. Wer baut so etwas? Und warum? War das ganze eher eine Art Zugangsraum denn ein Tempel selbst? Was kam dahinter? Bedächtig trat sie noch etwas näher und leuchtete die Steinstufen hinab. Es war kein Ende abzusehen… Nervös dachte sie nach, dann beantwortete sie ihre eigene, unausgesprochene Frage selbst. „Vom hingucken erfährst du gar nichts. Du musst schon selber nachschauen…“ Ihre Worte schalten durch die Kuppel und scheinen ihr wieder etwas von ihrem soeben verlorenen Mut wieder zugeben. Nat holte nochmals tief Luft, dann trat sie auf die erste Treppenstufe und leuchtete wieder abwärts. „Wer nichts wagt, der nicht gewinnt…“ Und sie begann in die erneute Finsternis hinabzusteigen.
Der Abstieg dauerte eine Weile. Einmal, weil Natalie wirklich vorsichtig, Stufe um Stufe ging und dabei alles ableuchtete und untersuchte und zum Zweiten, weil die Treppe auch durchaus Länge hatte. Sie vermutete, dass es sich um etliche Höhenmeter handeln musste. Mindestens 20 oder 30. Vermutlich eher 40. Als sie endlich unten war, stand sie am Anfang eines weiteren Ganges. Achtsam und nichts berührend schlich sich Nat weiter. Wer weiß, was es hier noch für Konstruktionen gibt, erinnerte sie sich an den Steinaltar und seinen Mechanismus. Links und rechts befinden sich wieder Nischen, die allerdings viel kleiner waren und die Überreste von Kerzen und Fackeln enthielten. Das erschien der Abenteurerin durchaus logisch. Wer immer hier unten gewesen war, brauchte ja auch Licht.
Original anzeigen (0,4 MB)Dann mündete der Tunnel in eine Art Empore und gab den Blick frei auf einen weiteren Kuppelraum. Die Ähnlichkeit mit oben war frappierend, auch wenn das unterirdische Gegenstück viel kleiner war. Von der Balustrade führte eine kurze Treppe hinab. Auch hier hatte die runde Wand viele Nischen und Erker, doch waren diese wie bei dem Gang vorher, alten Fackeln und Kerzen vorbehalten. Leise und etwas ehrfürchtig stieg Nat die Stufen hinunter und leuchtete dabei den Raum aus. Auch hier gab es eine Art Altar, auch wenn dieser nicht ganz mittig war. Er schien eher etwas versetzt nach hinten zu sein. Dafür umgab den Boden davor eine Art seltsames Funkeln, wenn das Licht der Lampe darauf fiel. Ansonsten schien der Raum leer zu sein. Neugierig trat Natalie näher, sog jedes Detail, dass der Lichtkegel entblößte, in sich auf und versuchte zu verstehen, was sie hier sah. Sie hatte sich dem kleinen Altar bis auf wenige Meter genähert, als ihr die braunen Linien und Spritzer darauf auffielen, als ob etwas daran herunter geflossen war. Runzelnd schärfte sie ihren Blick. „Blut… Das sieht aus wie… getrocknetes Blut…“ Mit einem Male war ihr ziemlich mulmig zumute, während sie sich hektisch umsah und gleichzeitig zu beruhigen versuchte. „Hier ist nichts… Das muss alt sein. Steinalt. Wer weiß, wie lange hier niemand mehr war…“ Als sie näher kam, fiel ihr erneut das Glitzern auf dem Boden ein. Ja, da war etwas. Es schien ein anderes Material zu sein und irgendein Muster darzustellen. Doch sie konnte es nicht klar erkennen. Wenn sie von einem höheren Punkt schauen konnte… Spontan sah sie zu dem Altar. Ja, der müsste reichen. Ihr Entschluss war gefasst, auch wenn es sie einiges an Überwindung kostete. Die Flecken und Spritzer, von denen es auf dem Steinsockel noch weit mehr gab, schienen wirklich altes, getrocknetes Blut zu sein. Mit einem Schniefen, das sich beinahe etwas wie ein leichtes Würgen anhörte, kletterte sie hoch, darauf bedacht, nicht mit dem braunen etwas in Berührung zu kommen. Geschafft! Dann, als sie sich umdrehte und nach unten sah, durchfuhr sie ein Schock!
Original anzeigen (1,4 MB)Sie hatte alles erwartet, aber nicht das hier. Vor ihr, in den Boden eingelassen, befand sich ein riesiger Steinring. Sie kannte das, hatte es schon einmal gesehen. Es sah genauso aus wie das kreisrunde Artefakt in den Anden. Das Portal, an dem Nathaniel gestorben war.