DerKlassiker schrieb:es ist halt nicht geklärt, wann Homo floresiensis ausstarb und wissenschaftliche Erkenntnisse haben bekanntlich eine noch deutlich kürzere Halbwertszeit als Mythen und Sagen, wie z. B. der erst vor kurzem erfolgte Fund eines angeblich 300.000 Jahre alten Fossils des Homo sapiens in Marokko (!) nahelegt.
Natürlich ist es unsicher, die Lebensspanne einer Spezies anhand ihres ältesten und ihres jüngsten Fossils zu bestimmen. Jeder neue FUnd könnte die so gesetzten Grenzen wieder verschieben. Immerhin, je mehr Funde es aus den unterschiedlichsten Zeiten es gibt, desto sicherer wird auch die damit gesetzte zeitliche Abgrenzung. Für den Hobbit freilich haben wir noch deutlich zu wenig Fossilien, um über deren statistische Streuung über die Zeitleiste die zeitliche Abgrenzung für sicher halten zu können. Dennoch haben wir nur diese Fossilien und können andere Aussagen eben nicht treffen.
Und das ist der Punkt. Auch wenn wir uns nicht sicher sein können, ob das veranschlagte Aussterbedatum des Floresiensis vor 60...50.000 Jahren richtig ist, können wir derzeit keine These auf einem deutlich späteren Aussterben aufbauen.
Was den 300...340.000 jahre alten Fund aus Marokko betrifft, so wird die SPezies Homo sapiens über ihren anatomisch modernen Phänotypus definiert. Alle heutigen nichtkrankhaften Merkmalsschwankungen (abzüglich der Gaußschen Hutkrempe) gelten als normales Variationsspektrum unserer Art. Fossilien, deren Merkmale in dieses Spektrum passen, gelten als "anatomisch modern" und damit als Fossilien des Homo sapiens.
Die Debatte um die marokkanischen Funde spielt sich dagegen auf einer anderen Ebene ab. Der rekonstruierte Schädel hat zwar zahlreiche Merkmale des anatomisch modernen Menschen, doch besitzt er ebenso mehrere Merkmale, die außerhalb des menschlichen Variationenspektrums liegen. Das Kinn fehlt, dafür ragen Kiefer und Gebiß über die Gesichtsregion hinaus, bilden also eine Schnauze. Die Stirn sit fliehend, die Überaugenwülste sind zu stark, der Schädel ist länglich und verjüngt sich, bevor er zum Gesichtsschädel kommt (eine deutliche Eindellung an der Schläfenregion zwischen Schädel und Überaugenwulst). Schließlich ist der Schädel längs gekielt, hat also in Vorderansicht eine Art "Giebeldach"-Form.
Wer die marokkanischen Funde zu Homo sapiens schlägt, der definiert unsere Spezies um. Wer die alte Definition beibehält, kann die marokkanischen Funde nicht dem Sapiens zurechnen.
Spätestens seit Aufkommen der Out-of-Africa-Debatte hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die afrikanischen Funde des Erectus-Typs ab spätestens 600.000 BC, vielleicht schon ab 750.000 Jahren allmählich und kontinuierlich eine Veränderung hin zur Sapiens-Anatomie durchmachen. So lückenhaft die Funde auch sind, reichen sie dennoch aus, um quasi als Daumenkino die Umwandlung vom Erectus zum Sapiens deutlich aufzuzeigen. Dieser Übergang findet seinen anatomischen Abschluß beim 195.000 jahre alten Schädel Omo 1. Diese Übergangserscheinungen kannte man früher schon teilweise, und man sprach vom "späten Erectus", vom Präsapiens, vom archaischen Homo sapiens (jeweils nur für Teilbereiche der gesamten Übergangszeit).
Seit der Out-of-Africa-Debatte sprach man insgesamt von der Spezies Homo heidelbergensis. Dessen einheitliches Merkmal ist nun aber keine feststehende Anatomie, sondern ein Merkmalsmix aus Sapiens und Erectus, wobei jüngere mehr dem Sapiens ähneln, ältere mehr dem Erectus. Ein gut 300.000 Jahre alter Heidelbergensis, wie würde der wohl aussehen? Angesichts der zeitlichen Einordnung sollten die Sapiensmerkmale die Erectusmerkmale deutlich überwiegen. Im Grunde genommen wären die marokkanischen Funde der ideale Anwärter darauf, einen späten Heidelbergensis nach bisheriger Artdefinition abzugeben. Und - o Wunder! - sie passen nicht nur anatomisch, sondern auch zeitlich wie die Faust aufs Auge der Vorhersage nach der bisherigen Definition.
Die marokkanischen Funde haben also nicht die Spur einer nötigen Neudatierung erbracht. Die einzige Diskussion, die sie veranlassen können, ist, ob wir unsere Speziesdefinition ändern sollten. Aber die anatomische Umbildung selbst, die spielt sich völlig korrekt im "Zeitplan" des bisherigen Fossilbefundes ab. Omo 1 bleibt weiterhin der erste anatomisch moderne Sapiens.
DerKlassiker schrieb:Zudem sollte man auch die Überlieferungen der lokalen Bevölkerung ernst nehmen und nicht von vornherein als Hirngespinst abtun, auch wenn diese nicht immer eindeutig in ein westlich geprägtes Konzept von Wissenschaftlichkeit gepresst werden können.
Das ist jetzt aber nichtssagend. Ernstnehmen heißt bei Dir historisch nehmen, und unhistorisch meint für Dich Hirngespinst. Mit solchem Schwarzweißdenken erleidest Du notwendig Schiffbruch. Schon in der fünften Klasse hab ich im Literaturunterricht gelernt, daß es mehr als nur zwei literarische Gattungen gibt, mehr als nur "Wahrheit und Lüge", "Chronik und Märchen". Fabeln, Legenden, Sagen, Novellen, Romane, Mythen usw. usf. sie haben alle ihre Berechtigung, und ihr Wahrheitsgehalt liegt auf verschiedensten Ebenen. Auch Ebu-Gogo-Erzählungen haben ihren Sitz im Leben der Menschen von Flores. Und niemand tut das ab, gar als Hirngespinst, nur weil er sie nicht für historische Erinnerungen an Kleinwüchsige hält. Du diffamierst, statt zu argumentieren.
Daß und wieso kulturelles Gedächtnis selbst bei sehr festen Gedächtnisinhalten wie der Sprache schwerlich Rückschlüsse für einen Zeitraum von mehr als 10.000 Jahre erlaubt, habe ich aufzuzeigen versucht. Hast Du das entkräftet? Oder hast Du wenigstens Argumente gebracht gegen meine Darlegung, daß die Halbwertszeit von mündlich tradierten Erinnerungen in dem Maß ihres fehlenden Gegenwartsbezuges immer kürzer wird? Nein, hast Du nicht. Du setzt Dich einfach nur über meine Darlegungen hinweg, ignorierst meine Argumente, statt diese gelten zu lassen oder zu entkräften. Das ist keine Diskussion über Pro und Contra, das ist ein fixes Beharren auf einem Standpunkt gegen alle berechtigten Einwände.
DerKlassiker schrieb:Was ist, wenn ein Forscher in 20, 30 oder 50 Jahren in der Erde von Flores buddelt und Überreste von deutlich jüngeren Homo floresiensis entdeckt oder eine Datierungsmethode neueren Erkenntnissen angepasst werden muss und auf einmal ganz andere Ergebnisse offeriert?
Reden wir, wenn es so weit ist. Womöglich ja nie. Bis dahin besagt Deine Frage schlicht gar nichts.
DerKlassiker schrieb:meine Skepsis bezieht sich lediglich auf die Haltbarkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, dazu gibt es schließlich auch genügend Gründe, da hier ganz offensichtlich eben nichts in Stein gemeißelt ist.
Fossilien sind nämlich Fakten, echte Fakten. Die Interpretation, daß mit diesen Fakten der Existenzzeitraum abgesteckt werden kann, die ist in der Tat nicht faktisch, sondern theoretisch. Wie im Wissenschaftsbetrieb generell üblich, wo Erkenntnis über Theorien gewonnen wird. Ein neuer Hobbitfund außerhalb des bisherigen Zeitfensters ist nur ein neuer Fakt, die Datierung mithilfe dieses Faktes bleibt ebenfalls berechtigt. Je mehr solcher Fakten auftauchen, desto genauer läßt sich nämlich auch verifizieren, daß diese Interpretation gute Ergebnisse zeitigt. Wie gesagt, die marokkanischen Funde bestätigen dieses Vorgehen, sie widersprechen ihm nicht. Sie passen völlig in die Voraussage der Schädelanatomie für ihre Zeit.
Deine Skepsis beruht also nicht darauf, daß Wissenschaft sich in ihrer Bestimmung eines Spezies-Zeitfensters mithilfe von Fossilfunden irrt. Du hoffst da nur auf weitere Fakten, weitere Fossilfunde. Seien es nun jüngere FLoresiensis-Fossilien oder ältere Fossilien des Sapiens.
Sollten sich dagegen die Methoden verfeinern bzw. sollten neue, bessere Datierungsmethoden hinzukommen, wodurch die Altersbestimmung der Fossilien nach oben oder unten korrigiert werden müssen, so gilt das für Hobbit und Sapiens gleichermaßen. So lange zwischen denen eine Lücke besteht, kann diese Lücke zwar durch Neudatierung verschoben, jedoch nicht abgeschafft werden.
DerKlassiker schrieb:Das ist es ohne Frage, da eben gar keine eindeutige Faktenlage hierüber besteht.
Und wieder so ein Schwarz-Weiß-Denken. Entweder zu 100% bewiesen oder total offen. Nee, so läufts nicht. Die gefundenen Fossilien sind Fakten, ihre Interpretation ist immerhin gut verifiziert. Daß neue Fakten zeitliche Veränderungen bringen können, ist so richtig wie spekulativ, solange keine entsprechenden Fakten auftauchen. Und was zehntausend Jahre alte Erinnerungen betrifft, so liegen ebenfalls zahlreiche Fakten vor, die dagegen sprechen.
Das heißt nicht, daß es keine so alten Erinnerungselemente geben könne. Immerhin versucht Wissenschaft auch weiterhin, Superfamilien und deren Vokabular zu ermitteln, ja sogar bis hin zur "Ursprache, für die sogar schon eine Handvoll Vokabeln vorgeschlagen wurde (am bekanntesten ist "tik"). Doch je weiter man sich in solche Gefilde vorwagt, desto mehr und desto bessere Gründe muß man schon dafür haben. Tatsächlich versuchen Wissenschaftsrichtungen wie die Geomythenforschung, in Überlieferungen auch zehtausendjährige Erinnerung aufzuspüren. Allerdings mit wenig Erfolg und vielen Spekulationen. Das für mich noch ansprechendste war ein Artikel letztes Jahr in der "Spektrum der Wissenschaft" über die Erstellung eines Mythenstammbaumes für weltweit auftretende Mythen mithilfe der Bestimmung genetischer Distanzen. Freilich wurden die Wanderungsbewegungen der einzelnen Mythenverzweigungen mitnichten so durchsichtig, wie es die Forscher gerne gehabt hätten, und die Erklärbarkeit nicht annähernd so gut wie mit bisherigen Methoden, die ohne paläolithische Ursprünge dieser Mythen auskommen.
Es bleibt dabei. Wenn die Lücke zwischen Hobbit und Sapiens nicht gefüllt werden kann, wenn kein mindestens zehntausendjähriges kulturelles Gedächtniselement aufgezeigt wird - und zwar nicht als große Ausnahme - und wenn nicht gezeigt wird, daß auch Erinnerungen ohne großen Gegenwartsbezug so alt sein können... Dann hat sich eine Verbindung zwischen dem Ebu Gogo und dem Homo floresiensis erledigt. Als ernstzunehmende These jedenfalls. Spekulieren kann man schließlich über alles.
DerKlassiker schrieb:Unsere europäischen Zwerge sind ja möglicherweise auch nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern könnten im Zusammenhang mit mittelalterlichen Bergbauaktivitäten stehen, bei denen aufgrund der begrenzten Platzverhältnisse in den Minen zumeist kleinwüchsige Arbeiter eingesetzt wurden; damit würde sich auch der Bezug zwischen Zwergen und Edelsteinen und Schätzen erklären, der in den Sagen immer wieder vorkommt.
Dumm nur, daß das Wort für Zwerg älter ist. Wenn, dann hat sich also das Zwergenbild im Mittelalter verändert. Was nur nochmals zeigt, daß wir eine heutige Überlieferung bzw. Zwergenvorstellung nicht mal eben so einfach in die Vergangenheit zurückprojizieren können.