Gloomy Sunday – oder – Gibt es Selbstmordlieder?
10.11.2005 um 23:39Liebe All Mystery Community.
Im Zusammenhang mit Liedern wie z.B. Gloomy Sunday wird, auch in diesem Forum, immer wieder darüber diskutiert inwieweit melancholische oder traurige Musik generell oder einzelne Lieder im Besonderen suizidauslösend sind oder sein können.
Besonders dem Lied Szomoru Vasarnap des ungarischen Pianisten und Komponisten Rezso Seress, besser bekannt unter dem englischen Titel Gloomy Sunday wird diese Eigenschaft immer wieder zugesprochen.
Im Zusammenhang mit der Entstehung und dem Hören dieses bereits 1933 entstandenen Musikstücks wird immer wieder von Selbstmorden berichtet, wobei die Anzahl zwischen einigen wenigen und einigen hundert Suiziden weltweit variiert. Die Zahl verifizierbarer Aussagen und Quellen dazu ist dabei äußerst limitiert.
Urbane Legenden
Im Zuge meiner intensiven Recherchen zu Gloomy Sunday bin ich zu dem Schluß gekommen, dass dieses Lied zwar im Umfeld einzelner Suizide eine bestimmte und auch beabsichtigte, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die suizidauslösende Rolle gespielt hat.
Alle darüber hinausgehenden und anderslautenden Berichte sind, ebenso wie die nicht hinreichend verifizierbare Aussage, das Lied sei wegen seines suizidfördernden Charakters von der BBC und anderen Sendern gebannt worden, den sogenannten "Urbanen Legenden" zuzuordnen.
Gerade bei Gloomy Sunday verlieren sich aufgrund des erheblichen zeitlichen Abstands zur Entstehung des Liedes und der wenigen verläßlichen Quellen die meisten Spuren im Nebel der Vergangenheit. Dies ist der ideale Nährboden für eine derartige Legendenbildung.
Ich habe die entsprechenden Threads hier im Forum aufmerksam gelesen und habe dabei das gesamte Repertoire an Halb- und Unwahrheiten zu Gloomy Sunday gefunden, dass den Kern dieser "Urban Legend" ausmacht.
An dieser Stelle will ich jedoch nur auf die diesem und anderen Liedern zugeschriebenen Selbstmorde eingehen.
Musik als Hilfsmittel und Medium im suizidalen Umfeld
Generell läßt sich dazu folgendes feststellen:
In Bezug auf jede Art von sogenannten Todesliedern, nicht nur Gloomy Sunday, gibt es bis heute keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse dahngehend, dass je ein solches Lied suizidauslösend war und schon gar nicht allein oder ausschließlich.
Erwiesen ist lediglich, dass immer wieder melancholische Lieder und Texte integraler Bestandteil des Suizidgeschehens waren und sind.
Musik und Schriften dienen dabei vornehmlich fünf Zwecken:
1. als Stimulantia bzw. Emotionsverstärker
2. als Identifikationsmuster
3. als Legitimierungshilfe
4. als Transportmittel/Übertragungsmedium für Emotionen
5. als Ritualisierungsmittel
Stimulantia
Suizidgefährdete im Endstadium befinden sich in einer extremen Negativspirale. Die Wirklichkeitswahrnehmung ist dabei stark getrübt und äußere Einflüsse werden nur gefiltert durchgelassen. Nur noch Dinge die ins Bild des Betroffenen passen werden akzeptiert. Alles was also die ohnehin bestehende Meinung über den Sinn des Lebens bestätigt und mit der eigenen Gefühlswelt korrespondiert wird akzeptiert, alles andere bleibt außen vor.
Da der Suizid als mögliche Lösung erscheint, verändert sich die Gefühlswelt zu einer Mischung aus Endzeitstimmung und Euphorie (Komponenten sind Verzweiflung und Erlösung) nach dem Motto: "Es ist zwar alles nicht zum Aushalten, aber bald habe ich es hinter mir". Dieses Gefühl will gelebt, ja irgendwie sogar genossen und voll ausgekostet werden. Und wenn irgend möglich noch verstärkt werden. Dazu ist alles willkommen, was ebenfalls die beiden Gefühlskomponenten Verzweiflung und Erlösung beinhaltet und dies gilt z.B. für Gloomy Sunday genauso wie für die Leiden des jungen Werther.
Identifikationsmuster
Suizidopfer sind in Ihren letzten Stunden und Tagen oft allein. Gründe dafür sind meist echte Einsamkeit durch Kontaktverlust oder Kontaktscheu und/oder die Flucht in die innere Immigration. Hier trifft man nur sich selbst und Außenstehende werden nur mit hineingenommen, wenn sie als quasi seelenverwandt erkannt und akzeptiert werden, was aber auf Personen der realen Umwelt (jetzt Außenwelt) meistens nicht zutrifft. Gerade mit diesen Personen und deren Lebenseinstellung, die ja lebensbejahend ist, kann sich das Suizidopfer nicht mehr identifizieren.
Also wird zu einem Identifikationsmuster gegriffen, das entweder auf fiktive Personen und Situationen (Beispiel wieder Werther) oder auf real existierende wie bestimmte Musiker oder Autoren zurückgreift, in deren Werken man sich und seine Situation wiederzuerkennen glaubt. Hier ist eine Identifikation nach dem Motto, "der/die ist/war wie ich oder fühlt wie ich" letztlich noch möglich. Die Stärke der Identifikation wird dabei bestimmt vom Grad der Übereinstimmung der (im Lied oder Buch) beschriebenen mit der selbst erlebten Situation. Wenn der Komponist oder Interpret eines unterschwellig oder offen suizidfördernden Liedes selbst später auch den Freitod gewählt hat, ist die Möglichkeit der Identifikation am größten.
[size=3][b]Legitimierungshilfe
Die meisten Suizidopfer wollen für ihr finales Handeln bei der Nachwelt Verständnis wecken. Gerade in der sogenannten Christlich-Westlichen Wertegemeinschaft gilt der Suizid nicht als Lösung einer prekären Situation oder akzeptable Selbstbestimmung über Art und Zeitpunkt und Umstand des Todes, sondern erfährt statt dessen weitestgehend gesellschaftliche Ächtung. Insbesondere in Deutschland, aber auch in den meisten anderen europäischen Ländern, gibt es derzeit z.B. intensivste Diskussionen über die Themen Begleiteter Suizid und Aktive Sterbehilfe, die überwiegend emotional geprägt sind.
Aus Sicht der Suizidopfer ist die vorherrschende gesellschaftliche Meinung zum Suizid kontraproduktiv. Sie wollen Akzeptanz für ihr Handeln und nicht post mortem dafür diskriminiert werden. Sie kennen in der Regel bereits vor dem letzten Schritt die gesellschaftliche Stellung des Suizids sehr genau und haben sich in ihrer Vergangenheit oft selbst damit identifizierten können. Auch ihnen bleibt meist bis zuletzt ein unterschwelliger Restzweifel an der Richtigkeit und Unabdingbarkeit ihres Handelns. Aus diesem Grund ist es für sie regelmäßig wichtig, ihre Entscheidung nicht nur gegenüber der Außenwelt zu legitimieren und dafür Akzeptanz zu finden sondern gerade auch sich selbst gegenüber.
Lieder und Schriften, die entweder den Suizid als akzeptable finale Lösung der Lebenssituation darstellen, diesen heroisieren oder zum Suizid geradezu auffordern, stellen somit für das Suizidopfer eine vermeintlich ideale (Selbst)Legitimierungshilfe dar.
[size=3][b]Transportmittel für Emotionen
Viele Suizidopfer hinterlassen Nachrichten an ihre Hinterbliebenen und ihr persönliches Umfeld. Das sind direkte und offene Botschaften wie z.B. Abschiedbriefe, aber auch unterschwellige oder codierte Botschaften, beispielsweise in Liedern. Gerade letzteren kommt eine besondere Bedeutung zu. Lieder haben die in besonderem Maße die Eigenschaft Emotionen hervorzurufen oder aber Emotionen wiederzugeben, die oft deckungsgleich mit der aktuellen Gefühlslage des Hörers sind. Damit erscheinen sie Suizidopfern oft als ideales Medium für die Übertragung ihrer Emotionen in die postmortale Nachwelt und insbesondere auf ihre Hinterbliebenen.
Wie vorhergehend schon erwähnt, ist es vielen Suizidopfern wichtig, dass die Nachwelt ihren Schritt und die Beweggründe die dazu geführt haben nachvollziehen kann, da dies die Grundvoraussetzung für Verständnis ist. Hat ein solcher Mensch für sich selbst festgestellt, daß ein bestimmtes Lied besonders stark mit seiner Gefühlswelt korrespondiert, weil es bestimmte Gefühle reflektiert oder sogar verstärkt, ist es naheliegend dass ihm dieses Lied auch dazu dienen wird, eben diese Gefühle auf seine Nachwelt zu übertragen. Die unterschwellige Botschaft darin lautet dann: "Hört dieses Lied und ihr wißt, wie ich mich am Schluß gefühlt habe und werdet mich und meinen Schritt besser verstehen."
[size=3][b]Ritualisierungsmittel
Es ist bekannt, daß viele Suizide von Ritualhandlungen begleitet werden. Dabei geht es weniger um eine Ritualisierung der Herbeiführung des Todes, z.B. vor ethnisch-religiösen Hintergründen, z.B. Harakiri, sondern um die Ausgestaltung der letzten Tage und insbesondere Stunden. Davon ausgenommen sind regelmäßig und fast ausschließlich Suizide infolge einer Kurzschlußsituation bzw. Affekthandlung.
Da werden Wohnungen aufgeräumt, Abschiedsbriefe geschrieben, manchmal wichtige Unterlagen für die Hinterbliebenen geordnet und bereitgelegt, Zeitungen abbestellt, ja sogar Tiere vorher in Pflege gegeben, Zimmerpflanzen noch einmal versorgt und der Rasen ein letztes Mal gemäht. Von Menschen, die den Tod durch Ertrinken gewählt haben wird immer wieder berichtet, dass Sie sich vorher entkleideten und ihre Kleidung ordentlich zusammengelegt am Ufer hinterließen. Man hat ja den Zeitpunkt seines Todes selbst gewählt, kann sich entsprechend vorbereiten und wickelt quasi noch sein Leben ab, man will es den Hinterbliebenen ja nicht noch schwerer machen. Dies alles sind Rituale im Vorfeld des Suizids.
Dies trifft besonders häufig bei Suizidopfern ab Mitte Dreißig zu, die entsprechende familiäre Bindungen und Verpflichtungen haben, seltener bei jüngeren Menschen und fast gar nicht bei solchen, die mit ihrem Freitod quasi jemanden bestrafen wollen.
Bei jüngeren Suizidopfern greifen dagegen häufig andere Rituale, bei denen die Ausgestaltung der letzten Stunden im Mittelpunkt steht. Hier spielt auch und gerade Musik eine zentrale Rolle. Weiter oben hatte ich unter dem Stichwort Stimulantia bereits das Ausleben und Auskosten der letzten Tage und Stunden vor dem Hintergrund einer greifbar nahen Erlösung geschildert. Kerzenschein oder gedämpftes Licht gehören oft genauso dazu wie die letzte Flasche Wein oder die letzte Milch mit Honig, das Lesen alter Briefe und natürlich Musik. Musik gehört wahrscheinlich am häufigsten dazu. Und wenn schon Musik, warum dann nicht gleich Gloomy Sunday?
[size=3][b]Fazit
Sowenig davon ausgegangen werden kann, dass Lieder und hier insbesondere Gloomy Sunday suizidauslösend sind, so sicher steht fest, dass Musik sehr häufig integraler Bestandteil von Suizidhandlungen ist. Je ausgeprägter die Depression des Suizidopfers ist, desto stärker ist dann der Drang nach melancholischen Liedern. Ansonsten kann es aber auch jede andere Art von Musik, z.B. die Lieblingsschlager, sein. Von älteren Menschen, die vor dem Hintergrund schwerer Gebrechen und Erkrankungen den Weg des begleiteten Suizids (z.B. in der Schweiz und in Holland) gewählt haben, wird z.B. berichtet, daß sie leise, leichte und einschmeichelnde Klänge bevorzugen.
[size=3][b]Opfer oder Täter?
Einige Leser wird es möglicherweise stören, dass ich bereits im Zusammenhang mit der (auch gedanklichen) Vorbereitung des Suizids den Begriff Suizidopfer verwende. Sie mögen annehmen, dass diese Menschen erst durch den Vollzug des Suizids zum Opfer werden. Ich teile diese Auffassung grundsätzlich nicht. Sie sind vielmehr ab dem Moment in der Opferrolle in dem sie den Gedanken an Selbstmord erstmalig ernsthaft zulassen, werden später aus dieser Rolle heraus zum Täter an sich selbst, bleiben aber stets Opfer. Sie befinden sich im Übrigen nach Vollzug des Suizids damit in einer Opfergemeinschaft mit ihren Hinterbliebenen und ihrem näheren Umfeld.
So liebe Leute, ich hoffe das war Euch nicht zu lang. Wer sich bis hierhin durchgekämpft hat, beweist nicht nur Ausdauer sondern auch ein echtes Interesse an der Thematik.
Michael H.[/size0][/size][/size][/size][/size][/b0][/b][/b][/b][/b]
Im Zusammenhang mit Liedern wie z.B. Gloomy Sunday wird, auch in diesem Forum, immer wieder darüber diskutiert inwieweit melancholische oder traurige Musik generell oder einzelne Lieder im Besonderen suizidauslösend sind oder sein können.
Besonders dem Lied Szomoru Vasarnap des ungarischen Pianisten und Komponisten Rezso Seress, besser bekannt unter dem englischen Titel Gloomy Sunday wird diese Eigenschaft immer wieder zugesprochen.
Im Zusammenhang mit der Entstehung und dem Hören dieses bereits 1933 entstandenen Musikstücks wird immer wieder von Selbstmorden berichtet, wobei die Anzahl zwischen einigen wenigen und einigen hundert Suiziden weltweit variiert. Die Zahl verifizierbarer Aussagen und Quellen dazu ist dabei äußerst limitiert.
Urbane Legenden
Im Zuge meiner intensiven Recherchen zu Gloomy Sunday bin ich zu dem Schluß gekommen, dass dieses Lied zwar im Umfeld einzelner Suizide eine bestimmte und auch beabsichtigte, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die suizidauslösende Rolle gespielt hat.
Alle darüber hinausgehenden und anderslautenden Berichte sind, ebenso wie die nicht hinreichend verifizierbare Aussage, das Lied sei wegen seines suizidfördernden Charakters von der BBC und anderen Sendern gebannt worden, den sogenannten "Urbanen Legenden" zuzuordnen.
Gerade bei Gloomy Sunday verlieren sich aufgrund des erheblichen zeitlichen Abstands zur Entstehung des Liedes und der wenigen verläßlichen Quellen die meisten Spuren im Nebel der Vergangenheit. Dies ist der ideale Nährboden für eine derartige Legendenbildung.
Ich habe die entsprechenden Threads hier im Forum aufmerksam gelesen und habe dabei das gesamte Repertoire an Halb- und Unwahrheiten zu Gloomy Sunday gefunden, dass den Kern dieser "Urban Legend" ausmacht.
An dieser Stelle will ich jedoch nur auf die diesem und anderen Liedern zugeschriebenen Selbstmorde eingehen.
Musik als Hilfsmittel und Medium im suizidalen Umfeld
Generell läßt sich dazu folgendes feststellen:
In Bezug auf jede Art von sogenannten Todesliedern, nicht nur Gloomy Sunday, gibt es bis heute keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse dahngehend, dass je ein solches Lied suizidauslösend war und schon gar nicht allein oder ausschließlich.
Erwiesen ist lediglich, dass immer wieder melancholische Lieder und Texte integraler Bestandteil des Suizidgeschehens waren und sind.
Musik und Schriften dienen dabei vornehmlich fünf Zwecken:
1. als Stimulantia bzw. Emotionsverstärker
2. als Identifikationsmuster
3. als Legitimierungshilfe
4. als Transportmittel/Übertragungsmedium für Emotionen
5. als Ritualisierungsmittel
Stimulantia
Suizidgefährdete im Endstadium befinden sich in einer extremen Negativspirale. Die Wirklichkeitswahrnehmung ist dabei stark getrübt und äußere Einflüsse werden nur gefiltert durchgelassen. Nur noch Dinge die ins Bild des Betroffenen passen werden akzeptiert. Alles was also die ohnehin bestehende Meinung über den Sinn des Lebens bestätigt und mit der eigenen Gefühlswelt korrespondiert wird akzeptiert, alles andere bleibt außen vor.
Da der Suizid als mögliche Lösung erscheint, verändert sich die Gefühlswelt zu einer Mischung aus Endzeitstimmung und Euphorie (Komponenten sind Verzweiflung und Erlösung) nach dem Motto: "Es ist zwar alles nicht zum Aushalten, aber bald habe ich es hinter mir". Dieses Gefühl will gelebt, ja irgendwie sogar genossen und voll ausgekostet werden. Und wenn irgend möglich noch verstärkt werden. Dazu ist alles willkommen, was ebenfalls die beiden Gefühlskomponenten Verzweiflung und Erlösung beinhaltet und dies gilt z.B. für Gloomy Sunday genauso wie für die Leiden des jungen Werther.
Identifikationsmuster
Suizidopfer sind in Ihren letzten Stunden und Tagen oft allein. Gründe dafür sind meist echte Einsamkeit durch Kontaktverlust oder Kontaktscheu und/oder die Flucht in die innere Immigration. Hier trifft man nur sich selbst und Außenstehende werden nur mit hineingenommen, wenn sie als quasi seelenverwandt erkannt und akzeptiert werden, was aber auf Personen der realen Umwelt (jetzt Außenwelt) meistens nicht zutrifft. Gerade mit diesen Personen und deren Lebenseinstellung, die ja lebensbejahend ist, kann sich das Suizidopfer nicht mehr identifizieren.
Also wird zu einem Identifikationsmuster gegriffen, das entweder auf fiktive Personen und Situationen (Beispiel wieder Werther) oder auf real existierende wie bestimmte Musiker oder Autoren zurückgreift, in deren Werken man sich und seine Situation wiederzuerkennen glaubt. Hier ist eine Identifikation nach dem Motto, "der/die ist/war wie ich oder fühlt wie ich" letztlich noch möglich. Die Stärke der Identifikation wird dabei bestimmt vom Grad der Übereinstimmung der (im Lied oder Buch) beschriebenen mit der selbst erlebten Situation. Wenn der Komponist oder Interpret eines unterschwellig oder offen suizidfördernden Liedes selbst später auch den Freitod gewählt hat, ist die Möglichkeit der Identifikation am größten.
[size=3][b]Legitimierungshilfe
Die meisten Suizidopfer wollen für ihr finales Handeln bei der Nachwelt Verständnis wecken. Gerade in der sogenannten Christlich-Westlichen Wertegemeinschaft gilt der Suizid nicht als Lösung einer prekären Situation oder akzeptable Selbstbestimmung über Art und Zeitpunkt und Umstand des Todes, sondern erfährt statt dessen weitestgehend gesellschaftliche Ächtung. Insbesondere in Deutschland, aber auch in den meisten anderen europäischen Ländern, gibt es derzeit z.B. intensivste Diskussionen über die Themen Begleiteter Suizid und Aktive Sterbehilfe, die überwiegend emotional geprägt sind.
Aus Sicht der Suizidopfer ist die vorherrschende gesellschaftliche Meinung zum Suizid kontraproduktiv. Sie wollen Akzeptanz für ihr Handeln und nicht post mortem dafür diskriminiert werden. Sie kennen in der Regel bereits vor dem letzten Schritt die gesellschaftliche Stellung des Suizids sehr genau und haben sich in ihrer Vergangenheit oft selbst damit identifizierten können. Auch ihnen bleibt meist bis zuletzt ein unterschwelliger Restzweifel an der Richtigkeit und Unabdingbarkeit ihres Handelns. Aus diesem Grund ist es für sie regelmäßig wichtig, ihre Entscheidung nicht nur gegenüber der Außenwelt zu legitimieren und dafür Akzeptanz zu finden sondern gerade auch sich selbst gegenüber.
Lieder und Schriften, die entweder den Suizid als akzeptable finale Lösung der Lebenssituation darstellen, diesen heroisieren oder zum Suizid geradezu auffordern, stellen somit für das Suizidopfer eine vermeintlich ideale (Selbst)Legitimierungshilfe dar.
[size=3][b]Transportmittel für Emotionen
Viele Suizidopfer hinterlassen Nachrichten an ihre Hinterbliebenen und ihr persönliches Umfeld. Das sind direkte und offene Botschaften wie z.B. Abschiedbriefe, aber auch unterschwellige oder codierte Botschaften, beispielsweise in Liedern. Gerade letzteren kommt eine besondere Bedeutung zu. Lieder haben die in besonderem Maße die Eigenschaft Emotionen hervorzurufen oder aber Emotionen wiederzugeben, die oft deckungsgleich mit der aktuellen Gefühlslage des Hörers sind. Damit erscheinen sie Suizidopfern oft als ideales Medium für die Übertragung ihrer Emotionen in die postmortale Nachwelt und insbesondere auf ihre Hinterbliebenen.
Wie vorhergehend schon erwähnt, ist es vielen Suizidopfern wichtig, dass die Nachwelt ihren Schritt und die Beweggründe die dazu geführt haben nachvollziehen kann, da dies die Grundvoraussetzung für Verständnis ist. Hat ein solcher Mensch für sich selbst festgestellt, daß ein bestimmtes Lied besonders stark mit seiner Gefühlswelt korrespondiert, weil es bestimmte Gefühle reflektiert oder sogar verstärkt, ist es naheliegend dass ihm dieses Lied auch dazu dienen wird, eben diese Gefühle auf seine Nachwelt zu übertragen. Die unterschwellige Botschaft darin lautet dann: "Hört dieses Lied und ihr wißt, wie ich mich am Schluß gefühlt habe und werdet mich und meinen Schritt besser verstehen."
[size=3][b]Ritualisierungsmittel
Es ist bekannt, daß viele Suizide von Ritualhandlungen begleitet werden. Dabei geht es weniger um eine Ritualisierung der Herbeiführung des Todes, z.B. vor ethnisch-religiösen Hintergründen, z.B. Harakiri, sondern um die Ausgestaltung der letzten Tage und insbesondere Stunden. Davon ausgenommen sind regelmäßig und fast ausschließlich Suizide infolge einer Kurzschlußsituation bzw. Affekthandlung.
Da werden Wohnungen aufgeräumt, Abschiedsbriefe geschrieben, manchmal wichtige Unterlagen für die Hinterbliebenen geordnet und bereitgelegt, Zeitungen abbestellt, ja sogar Tiere vorher in Pflege gegeben, Zimmerpflanzen noch einmal versorgt und der Rasen ein letztes Mal gemäht. Von Menschen, die den Tod durch Ertrinken gewählt haben wird immer wieder berichtet, dass Sie sich vorher entkleideten und ihre Kleidung ordentlich zusammengelegt am Ufer hinterließen. Man hat ja den Zeitpunkt seines Todes selbst gewählt, kann sich entsprechend vorbereiten und wickelt quasi noch sein Leben ab, man will es den Hinterbliebenen ja nicht noch schwerer machen. Dies alles sind Rituale im Vorfeld des Suizids.
Dies trifft besonders häufig bei Suizidopfern ab Mitte Dreißig zu, die entsprechende familiäre Bindungen und Verpflichtungen haben, seltener bei jüngeren Menschen und fast gar nicht bei solchen, die mit ihrem Freitod quasi jemanden bestrafen wollen.
Bei jüngeren Suizidopfern greifen dagegen häufig andere Rituale, bei denen die Ausgestaltung der letzten Stunden im Mittelpunkt steht. Hier spielt auch und gerade Musik eine zentrale Rolle. Weiter oben hatte ich unter dem Stichwort Stimulantia bereits das Ausleben und Auskosten der letzten Tage und Stunden vor dem Hintergrund einer greifbar nahen Erlösung geschildert. Kerzenschein oder gedämpftes Licht gehören oft genauso dazu wie die letzte Flasche Wein oder die letzte Milch mit Honig, das Lesen alter Briefe und natürlich Musik. Musik gehört wahrscheinlich am häufigsten dazu. Und wenn schon Musik, warum dann nicht gleich Gloomy Sunday?
[size=3][b]Fazit
Sowenig davon ausgegangen werden kann, dass Lieder und hier insbesondere Gloomy Sunday suizidauslösend sind, so sicher steht fest, dass Musik sehr häufig integraler Bestandteil von Suizidhandlungen ist. Je ausgeprägter die Depression des Suizidopfers ist, desto stärker ist dann der Drang nach melancholischen Liedern. Ansonsten kann es aber auch jede andere Art von Musik, z.B. die Lieblingsschlager, sein. Von älteren Menschen, die vor dem Hintergrund schwerer Gebrechen und Erkrankungen den Weg des begleiteten Suizids (z.B. in der Schweiz und in Holland) gewählt haben, wird z.B. berichtet, daß sie leise, leichte und einschmeichelnde Klänge bevorzugen.
[size=3][b]Opfer oder Täter?
Einige Leser wird es möglicherweise stören, dass ich bereits im Zusammenhang mit der (auch gedanklichen) Vorbereitung des Suizids den Begriff Suizidopfer verwende. Sie mögen annehmen, dass diese Menschen erst durch den Vollzug des Suizids zum Opfer werden. Ich teile diese Auffassung grundsätzlich nicht. Sie sind vielmehr ab dem Moment in der Opferrolle in dem sie den Gedanken an Selbstmord erstmalig ernsthaft zulassen, werden später aus dieser Rolle heraus zum Täter an sich selbst, bleiben aber stets Opfer. Sie befinden sich im Übrigen nach Vollzug des Suizids damit in einer Opfergemeinschaft mit ihren Hinterbliebenen und ihrem näheren Umfeld.
So liebe Leute, ich hoffe das war Euch nicht zu lang. Wer sich bis hierhin durchgekämpft hat, beweist nicht nur Ausdauer sondern auch ein echtes Interesse an der Thematik.
Michael H.[/size0][/size][/size][/size][/size][/b0][/b][/b][/b][/b]