Interreligiosität als Schicksal und eigene Wahl
05.12.2004 um 14:20Ich habe im Internet dieses Hochinteressante essay gefunden, was meint ihr dazu, ich weiß es ist lang, lohn sich aber, finde ich!
Das Leiden am Christentum
Wie kommen Menschen überhaupt dazu, interreligiös zu glauben? Die Umkehrung dieser Frage wäre für einen im fernöstlichen Kontext aufgewachsenen Menschen vermutlich ebenso legitim: Wie kommen Menschen überhaupt dazu, sich streng dogmatisch an eine einzige Religion zu halten? Viele Menschen in Asien leben ganz selbstverständlich synkretistisch, das heißt: sie beziehen Elemente aus verschiedenen religiösen Systemen (beispielsweise dem Buddhismus, dem Taoismus und dem Christentum) in ihre eigene religiöse Praxis ein. Und auch wenn die christlichen Kirchen es nicht gerne hören (die katholische toleriert es seit langem, die evangelikalen bekämpfen es): in Lateinamerika leben viele, vor allem indigene Gläubige mit einer Mischung aus christlichen Glaubensinhalten und vorchristlichen Bräuchen, Kulten und zu Heiligen umfunktionierten Göttern. Dennoch zeigt der Vergleich zwischen solchen Kulturen, die vom Christentum religiös dominiert werden, und jenen asiatischen Kulturen, in denen dies nicht der Fall ist, einen wesentlichen Unterschied: Das Christentum versucht seine eigenen Glaubensinhalte trotz teilweise geduldeter (nicht erwünschter!) Unterschiede in der Form der Glaubensausübung stets gegenüber anderen Religionen durchzusetzen. Es hat einen Alleinvertretungsanspruch der Wahrheit. Es gibt keine wahre Religion neben dem Christentum.
Das Judentum, die Mutter des Christentums, ist zwar nicht missionarisch, sondern exklusiv (im Allgemeinen gehört nur der dazu, dessen Mutter desselben Glaubens ist), aber es vertritt um nichts weniger diesen alleinigen Heilsanspruch. Und der Islam, ein weiterer Spross desselben Stammes des Monotheismus , hat zwar ursprünglich seine Wurzeln in der jüdischen-christlichen Tradition anerkannt und die beiden anderen levantinischen Religionen als zwar überholte, aber doch den selben Gott verehrende Brüder akzeptiert, von dieser respektvollen Toleranz gegenüber den anderen monotheistischen Ansätzen ist jedoch bei manchen Vertretern eines radikalen Islam nichts mehr zu spüren. Darüber hinaus wird auch der Islam wie Judentum und Christentum einen nicht-monotheistischen Ansatz nicht als wahre Religion akzeptieren können. Die großen fernöstlichen religiösen Systeme (Buddhismus, Hinduismus, Taoismus) hingegen wussten stets: es gibt viele Wege zum einen Ziel und jeder ist - mehr oder weniger - akzeptabel. Dieser Unterschied ist wesentlich für die Bedingungen, unter denen Menschen in unserer Zeit im Westen - in Europa und den beiden Amerikas - als Glaubende leben.
Die vom Christentum geprägten, nach religiöser Wahrheit suchenden Menschen dieses Kulturraums (und die Amerikas bilden mit Europa historisch und mehr noch aktuell einen Makro-Kulturraum) wachsen mit der Doktrin des Christentums, Judentums oder auch des Islams auf, dass es nur eine wahre Religion geben kann. Aber zugleich stellen sie zunehmend enttäuschter fest, dass diese wahre Religion sich nicht in den Sonntagspredigten ihrer Priester und Pastoren (oder der Synagogenvorsteher und Imame) finden lässt. Sie spüren die Anziehungskraft der spirituellen Philosophien aus dem Osten nicht ohne Grund.
Krieg als religiöse Tradition
Woher stammt der Alleinvertretungsanspruch für die Wahrheit in den monotheistischen Religionen? Joseph Campbell, der wohl bedeutendste Mythologe des 20. Jahrhunderts, schreibt in seinem Werk "Lebendiger Mythos" (1985, 87): "In der Levante wird nämlich der Gehorsam betont, der Gehorsam des Menschen gegenüber dem Willen Gottes, wie launenhaft dieser auch sein mag. Hierbei ist der Leitgedanke, dass Gott eine Offenbarung gegeben hat, aufgezeichnet in einem Buch, das die Menschen zu lesen und zu verehren haben, nie zu kritisieren wagen dürfen, sondern das sie annehmen und dem sie gehorchen müssen. Wer dieses heilige Buch nicht kennt oder es gar von sich weist, ist aus der Nähe des Schöpfers verbannt. Viele große und kleine Völker, ja ganze Kontinente sind somit in Wirklichkeit gottlos". Das Prinzip, das dahinter steckt, hat mit einem Gott, der die ganze Welt geschaffen und alle Menschen als seine Geschöpfe betrachtet, nichts mehr zu tun. Wahre Religion ist dieser Meinung zufolge exklusiv nur für diejenigen reserviert, die ein Buch als die Quelle der Wahrheit akzeptieren, für dessen besonderen Anspruch es aber keine plausiblen Argumente gibt. Wenn heute auch das Gros der Theologen zugibt, dass die Bibel kein von Gott selbst verfasstes oder auch nur diktiertes Buch ist, sondern ein von Menschen, die glaubten, geschriebenes, so stellt sich die Frage, was dieses Buch zu einem so besonderen Dokument macht, dass nicht andere (aus anderen Kulturen oder heute geschriebene) Glaubenzeugnisse ihm gleichkommen könnten. Den Anspruch, eine ganz und gar einmalige Heilige Schrift in der Bibel vorzufinden, nehmen immer weniger Menschen unserer Zeit den Theologen ab.
Aber das ist nicht alles, was den damit verbundenen Anspruch so fragwürdig macht. Aus jeder Seite des Alten Testaments, heilige Schrift und Grundlage aller drei monotheistischen Religionen, tropft das Blut zahlreicher Völker. Campbell meint dazu, "dass wir auf eine der brutalsten Kriegsmythologien aller Zeiten getrimmt wurden" (189). Das Christentum, so könnte man mit Campbell sagen, entstammt einem Kulturraum (der Levante), in dem es hauptsächlich um eine Sache ging: Krieg eines Volkes gegen das andere, das heißt: ständige Abgrenzung des eigenen Territoriums gegen Invasoren, Abgrenzung der eigenen Kultur als einheitsstiftendes Element gegen Einflüsse von außerhalb und Abgrenzung des eigenen Gottes gegenüber als ebenso mächtig vorgestellten (auch bei den frühen Hebräern!) Göttern anderer Völker.
Das Resultat dieser Abgrenzungsbemühungen war ein Anspruch, alleiniger Schatzhüter der religiösen Wahrheit zu sein. Was den Krieg betrifft, so bekommen wir dieselbe Haltung auch heutzutage noch sehr plastisch vor Augen geführt, wenn die eine auf exklusive Wahrheit hin angelegte Kultur die andere mit genau diesem Anspruch zu bekämpfen beginnt und dabei auch noch meint, ein gutes Werk zu tun... Und die Aggression sogenannter "christlicher" Politiker wie (sogenannter) islamischer Terroristen ist ein völlig folgerichtiges Resultat ihrer religiösen Wurzeln: "Bei unserem Überblick über die Kriegsmythologien haben wir sowohl in der Thora als auch im Koran die Überzeugung angetroffen, dass Gott, der Schöpfer und alleinige Regent des Weltalls, absolut und immer auf der Seite einer bestimmten auserwählten Gemeinschaft stünde und dass folglich seine Kriege Heilige Kriege seien, die in seinem Namen und nach seinem Willen geführt würden" schreibt Campbell (212).
Diese Folgen einer religiös vermittelten Kriegskultur, die wir alle im Westen teilen, werden noch deutlicher, wenn wir uns anhören, was der große vietnamesische Zen -Meister Thich Nhat Hanh über Präsident Georg Bush (Senior!) schreibt (nebenbei wird auch deutlich, wie sehr der Sohn sich hier nacheifernd um die Anerkennung des Vaters zu bemühen scheint): "Unmittelbar nachdem Präsident Bush im Februar 1991 den Angriff gegen den Irak angeordnet hatte, sprach er zum amerikanischen Volk und sagte: ‚Egal was Sie in diesem Augenblick tun, bitte halten Sie inne und beten Sie für unsere Soldaten im Golf. Gott segne die Vereinigten Staaten von Amerika'. Ich vermute, dass im selben Augenblick viele Muslime ebenso zu ihrem Gott beteten, um den Irak und die irakischen Soldaten zu beschützen. Wie aber kann Gott wissen, welche Religion er unterstützen soll?" (Thich Nhat Hanh: Liebe handelt. 1993, 83).
Der Exklusivitätsanspruch der monotheistischen Religionen erwuchs aus dem Bedürfnis der Völker der Levante, sich gegenüber den zahlreichen verfeindeten Nachbarn abzugrenzen - was nur Erfolg versprach, wenn der jeweilige Gott sowohl gegenüber dem eigenen Volk wie gegebenenfalls auch gegenüber anderen Völkern erfolgreich als der mächtigste und somit einzig wahre dargestellt werden konnte. Die Saat von Hass und Konflikt, von Rechthaberei bis zum Mord um der eigenen Überzeugung willen, war ausgebracht und trägt bis heute Früchte. Die Reihe ihrer Opfer in früheren Jahrhunderten (Massaker bei Kreuzzügen, Hexenverbrennung, Judenpogrome, Vernichtung ganzer Indianervölker mit Kreuz und Schwert, Versklavung "unzivilisierter" Nationen in Afrika, Ketzerverfolgung im Mittelalter und der dreißigjährige Krieg, um nur einige zu nennen) wird durch die Opfer der religiös motivierten Kriege im 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt. All dies ist weder die "Schuld" einer einzelnen Religion noch ist es Folge einer Conditio humana, das heißt: es müsse so sein, weil der Mensch so gestrickt ist. Der Mensch ist mit dem Gen der Aggression ausgestattet. Aber der Mensch ist auch ein Kulturwesen, wie führende Anthropologen wissen (vergleiche dazu die berühmten Anthropologen Plessner oder Gehlen). Er ist dazu in der Lage seine Aggression unheilvoll oder heilsam einzusetzen. Aber wie er sie einsetzt, ist keine Frage der Gene, sondern eine Folge der Anleitung und Erziehung, die er im Umgang mit seinen Gefühlen erfährt. Krieg ist eine Folge des Willens zum Krieg bei einer Mehrheit von Menschen eines Volkes, nicht ein Produkt unkontrollierbarer Triebe. Und dieser Wille ist (bei einer so großen Zahl von Individuen, wie sie für einen Krieg erforderlich ist) nicht von der Erziehung einer einzelnen Mutter oder eines einzelnen Vaters abhängig, sondern von den Auswirkungen einer die meisten Individuen einer Kultur erfassenden Tradition wie der christlich-abendländischen, der jüdischen oder der islamischen. Es ist das folgerichtige Produkt einer Tradition, die von den kriegerischen Völkern des Nahen Ostens der Antike bis zu uns reicht. Einer wahrlich unheilvollen Tradition.
Christliche Doktrinen
Campbell schreibt: "Wir im Westen haben unserem Gott einen Namen gegeben oder vielmehr, wir haben den Namen der Gottheit einem Buch aus einer Zeit und von einem Ort entnommen, die nicht die unseren sind. Und man hat uns gelehrt, nicht nur an die absolute Existenz dieser metaphysischen Fiktion zu glauben, sondern auch an ihre Bedeutung für die Gestaltung unseres Lebens" (106). Dieses Buch ist auch in anderer Hinsicht fragwürdig als nur im Hinblick auf die Auswirkungen der monotheistischen Schwarz-Weiß-Malerei. Der Kampf des Guten gegen das Böse, der moralische Anspruch, das Gute zu vertreten und das Böse zu kennen, sind nicht nur Folgen des Monotheismus, sondern finden sich bereits auf den ersten Seiten der Bibel im Buch Genesis. Bei Buddhisten und Hindus stößt man zuweilen auf eine gewisse Skepsis gegenüber einer Religion, die einen Gott anbetet, der seine geliebten Kinder in die ewige Verbannung stößt, weil sie ihm einen Apfel geklaut haben, ihnen jedoch alles wieder vergibt, als sie seinen Sohn ans Kreuz nageln. Auf christlicher Seite gibt es einen Wasserkopf an Theologie zur Erklärung solcher Glaubensaussagen für diejenigen, die ihnen ihre angebliche Tiefgründigkeit nicht spontan ansehen, eine Fülle an über zwanzig Jahrhunderte hinweg immer spitzfindiger werdenden Formen der Apologetik, der Verteidigung des Glaubens gegenüber den gottlosen Kritikern, für die diese grotesken oder haarsträubenden Aussagen der Heiligen Schrift nichts anderes als Unverständnis oder Kopfschütteln hervorrufen. Das vernünftigste Argument gegen solche Kritik scheint wohl noch das von der symbolischen Bedeutung der biblischen Aussagen zu sein. Demnach symbolisiert das Essen des Apfels in Genesis den primordialen Sündenfall, die ursprüngliche Ursache der Trennung zwischen Mensch und Gott. Demnach ist es zunächst der Teufel und nicht Gott, der die Initiative zur Trennung ergriff. Der erste dieser Gedanken - Mensch und Gott sind grundsätzlich getrennt voneinander - ist zunächst einmal eine Grundbedingung jeder religiösen Bemühung. In allen Religionen wird ja angenommen, dass die Welt, die wir normalerweise erleben, einer anderen Sphäre gegenübersteht und beide somit nicht miteinander identisch sind. Wie weit diese Trennung geht - ob sie eine grundsätzlich unüberwindbare ist, eine, die von der Initiative des Menschen überwunden werden kann oder eine, die nur scheinbar besteht, in Wirklichkeit aber nicht, ist eine Frage der bevorzugten Akzentsetzung und darin unterscheiden sich die einzelnen Religionen gewaltig.
Der Philosoph Leibniz, nach dessen damit befasster Schrift man diese Problematik auch als Theodizee-Problem bezeichnet, fand drei verschiedene Formen des Übels: ein physisches (z. B. Krankheit), ein metaphysisches (z. B. die Frage, warum die Welt nicht einfach perfekt sein kann) und ein soziales (die Boshaftigkeit anderer). Und er kam zum Schluss, dass die Welt mit all diesen Übeln leben müsse, weil eine andere Konstruktion der Welt zu keinen besseren Ergebnissen geführt hätte (z. B. müsste Gott dann die Willensfreiheit einschränken). Aber bis heute ist nicht klar, ob damit das Problem gelöst ist. Wieso beispielsweise besitzt ein absolut guter und allmächtiger Gott nicht die Macht, eine absolut gute Welt zu schaffen. Und wenn er diese Macht besitzt und es nicht tut, kann man ihn dann wirklich noch gut nennen?
Die zweite zentrale Mythologie des Christentums, die anfangs angesprochen wurde, bezieht sich auf den Glauben an die Heilsbotschaft des Kreuzestodes und der anschließenden Auferstehung Christi. Entstanden in einer Zeit, in der jeder Bewohner des Mittelmeerraums sich unter einem religiösen Opfer noch etwas ganz Konkretes vorstellen konnte, ist dieser Opfertod für uns heute zu einem geradezu makabren Symbol geworden. Wo liegt das Heil verborgen in einem solchen archaischen Ritual der Sohnesopferung? Abgesehen davon, dass die Welt nach dem Tod Christi offenbar nicht besser geworden ist (die Urchristen lebten teilweise noch mit der enthusiastischen Hoffnung, die Verwandlung der Welt in Gottes Reich noch miterleben zu können), ist das Symbolische an diesem grausamen Tod für uns nicht gerade vertrauenerweckend. Der strenge Gott braucht offenbar einen grausam gefolterten und getöteten Gottmenschen um versöhnt zu werden. Das klingt stark nach dem anthropomorphen, rachsüchtigen Gott des Alten Testaments, den das Christentum doch hinter sich zu lassen versprach. Die modernen Theologen versuchen verständlicherweise diesen Kreuzestod als Handlung der Liebe auszulegen (Gott selbst gibt sich uns hin) oder als Solidaritätsbeweis (Gott macht sich dem leidenden Geschöpf gleich). Dennoch bleibt fraglich, wieso die Hingabe Gottes etwas so masochistisch Selbstzerstörerisches an sich haben und wieso Gott sich überhaupt auf die menschliche Sphäre hinab begeben muss? Fühlt er denn nicht in jedem Moment mit, was eines seiner geringsten Geschöpfe fühlt. Damit nicht genug: die Lehrbücher der Theologie sind voll von derart raffinierten Ausdeutungen, dass der Verstand kapitulieren muss und deshalb alles für bare Münze hält (so er denn glaubt). Wenn da von einer "radikalen Umgestaltung der Menschheit" durch das Heilsgeschehen der Auferstehung die Rede ist (Herders Theologisches Taschenlexikon) oder davon, dass Jesus als der neue Adam den Sündenfall revidiere, so muss man sich zwangsläufig fragen, ob die Indoktrination junger Theologiestudenten so weit gehen kann, dass sie derartig bedeutungsleere Parolen unkritisch übernehmen oder woran es liegt, dass christliche Gläubige in aller Welt daran glauben, durch die Auferstehung des Jesus von Nazareth gerettet worden zu sein, ohne dass irgendeiner Dir genauer erklären kann, worin diese Rettung denn nun eigentlich bestand.
Ein weiteres, mit dem eben gesagten untrennbar verbundenes Dogma, das dem heutigen Glaubenden fremd geworden sein kann, betrifft die alte Lehre von der Gottessohnschaft des Jesus von Nazareth und der Dreifaltigkeit. Demnach sei Jesus der Sohn Gottes. Zugleich sei er selbst Gott. Und schließlich sei er auch Mensch. Alle diese Aussagen beziehen sich aufeinander, untrennbar ist die Auffassung von der Dreifaltigkeit Gottes mit der Frage nach der wahren Natur des Jesus von Nazareth verknüpft.
Im Jahre 381 beschlossen die versammelten Kirchenführer in Konstantinopel, Gott-Vater, Jesus von Nazareth und der Heilige Geist seien zwar drei verschiedene Personen, aber alle drei seien von gleicher Natur. In ihrem Wesen unterscheiden sie sich nicht voneinander. Damit wollte man zugleich den Monotheismus, den Glauben an den einen einzigen Gott bewahren (der nie ernsthaft in Frage gestellt worden war) und andererseits Jesus als Menschen von Gott-Vater als transzendentem Wesen abheben. Dies war notwendig geworden, weil sich um die Natur Jesu verschiedene Auffassungen ergeben hatten. Die Konzilien der damaligen Zeit nun legten fest: weder sei Jesus ein besonderes, aber von Gott verschiedenes Geschöpf, wie es die Anhänger des Arius lehrten, noch sei er einfach Gott, der nur eine menschliche Scheingestalt angenommen habe, wie es der sogenannte Doketismus lehrte.
Gott und Mensch zugleich, unverbunden und ungetrennt seien beide Naturen, wie es das große, frühe Konzil von Chalkedon im Jahre 451 formulierte. Und zusammen mit dem heiligen Geist bilden Jesus und Gottvater eine Dreiheit, wobei alle drei aber selbst wiederum nicht als getrennte Wesen, sondern nur als drei Formen des einen und einzigen Gottes aufzufassen sind, drei Aspekte oder drei Personen, die jede für sich aber auch alle zusammen einen einzigen Gott bilden. Diese schwierige Lehre setzte sich damals gegen andere Ansätze als offizielle Richtlinie für (fast) alle christlichen Gläubigen bis heute durch. Während es in früheren Jahrhunderten noch vielfältige Theorien gegeben hatte, um die Natur des Jesus von Nazareth zu erklären, so waren sie nun alle nacheinander ausgemerzt worden, um die Einheit der Religion zu bewahren. Der Glaube, dass Jesus ein Mensch war, der von Gott als Sohn angenommen worden sei (Adoptianismus) oder andere Ansätze, die in Jesus einen Menschen sahen, waren zu diesem Zeitpunkt schon längst als Irrlehre in die Annalen der Geschichte verbannt. Unter anderem erging es so auch jenen sogenannten gnostischen Überlieferungen, die Jesus in einem gänzlich anderen Licht sahen als die offizielle Kirche (beispielsweise als Verkünder einer esoterischen Lehre zur spirituellen Selbstbefreiung), und die erst durch die Papyrusfunde von Nag Hammadi 1945 überhaupt wieder ans Tageslicht traten.
Ob diese dogmatischen Festlegungen jedoch wirklich dem Glauben dienlich waren oder ob sie nicht vor allem politischen Interessen entsprachen, ist umstritten. Als ziemlich gesichertes Faktum kann gelten, dass die Politik einige Male eine entscheidende Rolle bei der Definition des Glaubens spielte. Als im Jahre 325 in Nikaia zum ersten Mal in der Geschichte ein Konzil von Kirchenführern zusammentrat, um über Fragen eines gemeinsamen Glaubens zu beraten und damit die Weichen für die spätere Entwicklung der oben angesprochenen Glaubensfragen gestellt wurden, war es kein Mehrheitsbeschluss der versammelten Bischöfe, sondern eine Anweisung des römischen Kaisers Konstantin, die dazu führte, dass Jesus und Gott-Vater für wesensidentisch erklärt wurden. Konstantin fürchtete, dass Streitigkeiten innerhalb der immer stärker werdenden christlichen Kirche die Einheit seines Reiches zerstören könnten, und so bestand er auf der ihm angenehmsten theologischen Lösung: der Erklärung der Wesensgleichheit zwischen Gott und Jesus.
Aber auch ohne die politische Dimension einzubeziehen: Wenn man die komplizierten Gedankenspiele der Theologie berücksichtigt, wonach Jesus nur dann die Menschen durch Tod und Auferstehung retten konnte, wenn er einerseits wirklich Mensch geworden ist und andererseits wirklich Gott war (sonst funktioniert beispielsweise die Konstruktion nicht, in Jesus habe Gott menschliches Leiden hautnah gespürt und persönlich auf sich genommen), dann versteht man, warum diese frühen Konzilsbeschlüsse so ausfallen mussten. Die ganze christliche Theologie besteht aus solchen intellektuellen Salti nach dem Motto: das muss eben so sein, denn wenn es anders wäre, was würde dann aus dem, woran wir glauben? Ja, was wäre dann? Dann müsste man einsehen, dass Religion mit intellektuellen Gespinsten, die nur die brillantesten Köpfe begreifen, nicht viel zu tun hat. Dann würde man bemerken, dass ein solch verwinkelt begründeter Glaube nur durch die Verknüpfung mit Machtstrukturen Jahrhunderte lang aufrechterhalten bleiben konnte, wie schon die Geschichte des ersten Konzils der Christenheit zeigt. Heutige spirituell Suchende wollen sich nicht länger knebeln lassen von unverständlichen Gedankengebäuden. Wie viel einfacher wäre es da, wenn man als Christ bekennen dürfte, dass man Jesus für eine herausragende Persönlichkeit, einen Menschen von ungeheurer Leuchtkraft, einen Heiligen, einen der Gott kennen gelernt hat, einen Erleuchteten hält. Aber das darf man erst, wenn man hinzufügt: und auch für Gott selbst (und zwar exklusiv und geschichtlich einmalig!).
Christliche Praxis heute
Über die katastrophalen Formen christlicher Praxis durch die Jahrhunderte hindurch bis heute belehren einen beispielsweise die gut recherchierten Bücher von Karl-Heinz Deschner. Was darin zusammengetragen wurde, muss hier nicht wiederholt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: das Christentum hat wohl ebenso viel Unheil in den Herzen der Gläubigen gesät wie -zugegebenermaßen - Heil. Dabei sind die traurigen Fälle, in denen katholische Priester nicht mit dem Zölibat umzugehen wissen und deshalb entweder Kinder zeugen, die sie verleugnen müssen, oder Kinder zu sexuellen Handlungen heranziehen, eher ein Beleg dafür, dass christliche "Seelsorge" nicht nur bei den Gläubigen, sondern gerade auch bei den Seelsorgen selbst nicht immer das probate Mittel bereithält. Christliche Seelsorge ist ein ausgesprochen dilettantisches Geschäft. Sie hält weder den Maßstäben der modernen psychologischen Beratung noch denen der spirituellen Führung stand, wie die fernöstlichen Religionen sie praktizieren. Das hat letztlich theologische und weit in die Vergangenheit zurückliegende Wurzeln: das Christentum ist, wie das Judentum und der Islam, eine Gesetzesreligion mit einem Gott, der bestimmt, was der Mensch darf und was nicht. Wer sich nicht an Regeln hält, die oftmals so eindeutig menschlicher Herkunft sind, dass man sie nur noch belächeln mag, ist von Gott verdammt oder theologisch korrekter gesprochen: hat sich aus Gottes Nähe entfernt. Eine solche Gesetzesreligion wird sich nicht bemühen, Menschen zum persönlichen Glück zu führen, sondern zur Erfüllung der Gesetze und Pflichten, die sie für unumstößlich hält. Eine echte Sorge um die irdische Seele fand also erst relativ spät Eingang in das Tätigkeitsfeld der christlichen Prediger.
Zum anderen lehnt das Christentum die Eigeninitiative auf dem Weg zum Heil auf weiten Strecken ab. Zwar soll sich der Gläubige um Gottes Gunst bemühen, wie der Sohn oder die Ehefrau in einer patriarchalischen Gesellschaft die Gunst des Vaters oder Gatten notwendig zum gesellschaftlichen Dasein benötigte, er soll sich aber nicht vermessen, ihm ähnlich werden zu wollen. Zwar darf er Jesus und den Heiligen in puncto Pflichterfüllung nacheifern, er soll es aber bitte schön unterlassen, so unbescheiden zu sein und selbst explizit nach Heiligkeit zu streben. Und letztlich ist ohnehin alles von Gott gegeben, ob gut oder böse. Daraus ergibt sich ein mangelndes Interesse an der Entwicklung spiritueller Technologie. Damit meine ich Techniken und Methoden, die ein Ziel der seelischen oder geistigen Höherentwicklung erreichbarer machen. Derartige Techniken fristen im christlichen Kontext ein jämmerliches Mauerblümchendasein als Ausnahmerscheinungen (z. B. die Exerzitien des Ignatius von Loyola). In der Regel verbietet es das Primat der Heilstätigkeit Gottes (also die Vorstellung, dass Gott den Menschen rettet oder gerettet hat und nicht der Mensch sich selbst), dass der Christ etwas wie eine "Technik" anwendet, um ein besserer Mensch zu werden. Dies fällt besonders auf, wenn Erwartungen von der Form "Du solltest etwas mehr Nächstenliebe praktizieren" oder "als Christ sollte man..." an Gläubige von anderen Gläubigen herangetragen werden und dann niemand dem Gemaßregelten sagen kann, wie er denn vielleicht Nächstenliebe erlernen kann oder wie man ein guter Christ wird. Der Herr wird's schon geben, ist manchmal ein bisschen zu wenig Hilfe auf einem schwierigen Weg. Provozierend gesagt: in den Augen der christlichen Theologen sollen ihre Gläubigen zwar gute Menschen sein, aber wie sie das schaffen können, bleibt ihnen selbst überlassen. Oder noch provozierender gesagt: wenn du nicht bist, wie Gott dich haben möchte, hast du eben Pech gehabt. Die fernöstlichen Religionen hingegen sind teilweise wahre Schatzkammern in praktischer und ethisch wertvoller Psychologie.
Zudem war das ganze christliche Mittelalter von dem Gedanken geprägt, es gäbe keinen Fortschritt mehr, da alles Wesentliche schon gedacht worden sei: das Weltliche von den griechischen Philosophen, das Überweltliche stand ja bereits in der Bibel - und diese war selbst wiederum Maßstab für das, was man an weltlichem Wissen akzeptieren konnte. Es erschienen dem mittelalterlichen Menschen überhaupt keine lohnenswerten neuen Erkenntnisse mehr möglich (ein für uns offenbarer Irrtum, der nebenbei bemerkt zeigt, dass man dem geistigen Trend seiner eigenen Zeit gegenüber nicht kritisch genug sein kann). Diese mittelalterliche Erstarrung, dieser Glaube an die Statik des Alls und die fix-und-fertige Konstruktion des Menschen haben lange nachgewirkt und - wie die Leibfeindlichkeit des Christentums - eher religionshistorische als gute theologische Gründe. Auch heute gibt es fundamental-christliche Gruppen, die dem Menschen an sich, der Menscheit in phylogenetischer Hinsicht, eine Entwicklung im Sinne der heutigen Evolutionstheorie absprechen wollen, weil sie diese mit der kreatürlichen Schöpfung im Widerspruch sehen. Dass auch Entwicklungspotential eine offenkundig heilbringende Anlage des Menschen (und damit zumindest gottgewollt) sein kann, übersehen sie.
Auch auf der Ebene des Individuums ist ein solches Denken leider noch weiter verbreitet als anzunehmen wäre: Noch immer wird von der sündhaften Natur des Menschen und Gottes alleiniger Gnade, diese zu überwinden, gepredigt, so als ob Entwicklung nicht eine permanente menschliche Grundeigenschaft wäre, die notwendigerweise einsetzt, wann immer irgendein Ziel zu erreichen ist, das nicht nur eine Veränderung der Umweltbedingungen, sondern auch meiner selbst vorausetzt - also jedes Lernen. Und damit kann auch "Sündhaftigkeit" und "Heiligkeit" gelernt und verlernt werden. Wie sollte es auch anders sein! Was wir sind ist kein statisch-unveränderbares Produkt von Genen oder göttlicher Schöpfung. Das lehrt auch die Anthropologie: Menschen werden so unfertig geboren, dass man sie in der Anthropologie als Frühgeburt bezeichnet hat: der Mensch kommt im Vergleich mit anderen Tieren so unfertig zur Welt, dass er dazu gezwungen ist, viel mehr in seinem "extrauterinen Erstjahr" (Portmann) zu lernen, als jedes andere Tier. Das macht seine Stärke als lern- und anpassungsfähiges Wesen gegenüber allen anderen Tieren aus. Offenbar scheinen aber viele christliche Gläubige noch immer zu glauben, der Mensch werde als Heilige oder Sünderin geschaffen und geboren, so als trage er keine Entwicklungspotentiale in sich, die ihn erst zum einen oder anderen machen können.
Nicht nur bei der Formung der eigenen Persönlichkeit, der "Seelsorge" im weltlichen Sinne, sondern auch bei der Entwicklung spiritueller Qualitäten wirkt sich diese christliche Tradition der Verleugnung menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten hinderlich aus: Wo findet der spirituell Suchende all die Informationen über die Höherentwicklung seines Bewusstseins hin zur Annäherung an Gott, letztlich auch zum Aufgehen in Gott, die das offizielle Christentum immerhin doch für möglich hält. Auch hier wieder: die Unio mystica - die Verschmelzung mit Gott - ist eine Wirkung von Gottes Gnade und nicht der menschlichen Bemühungen. Deshalb findet der Suchende schwerlich explizite bewusstseins-technische Anleitungen in der christlichen Literatur verschiedener Jahrhunderte. Die wenigen Zeugnisse christlicher Mystiker (von Augustinus über Meister Eckhart und Theresa von Avila bis zu Mystikern unserer Tage), die an uns überliefert sind, wurden lange Zeit fast geheimgehalten, jedenfalls nicht auf den Kanzeln behandelt und wenige davon sind als praktizierbare Anleitungen zu einer ausgereiften spirituellen Praxis zu verstehen (wenn es auch Ausnehmen geben mag).
All dies hat gute Gründe, die in der schon oben besprochenen Verquickung von Kirche und Macht zu suchen sind. Die christliche Kirche war von Anfang an und zumindest bis zur Reformation eine Priesterkirche. Im Mittelalter wurden Laien, die eine Bibel besaßen, zuweilen wegen Ketzerei verbrannt. Es gab keinen Glauben außerhalb des von den Priestern vermittelten Glaubens (nulla salus extra ecclesiam), es gab kaum eine Möglichkeit sich Gott anzunähern außer durch die Vermittlung des Priesters, der mit dem alleinigen Recht, Sakramente zu spenden, die angeblich den Heiligen Geist aus der göttlichen in die hiesige Sphäre vermittelnde Macht besaß. Sollte man eine solche exklusive und angenehme Position einfach preisgeben? Es war sicherlich eines der wesentlichen Verdienste Luthers, dass er die freie Zugänglichkeit der religiösen Überlieferung ermöglichte, indem er die Bibel in die Landessprache übersetzte und die Liturgie der Messe dem Verständnis der Gläubigen zugänglich machte. Dass dabei wirkmächtige, irrationale Symbole der alten Kirche ihre Kraft verloren, war ein bedauerlicher Nebeneffekt, der heute die gesamte europäische und nordamerikanische Kirchenlandschaft in Mitleidenschaft gezogen hat. Jedenfalls hat sich die Kirche bis zu Luther sehr bemüht gezeigt, die Gläubigen nicht zu Partnern Gottes werden zu lassen, sondern sie als blökende Schafe in der Herde mit zu führen. Wenn wundert es da, wenn das offizielle Christentum so gut wie keine eigenen Mittel des spirituellen Wachstums mehr kennt.
Das Leiden am fremden Glauben
Wer tief genug in der westlichen Kultur verwurzelt ist, um einmal die Vorstellungen des Christentums von einem persönlichen Gott und Jesus als seinem wesensgleichen Sohn in sich aufgenommen zu haben - unabhängig davon, ob er sich zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens als gläubig bezeichnet hat oder nicht - tut sich zunächst schwer mit dem, woran der Ferne Osten glaubt. Da gibt es mehrere Götter, wie im Hinduismus (die allerdings auch nur Aspekte des einen alles umfassenden Brahman sind). Oder es gibt statt eines Gottes nur ein sehr abstraktes Weltenprinzip wie im Taoismus.
Noch schwieriger wird die Sache beim Buddhismus, der sogar dieses Grundprinzip noch hinter sich lässt und nur einigen die Wirklichkeit konstituierenden Prinzipien so etwas wie letzte Realität zubilligt (Unbeständigkeit, Nichtexistenz eines Selbst und damit zusammenhängend die Leerheit aller Dinge sowie Nirvana in der traditionellen Auflistung; man könnte noch das Gesetz von Ursache und Wirkung = Karma hinzufügen). Nach hinduistischer Auffassung wäre es zutreffend davon zu sprechen, dass man sein wahres, göttliches Wesen (Atman) entdecken solle, was westlichen Vorstellungen durchaus nahe kommt. Nach buddhistischer Auffassung wäre eine solche Aussage in der Vorstellungswelt des gewöhnlichen Alltagsmenschen stecken geblieben. Der Buddhist wäre allenfalls zufrieden, wenn er von sich behaupten könnte, die Sicht auf sich als eines eigenen Wesens ganz überwunden zu haben. Und damit tun sich westlich zivilisierte Menschen schwer. Kein Gott - kein wahres Wesen; so könnte man einen buddhistischen Slogan formulieren. Dennoch ist gerade der Buddhismus mit seinen vielfältigen Formen einer höchst differenzierten spirituellen Praxis, mit seinem ethischen Anspruch (der deutlicher als im Hinduismus hervorscheint) und vor allem mit seiner praktischen und in die Lebenswirklichkeit heutiger okzidentaler Menschen übertragbaren Anleitung zum Glücklichsein eine willkommene Bereicherung der letzten Jahrzehnte.
Freilich gibt es zahlreiche Angebote, die einen Buddhismus in light-Version anbieten, der die Klippen des eigentlichen fernöstlichen Systems gekonnt umschifft und nur das nach Nordamerika oder Europa importiert, was für hiesige kulturelle Dispositionen leicht genug verdaulich ist. Doch glücklicherweise gibt es auch genügend europäische, amerikanische und asiatische buddhistische Lehrer im Westen, die einen authentischen und genuinen Buddhismus lehren. Und wer sich mit diesem nicht nur vertraut, sondern sich ihn auch zueigen machen möchte, der stößt sogleich auf eine der oben bereits angesprochen Hürden.
Kann man sich Religion ohne Gott vorstellen?
Das kommt darauf an, was man unter Religion und was man unter Gott versteht. Das Wort Religion stammt vom lateinischen religio, das seinerseits vermutlich eine Ableitung von religare = anbinden ist. Religion ist die Anbindung an etwas. An ein unverständliches, weil transzendentes Etwas kann man sich nicht binden. Religion bezieht sich zwar auf Transzendentes, bedarf aber immer der Vermittlung durch Vorstellbares (je nach der individuellen Stufe der geistigen Entwicklung). Bindung ist nur möglich gegenüber etwas oder jemandem, dasoder der mir irgendwie verständlich ist. Einerseits also ist Religion nicht möglich gegenüber einem Abstraktum wie "Nirvana". Andererseits möchte ich den Begriff Religion aber in einem weiteren, zweigeteilten Sinn auffassen: als persönliche und als unpersönliche Religion. Bindung kann nämlich zweierlei bedeuten: es kann sich um eine emotionale Bindung handeln oder um eine abstrakte, an eine (vorstellbare) Idee oder Überzeugung. Im Fall der emotionalen Bindung funktioniert diese natürlich nur gegenüber einem persönlichen oder zumindest als Person vorgestellten Gegenüber. Im Falle der Bindung an eine Idee hingegen muss ich die Idee verstehen können, sie muss mir angenehm sein und ich muss sie in mein Selbstbild integrieren können. Dann kann ich auch von religiöser Bindung an einen eher abstrakten Gednkaen sprechen. Somit setzt Religion voraus, dass etwas da ist, an das ich mich binden kann, etwas das ich verstehen kann, aber nicht, dass es sich um eine Person handelt. Es gibt keine Religion, die nicht eines von beidem vorgibt. In allen mir bekannten Religionen handelt es sich entweder um ein oder um mehrere nicht-physische Personen oder aber (wie im Buddhismus und Taoismus) um abstrakte, aber verständliche Ideen. Diese werden dann häufig noch durch Personen versinnbildlicht, so dass die einfacherer Bindung an eine Person auch hier möglich wird. Beide Formen von Religion mögen sich ganz wesentlich unterscheiden, sie haben aber gemeinsam, dass sich ein Mensch an etwas bindet und zwar aus ganzem Herzen, an etwas, das er verstehen und erfassen kann.
Der Unterschied zwischen der Religion die einen persönlichen Gott (oder mehrere Götter) enthält und einer solchen, bei der dies nicht der Fall ist, liegt lediglich im Niveau der angezielten Abstraktion. Das Christentum hört unter dieser Perspektive an einem Punkt mit dem Nachdenken auf, an dem der Buddhismus erst anfängt. Auch der Buddhismus kennt Götter und Gottheiten sowie diesen noch übergeordnete Wesen, nämlich Buddhas. Aber erstere stehen, verglichen mit dem Christentum, eher im Rang von Engeln, während die Buddhas Aspekte der letzten Wirklichkeit sind und somit den Personen des dreifaltigen Gottes durchaus ähneln. Obwohl der Vergleich gewagt erscheint, gibt es doch auch im Buddhismus eine Dreiteilung des Buddhas, die vielleicht sogar noch mehr Parallelen zur Dreifaltigkeit aufweist, nämlich die Unterscheidung in einen Wahrheitskörper (dharmakaya), den ganz im absoluten Existierenden, einen Freudenkörper (samboghakaya), der zwischen beiden vermittelt wie der Heilige Geist und einen Ausstrahlungskörper (nirmanakaya), der menschliche Gestalt besitzen kann wie Jesus. Viele Theologen und buddhistische Gelehrte wehren sich gegen solche gewagten Vergleiche. Mir gefallen sie. Um ehrlich zu sein: ich halte die Diskussion, ob man den christlichen Gott und den Buddha miteinander vergleichen darf, für ziemlich spitzfindig. Es ist insbesondere dann recht spitzfindig, wenn wir uns klar machen, dass wir über eine Wirklichkeit reden, die kein gewöhnlicher Mensch aus eigener Anschauung kennt, und die so grundlegend anders ist von dem, was dieser gewöhnliche Mensch kennt, dass es selbst für höchstgradig Erleuchtete schwer zu sein scheint, irgendetwas Verständliches darüber auszusagen. Deshalb erscheint es mir legitim, Parallelen festzustellen, wo sie erkennbar sind (ohne dass sie in historischem Zusammenhang zu stehen brauchen, denn hier geht es - meine ich - um archetypische Erfahrungen, die überall auf der Welt auftauchen). Zugleich dürfen die Unterschiede nicht unter den Tisch gekehrt werden. Denn neben manchen Parallelen ist der Buddha niemals allmächtig und niemals absolut autonom wie Gott (er gilt sogar als Projektion des Geistes), der Buddha selbst ist nur relative Wirklichkeit, also bedingt durch Bewusstsein, er ist die letzte Wirklichkeit, aber nicht die letzte Ursache von allem, wie der christliche Gott es sein soll. Festzuhalten bleibt somit zugleich ein wesentlicher Unterschied: Buddhas sind nicht allmächtig - und damit umgeht der Buddhismus das oben aufgezeigte grundsätzliche Dilemma, das dann entsteht, wenn man einen Gott für allmächtig und zugleich absolut gut hält.
Stellen wir uns nun einmal folgendes vor: Jemand kniet mit gefalteten Händen vor einem Altar und betet zu dem höchsten Wesen, das er sich vorstellen kann - und er kann es sich recht plastisch vorstellen. Er bittet dieses Wesen um Hilfe bei seinem spirituellen Fortkommen. Und schließlich weiß er, dass das Wesen ihn den weiteren Tag über begleiten wird. Eine Religion, die dieses persönliche Verhältnis ausschlösse, wäre vermutlich zum Scheitern verurteilt. Ich bin mir sicher, dass ein Großteil der Buddhisten zu allen Zeiten immer wieder so gebetet hat, obwohl es nicht das ist, worauf der Großteil der buddhistischen Schulen ihren Schwerpunkt legt. Und doch ist das Wesen, zu dem der buddhistische Praktizierende beten kann, dem Westler ziemlich fremd. Ob die tibetische Tara oder der japanische (eigentlich universell-buddhistische) Amida, mit keinem kann sich der im Westen Aufgewachsene so leicht anfreunden. Es bleibt ihm also nur der Rückgriff auf Glaubensvorstellung aus seiner eigenen Kultur. Und da findet er dann ein fertiges Gottesbild vor - ein Bild, das Gott plastisch machen soll: Jesus von Nazareth (denn Gott-Vater bleibt gesichtslos). Dieser Jesus aber ist als historischer Mensch verknüpft mit einer merkwürdigen Geschichte von Kreuzigung und Kirche, die unser hypothetischer Sucher ja hinter sich zu lassen gedachte. Ein Dilemma entsteht, das schwer zu lösen scheint: entweder er wird Buddhist und ersetzt, zum Beispiel, Amida durch Jesus oder aber er muss zu einem Wesen Zuflucht nehmen, das er noch weniger kennt als den Gott seiner Herkunftskultur.
Da bleibt nur noch der Ausweg des Verzichts auf eine persönliche Gottesbeziehung. Da Gott anerkanntermaßen auch im Christentum der ganz Andere ist, kennt unser Westler eigentlich den Gedanken schon, den er in allen drei großen fernöstlichen Systemen wiederfindet: Gott als abstraktes Prinzip anzusehen, das - anders als im Westen - die spirituelle Praxis unmittelbar und unabdingbar einschließt. Ohne Meditation und kontemplatives Nachdenken kein spiritueller Fortschritt, ohne spirituellen Fortschritt keine Religion (denn Religion in diesem Sinne ist nichts anderes als spirituelle Erkenntnisfähigkeit zu erwerben)! Eine solche Religion ohne die kulturelle Einbettung, die sie traditionellerweise natürlich hatte, verkommt leicht zur Psychotechnik um der eigenen Selbstverwirklichung willen, ohne das eigentliche spirituelle Prinzip dahinter noch zu beherzigen. Also sind Gemeinschaften nötig, die einen vor dem Ego-Trip bewahren. Wo aber soll der Mensch in Europa oder Amerika, der nicht gerade in einer Megalopolis lebt, eine seriöse Gemeinschaft buddhistischer oder hinduistischer Praktizierender finden, die auch noch seinen menschlichen Ansprüchen genügt?
Wo bleibt die Liebe?
Ein wesentliches Prinzip des Christentums ist die Liebe Gottes zum Menschen. Dieser soll der Mensch nachfolgen, indem er seinerseits wiederum seinen Nächsten liebt wie sich selbst. Der mystische Sufismus stellt die Liebe zu Gott in den Mittelpunkt seines Bemühens. Im Hinduismus gibt es die Bhakti-Praxis, die etwas ähnliches, die hingebungsvolle Liebe zum Göttlichen, fordert. Im Buddhismus und Taoismus scheint die Liebe hingegen etwas kurz gekommen zu sein. Im Buddhismus spricht man hier vorrangig von Mitgefühl (karuna), während Liebe (maitri) im Kanon buddhistischer Tugenden zwar vorkommt (eine der vier Brahmaviharas), jedoch keinen besonderen Stellenwert einnimmt.
Zudem lassen sich weder aus dem Bhakti-Yoga, dem buddhistischen Maitri oder dem sufistischen Prinzip der Gottesliebe klare Schlussfolgerungen für das Ableiten, was im Christentum praktische Nächstenliebe heißt. Zwar gibt es einen sozial engagierten Buddhismus, dessen historisch bedeutsamste Organisation die Mahabodhi Society in Indien darstellt und dessen aktuell herausragendster Fürsprecher wohl Thich Nhat Hanh in Frankreich ist. Aber keiner hat wohl jemals davon gehört, dass dieses soziale Engagement die Ausmaße der christlichen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht hat. Dabei ist der Buddhismus nicht gleichgültig gegenüber dem Leiden der Menschen und Tiere. Er hält es lediglich für völlig überflüssig, es durch praktische Maßnahmen zu lindern, die ohnehin nur kurzfristige Wirkungen erzielen. Dagegen scheint engagierten Buddhisten und Christen jede Form der Linderung von Leiden - praktische Hilfe und spirituelle Wegweisung - angebracht zu sein, wenn man wirklich vom Leiden anderer Wesen betroffen ist. Der Mangel an klaren Aussagen und Strukturen in diesem Bereich führt dazu, dass engagierte Menschen im Westen sich oft von einem eher auf das Individuum bezogenen Ansatz wie dem buddhistischen (oder hinduistischen) abgestoßen fühlen. Sicherlich ist auch der Satz richtig, dass die Veränderung zum Guten immer bei einem selbst beginnen sollte und man niemandem wirklich helfen kann, solange man selbst der Hilfe bedarf. Andererseits sollte auch ein Buddhist erkennen, dass die praktische Nächstenliebe zu einer positiven Veränderung des eigenen Selbst dient, wie es das Christentum lehrt. Auch dafür steht Jesus von Nazareth - und der Verlust des Bezugs zu ihm als Mittelpunkt eines religiösen Glaubens bedeutet den Verlust eines Vorbilds in kämpferischer, engagierter Nächstenliebe. Das andererseits macht Jesus auch für manchen kritischen oder ehemaligen Christen zu einem "transzendenten Freund", den man nicht leichtfertig aufgibt.
Ein anderer Aspekt betrifft die Liebe zu Gott, die sich ein Buddhist nur dann vorstellen kann, wenn er sich noch auf der Stufe der Religiosität aufhält, wo persönliche Beziehungen zu höheren Wesen sinnvoll sind. Das ist beispielweise im Amida-Kult in Japan der Fall. Da aber gerade das Gefühl des Ergriffenseins durch Liebe enorme Energien freisetzt, die spirituell nutzbar sind, vermisst der gläubige Christ, der solches einmal erfahren hat und sich dann dem Buddhismus, vielleicht gar dem strengen Zen zuwendet, schnell das Feuer, das ihn in seinem Glauben überhaupt erst bestärkt und angetrieben hat. Ohne dieses Feuer der Motivation aber ist auch die spirituelle Praxis bald eine unangenehme Pflichtübung. Der Buddhismus kann von den erwähnten Religionen lernen, die Leidenschaft göttlicher Liebe als spirituelles Wirkprinzip zu integrieren. Ohne dies ist er für viele Menschen sicherlich schnell fade und unattraktiv.
Interreligiosität als Alternative
Religiöser Pluralismus
Im ersten Teil kam bereits zur Sprache, wieso das Christentum als monotheistische Religion mit seinem Alleinanspruch auf die religiöse Wahrheit sich dagegen verwehren muss, dass Religionen miteinander kombiniert werden und jeder sich seine eigene Religion "nach eigener Phantasie und eigenem Geschmack zusammenzimmert". Wesentlich dafür sind drei Fundamente, die den rechtgläubigen Christen charakterisieren: nämlich der Glaube an die Bibel als einzig wahre heilige Schrift, an Jesus von Nazareth als einzig wahren Gottmenschen - und an die christliche Gemeinschaft (für manche: die katholische Kirche) als einzige menschliche Institution, die den wahren Glauben vertritt. Dieser dritte Teil des Aufsatzes über Interreligiosität soll ein Plädoyer dafür liefern, sich nicht durch die konservativ-christliche Position beeindrucken zu lassen, derzufolge es keine wahre Religion neben dem Christentum und somit keine wahre Religiosität geben kann, die sich anderer als christlicher Methoden bedient.
Die Gesellschaft, in der wir leben, hebt sich von anderen zugleich oder in früheren Zeiten existierenden Gesellschaften durch einige Merkmale ab, die mit Schlagworten wie "Informationsgesellschaft", "Risikogesellschaft", oder "Pluralismus" bezeichnet werden. Pluralismus bedeutet in dem hier gebrauchten Sinn, dass der einzelne unter mehreren philosophischen oder religiösen Systemen wählen kann, dass seine Werte und grundlegende Prinzipien seiner Einstellungen nicht für ihn vorbestimmt sind, sondern von ihm selbst gefunden werden müssen. Das sorgt für Probleme einerseits, Chancen andererseits. Religiöser Pluralismus bedeutet, sich für eine unter mehreren Religionen entscheiden zu können. Es bedeutet aber auch, sich für eine Religion entscheiden zu müssen, insofern es sich nicht um einen Scheinpluralismus handelt, wo es zwar theoretisch möglich wäre, eine andere als die übliche Wahl zu treffen, aber aufgrund irgendeines sozialen Drucks eine solche Wahl praktisch nicht vorkommt. Die Unmöglichkeit, sich nicht zu entscheiden, ist ein typisches Kennzeichen einer Gesellschaft mit fast unbegrenzten Wahlmöglichkeiten. Das gesellschaftliche Phänomen des Pluralismus zu bewerten, ist hier nicht der richtige Ort. Es als gegeben zu akzeptieren ist jedoch unvermeidlich.
Ein Schreckgespenst für jeden rechtgläubigen Theologen geht seit Jahrzehnten in der Gesellschaft nach Woodstock um: der Gebrauch fremder Riten und Gebräuche in Kombination mit den althergebrachten christlichen Glaubensformen zieht sich durch alle Kreise von jungen wie älteren Gläubigen. Um so heftiger waren in den siebziger und vor allem achtziger Jahren die Reaktionen der neu bestellten Sektenbeauftragten beider großer Kirchen. Pluralistische Religiosität ist mit christlichen Heilsansprüchen unvereinbar. Aber was sonst spricht gegen die Vermischung verschiedener, inzwischen fast unbegrenzter religiöser Angebote?
Da gibt es Scharlatane und psychisch Kranke mit religiöser Strahlkraft, die ihre Gläubigen in die geistige Verwirrung oder den Massensuizid treiben, Prediger, die ihr eigenes Seelenheil vor allem in hohen wirtschaftlichen Profiten suchen. Es gibt Gläubige, die nicht wissen, wie sie sich auf dem Markt der hunderttausend Möglichkeiten orientieren können. Es gibt Gefahren von psychischer Abhängigkeit bis hin zum Ausgeliefertsein gegenüber menschenverachtenden Organisationen. Menschenverachtung konnte schon immer gut unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit verbreitet werden. Das ist die dunkle Seite des Pendelschlags, den man immer in Kauf nehmen muss, will man die helle Seite nicht aufgeben: statt "cuius regio, eius religio" - selbst wählen zu können, was man glaubt und was nicht; statt ins Gefängnis zu kommen, weil man öffentlich eine abweichende religiöse Botschaft vertritt, schlimmstenfalls in einer Talkshow verspottet zu werden; nicht die Zunge abgeschnitten zu bekommen, weil man unerwünschte Meinungen äußert und so weiter. Wenn man relativ große individuelle Freiheit und Wahlmöglichkeiten (Pluralismus) möchte, muss man auch die Qual der Wahl (im Extremfall Orientierungslosigkeit) und die Möglichkeit, eine falsche Wahl zu treffen (bis hin zu existenziellen Fehlentscheidungen), als gegeben hinnehmen. Pluralismus setzt Verantwortung für das eigene Wählen und Entscheiden voraus. Wer diese Verantwortung für sich selbst nicht übernehmen kann, benötigt Hilfe, aber nicht Zwang oder Druck zu einer bestimmten Wahl. Dem einzelnen diese Hilfe zu gewähren ist die Pflicht einer pluralistischen Gesellschaft. Vielleicht liegt es daran, dass die weiterhin christlich dominierten Staatsgebilde Europas sich noch nicht offiziell als pluralistisch definieren, aber man muss sich doch wundern, wieso diese Aufgabe der Gesellschaft - dem einzelnen bei seiner Wahl zu helfen - nicht deutlicher als ein staatlicher Auftrag betrachtet wird, wodurch dann das Paradoxon entsteht, dass Menschen, die Hilfe bei der Auswahl zwischen den Angeboten unserer pluralen Gesellschaft benötigen, sich zunächst einmal zwischen den Angeboten von psychologischen und sozialarbeiterischen Beratern, Ärzten und Arbeitsvermittlern, Theologen und guten Freunden entscheiden müssen. Doch auch für den, der schließlich Hilfe erhält, ist es letztlich seine eigene Aufgabe zu wählen. Und das gilt auch für den religiösen Bereich. Wer also auf die scheinbaren Sonderangebote im Supermarkt hereinfällt, weil er es versäumt hat, auch bei der Konkurrenz nebenan zu vergleichen, der hat die spezifisch pluralistische Form der Verantwortung für seine Auswahl nicht wahrgenommen. Diese besteht darin, sich ausreichend zu informieren, die Entscheidung nach ausreichend präzisen Kriterien zu treffen, mündig genug zu sein, um zu wissen, was man wählt.
Pluralistische Religiosität weist bereits über die freie Wahl hinaus in den Bereich des frei Geschaffenen. Ich darf im Pluralismus eben nicht nur wählen, was der Markt an Möglichem bietet, ich darf ihm auch selbst ein Angebot hinzufügen und ihn damit bereichern. Hier kommt der Begriff der Interreligiosität ins Spiel, der über die Auswahl aus bestehenden religiösen Angeboten hinaus geht und die Möglichkeit betont, sich seine eigenen religiösen Überzeugung nach eigenen Gesichtspunkten zusammenzustellen. Dies ist das eigentlich illegitime, was die Hüter der althergebrachten Religionsbegriffe besonders entsetzt. Und ihre Kraft ist deutlich spürbar. Kreativ zu sein gilt als ein hoher Wert in allen Bereichen - nur nicht im Religiösen. Religiöse Kreativität gilt als versponnen, wird - typisch christliches Vorurteil - sofort mit missionarischem Eifer und religiösem Wahn in Verbindung gebracht. Aber ist es denn wirklich so viel anders, sich auch in diesem Bereich eine eigene Meinung zu bilden als täte man dies bezüglich der Politik der Regierung oder bei der Aufgabe, sich seine eigene künftige Biographie zu entwerfen (ein sehr leichtsinniges Unterfangen, dem die meisten von uns sich mit der trügerischen Gewissheit hingeben, sie könnten in die eigene Zukunft blicken). Religiosität scheint mir letztlich viel weniger das zu sein, was eine Institution wie die Kirche als solches definiert, sondern ein menschliches Erleben und Verhalten. Wenn ich mit meinem Glauben nichts erlebe und er keinen Einfluss auf mein Verhalten hat, habe ich zwar eine Religion aber keine Religiosität, eine Kirche, aber keinen Glauben. Religiosität im Sinne von Spiritualität hat mit Erleben zu tun, nicht mit dem Befolgen eines bestimmten Lehrsystems. Und dieses Erleben ist immer nur mein eigenes.
Erfahrungsreligion
Gautama Siddharta, den die Buddhisten Buddha nennen, warnte seine Schüler davor, an ihn und seine Lehre zu glauben. Statt zu glauben sollten sie lieber selbst testen, ob das, was sie von ihm lernen konnten, auch hielt, was es versprach. Der religiöse Sucher als Leiter eines selbst konstruierten lebenslangen Experiments, als mündiger, prüfenden Kritiker dessen, was man ihm als Wahrheit verkauft. Der Buddha wünschte sich einen solchen Anhänger, keinen, der nur Ja und Amen sagt. Damit entzieht sich der Glauben nicht länger der Sphäre des Überprüfbaren, er wird zum Gegenstand einer rationalen Erfahrungswissenschaft, allerdings keiner Naturwissenschaft nach dem alten physikalischen Paradigma (mit wiederholbarem, von jedermann kontrollierbarem Experiment), sondern einer Wissenschaft nach dem neuen physikalischen Paradigma oder nach dem qualitativen Ansatz in den Sozialwissenschaften (Quasiexperimente mit unzähligen Einzelfallstudien). Eine solche Erfahrungsreligion ist viel leichter als Scharlatanerie zu entlarven als eine Religion, die von sich in Anspruch nimmt, per se unüberprüfbar zu sein (wie der Glaube derjenigen, die erwarten, dass in einer bestimmten, nahen Zukunft Harmagedon oder ein intergalaktischer Kontakt über uns hereinbrechen soll und der nur solange funktioniert, wie der vorhergesagte Zeitpunkt nicht eintritt, womit der Glaube überprüfbar würde). Eine solche Erfahrungsreligion widerspricht dem Argument des Atheismus, Religion sei "nur vorgestellt" und habe keine realen positiven Auswirkungen. Eine solche Erfahrungsreligion ist auch das Prinzip, nach dem sich der einzelne seine eigene Form von Religion konstruieren kann: was hilft, ist gut. Was besser hilft, ist besser. Wie in der Medizin auch heute noch der alte Grundsatz gilt "Wer heilt hat recht", so gilt auch in der Religion qua Erfahrungsreligion: Was dem Gläubigen zu spirituellem Fortschritt verhilft, ist das richtige für ihn oder sie.
Somit wird "spiritueller Fortschritt" zum Kriterium für den Wert einer Religion. Christliche Apologeten werden im Viereck springen, wenn man von Wert und Bewertung einer Religion spricht, aber tatsächlich ist der Prozess der Auswahl in einer pluralistischen Gesellschaft natürlich nur möglich, wenn eine Bewertung möglich ist. Spiritueller Fortschritt erscheint sinnvoller als Kernkriterium zur Bewertung einer Religion als andere mögliche Kriterien wie zum Beispiel psychische oder physische Gesundheit oder gesellschaftlicher Erfolg, die weniger direkt auf die Inhalte von Religion abzielen und eher periphere Kriterien zu sein scheinen. Andere Maßstäbe zur Beurteilung einer Religion wie ihr ethischer Gehalt, ihre soziale Verantwortung lassen sich nur vor den Prämissen der Religion selbst beurteilen. So ist für den gläubigen Hindu die Forderung, Kühe wie Freunde zu behandeln und Ratten im Tempel zu füttern unter Umständen ein ethisches Gebot, anhand dessen er das Christentum für ausgesprochen verantwortungslos halten wird. Der einzige interreligiös überprüfbare Maßstab wäre hier also das Verhältnis zwischen Worten und Taten, zwischen ethischem Anspruch und Umsetzung ihrer Anhänger. Dasjenige Kriterium, das dem Kern der Definition des Religiösen am nächsten kommt und das deshalb als Kernkriterium - in Abgrenzung zu akzidentellen oder zusätzlichen Kriterien - am meisten Gewicht beanspruchen darf, scheint doch eher damit zu tun zu haben, dass Religion auf eine transzendente Dimension abzielt. Und wenn eine Religion nicht Glaubens-, sondern Erfahrungssache sein will, muss sie sich daran messen lassen, wie tief sich diese transzendente Dimension dem Gläubigen nach einer gewissen Zeit der Übung in der jeweiligen Religion erschließt. Dies ist mit spirituellem Fortschritt gemeint: die Tatsache, dass Erfahrungsreligionen nicht darauf abzielen, einen statischen, sondern einen dynamischen Bezug zum Transzendenten zu schaffen, mithin eine Entwicklung einschließen, die vom Irdischen zum Überirdischen geht. Im Christentum wären es vor allem die mystischen Formen religiöser Praxis, die in diesem Sinne als Erfahrungsreligion anhand des dadurch möglichen spirituellen Fortschritts überprüfbar wären. Der Buddhismus versteht sich meines Erachtens ganz und gar als eine solche Erfahrungsreligion.
Und noch einen weiteren Aspekt beinhaltet der Begriff der Erfahrungsreligion: die kritische Überprüfung nicht nur der Wirkungen des eigenen Glaubens, sondern auch der eigenen Person des Gläubigen. Erfahrungsreligion meint eine ständige Kontrolle und Korrektur des eigenen Weges, ist das Gegenteil von dogmatischer Treue gegenüber einmal als vermeintlich wahr erkannten Lehrsätzen oder Glaubensformen. Der Begriff schließt die Bereitschaft mit ein, sich mit dem eigenen Glauben immer wieder von anderen in Frage stellen zu lassen, und zwar nicht, um durch die Kritik des anderen meine eigenen Argumente zu stärken, sondern um sich selbst zu hinterfragen und gegebenenfalls den eigenen Glauben zu modifizieren. Die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Überzeugungen zu verändern, sind Teil jeder auf Erfahrung aufbauenden Wissenschaft und somit so sehr Bestandteil dessen, was mit Erfahrungsreligion gemeint ist, dass ein sehr konsequenter buddhistischer Orden - der Order of Interbeing von Thich Nhat Hanh - den Verzicht auf feste Glaubenssätze sogar zu einem seiner Gelübde gemacht hat.
Formen und Stufen des Religiösen
Das Prinzip, dass jedem religiösen Menschen seine eigene Form der Religiosität frei wählbar zur Verfügung stehen sollte, schließt eben auch mit ein, dass sich Menschen von einer Religiosität angezogen fühlen "dürfen", die allen spirituellen Fortschritt in die Hand eines allmächtigen Gottes legt, die vielleicht sogar gar keinen spirituellen Fortschritt, sondern nur die Befolgung göttlicher Gebote kennt (der orthodoxe Islam und der orthodoxe mosaische Glaube scheinen mir so zu funktionieren). Eine Bewertung der einen oder anderen Form von Religiosität ist vermessen, wenn auch jedem, der im pluralistischen Dilemma steckt, sich zwischen allen möglichen Angeboten entscheiden zu sollen, klar sein muss, welche Konsequenzen die Hinwendung zu diesem oder jenem Glauben hat. Die Kriterien zur Beurteilung müssen klar sein, aber ob ihre Anwendung den Prüfenden dazu bringt, sich für oder gegen eine bestimmte Religion zu entscheiden, hängt im Pluralismus viel mehr von seinen eigenen Präferenz ab als davon, dass die eine Religion wahrer ist als die andere. Wer in religiösen Dingen eine Tochter-Vater-Beziehung vorzieht wird eine entsprechende Form der Religiosität ebenso finden wie einer, der von Bruder zu Bruder mit Gott kommunizieren will. Keine von beiden Formen ist der anderen überlegen. Sie mögen unterschiedliche Auswirkungen auf den Gläubigen haben, aber was sollte die eine "besser" machen als die andere? Manche tibetischen Schulen teilen religiöse Praktiken auf in Wirksamkeiten, je nachdem, welche Ziele damit zu erreichen sind. Aber es wäre Unsinn, wenn ein Lama behauptete, die Sutra-Praxis sei die schlechtere Praxis, Tantra die bessere, Buddhismus die bessere Religion, Christentum die schlechtere. Nach dem Grundsatz "jedem das seine" ist die Religion die beste, die am besten auf die Bedürfnisse des jeweiligen Gläubigen abgestimmt ist (wie auch der Dalai Lama nicht müde wird zu betonen).
Leider hat sich die Ansicht noch nicht weit genug herumgesprochen, dass Religion eine Grundeigenschaft des Homo sapiens ist, eine Eigenschaft, die es immer gab, solange es die Gattung Homo sapiens gibt und die nur bei einer besonders degenerierten Form unserer Tage ausgesetzt zu haben scheint (dem homo afides, dem ungläubigen Menschen). Leider hat sich noch nicht überall die Erkenntnis durchgesetzt, dass Religiosität so selbstverständlich zum Menschsein gehört wie Liebe und Neugier: der eine hat mehr, der andere weniger davon, aber ganz und gar nicht gibt es nicht. Denn wenn dies allgemein bekannt wäre, hätte man den monotheistischen Dünkel leichter überwunden. Man hätte akzeptiert, dass es für den Begriff der Religiosität keine Rolle spielt, ob man Christ ist oder ein Anhänger der brasilianischen Form des Woodoo, ob man sich Shiva anvertraut oder Allah. Religiosität ist psychologisch betrachtet die Einstellung, dass diese Welt nicht die einzige ist, mit all den Folgen, die sich daraus im Handeln und Bewerten des Alltags ableiten. Religiosität hat mit positiven Gefühlen gegenüber dieser anderen Wirklichkeit zu tun (der Begriff sagt nichts aus über die Gefühle gegenüber dieser Welt). Religiosität ist aus der Perspektive des religiösen Menschen betrachtet, die Hinwendung zur eigentlicheren und wichtigeren Realität, die nicht-religiösen Menschen verborgen bleibt. Und Religiosität ist der in verschiedenen Formen stattfindende Versuch, eine Verbindung zu dieser anderen Realität aufzunehmen - so oder so. In diesem Sinne ist Religiosität universell. Sogar manche ihrer Inhalte tauchen immer wieder auf: archetypische, die gesamte Menschheit betreffende Symbole sind Wegweiser zu der einen, aber stets wandelbar sich darstellen transzendenten Wirklichkeit.
Wenn all dies religiöse Menschen überall auf der Welt verbindet, scheint sie nicht mehr untereinander zu verbinden als sie gemeinsam von ihren nicht-religiösen Schwestern und Brüdern trennt? Wenn diese andere Realität, nach der sie streben, unser Vorstellungsvermögen doch so weit übersteigt, dass sie ohnehin nur per Analogieschluss in unser Denken Eingang finden kann, warum sollte nicht jede Kultur und jeder Mensch sich die Form des Religiösen suchen, die ihm am ehesten entspricht? Glauben Sie im Ernst, dass es für Gott, den ganz anderen, der keinen Namen hat, kein Gesicht und Bildnis, das ihm entspricht, dass es für diesen Gott einen Unterschied macht, ob man sich ihm nähert, indem man ihn sich hilfsweise als Shiva oder als Jesus von Nazareth vorstellt? Macht es für Ihn einen Unterschied, Ihn, der alles zugleich ist, in dem alles ist, außerhalb dessen nichts existiert? Ist Ihm die hingebungsvolle Liebe, das völlige Versunkensein eines indischen Sufi im göttlichen Licht lieber oder weniger lieb als die religiöse Begeisterung in einer Erweckungsbewegung? Und wenn es für Sie, die Göttin, keinen Unterschied macht, wie Sie vorgestellt oder angebetet wird, wie Menschen versuchen, sich Ihr anzunähern, macht es dann nicht wenigstens einen Unterschied für den Menschen, der sich Ihr annähert? Hier liegen meines Erachtens die entscheidenden, nämlich psychologischen und sozialen Unterschiede zwischen den Religionen.
Die eine von der anderen Religion zu unterscheiden ist kaum möglich aus der Perspektive der Wahrheit, denn das würde voraussetzen zu wissen, was Gott wirklich ist, und das weiß Gott allein. Es ist aber möglich nach dem neutestamentarischen Satz: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen". Und die Früchte der religiösen Überzeugungen sind die äußerlich sichtbaren sowie die nur innerlichen, dem Religiösen selbst zugänglichen psychologischen Wirkungen der Religion, des weiteren ihre sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen. Hier liegen die zusätzlichen Kriterien zur Auswahl aus dem religiösen Angebot, neben dem oben angesprochenen Kernkriterium der spirituellen Entwicklungsmöglichkeit. Ich kann mich für eine Religion entscheiden, weil ich sie für sozial verträglicher halte oder weil sie mir besser erklärt, wie ich mit meinem individuellen Leiden umgehen kann. In jedem Fall werde ich als mündiger Gläubiger die Religion vorziehen, die meine eigenen existentiellen Fragen am besten beantworten kann. Denn es ist der existentiell Suchende, der Mensch, der sich vor die großen Fragen seines eigenen Lebens gestellt sieht, der nach Religion sucht, und Religion ist nach wie vor die wesentlichste Antwort auf die fundamentalsten aller Fragen, die Fragen nach Sinn und Ziel und großen Zusammenhängen, die Fragen nach Dasein und Tod. Je nachdem, welche Frage sich mir gerade am dringlichsten stellt, dementsprechend wird meine Religiosität ausfallen. Dass dabei mancher religiöse Sucher Fragen eines ethischen Gemeinschaftslebens für eine gewisse Zeit gar nicht in Erwägung ziehen mag, ist bedauerlich für seine Mitmenschen, aber eine Tatsache, der man sich eher gesamtgesellschaftlich stellen muss (denn hier geht es um die Frage, ob der Pluralismus ethisch neutral bleiben darf, was nicht das gleiche ist wie die Frage nach der Existenzberechtigung des Pluralismus). Auch wenn wir soziale und psychologische Wirkungen von Religion als Kriterium für ihre Bewertung betrachten, gilt also Blaise Pascals (von Brecht aufgegriffener) Satz, man habe sich schon entschieden religiös zu sein, wenn man feststellt, dass der religiöse Glaube einem hilft zu leben. Es geht um die individuelle Bedeutung der Religion für den einzelnen. Und dennoch ist dies nicht der Ausverkauf der ethischen Botschaft der Religion. Jeder, der sich mit religiösem Gefühl und religiöser Überzeugung, mit dem Anspruch der Erfahrungsreligiosität einschließlich ihrer Bereitschaft zur Selbstkritik auf ein überweltliches Ziel hin ausrichtet, ist - so meine ich - auf dem besten Weg zu jener Wahrheit, die sich nicht mit irdischen Begriffen einfangen lässt und von sich aus jeden früher oder später zu ethischer Verantwortung führt. Denn hier erweist sich erst, was Interreligiosität erst ermöglicht und was Goethe so ausdrückte: "Und so hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit und es ist doch immer die selbe".
Was ist Religion im Zeitalter des Plurali
Das Leiden am Christentum
Wie kommen Menschen überhaupt dazu, interreligiös zu glauben? Die Umkehrung dieser Frage wäre für einen im fernöstlichen Kontext aufgewachsenen Menschen vermutlich ebenso legitim: Wie kommen Menschen überhaupt dazu, sich streng dogmatisch an eine einzige Religion zu halten? Viele Menschen in Asien leben ganz selbstverständlich synkretistisch, das heißt: sie beziehen Elemente aus verschiedenen religiösen Systemen (beispielsweise dem Buddhismus, dem Taoismus und dem Christentum) in ihre eigene religiöse Praxis ein. Und auch wenn die christlichen Kirchen es nicht gerne hören (die katholische toleriert es seit langem, die evangelikalen bekämpfen es): in Lateinamerika leben viele, vor allem indigene Gläubige mit einer Mischung aus christlichen Glaubensinhalten und vorchristlichen Bräuchen, Kulten und zu Heiligen umfunktionierten Göttern. Dennoch zeigt der Vergleich zwischen solchen Kulturen, die vom Christentum religiös dominiert werden, und jenen asiatischen Kulturen, in denen dies nicht der Fall ist, einen wesentlichen Unterschied: Das Christentum versucht seine eigenen Glaubensinhalte trotz teilweise geduldeter (nicht erwünschter!) Unterschiede in der Form der Glaubensausübung stets gegenüber anderen Religionen durchzusetzen. Es hat einen Alleinvertretungsanspruch der Wahrheit. Es gibt keine wahre Religion neben dem Christentum.
Das Judentum, die Mutter des Christentums, ist zwar nicht missionarisch, sondern exklusiv (im Allgemeinen gehört nur der dazu, dessen Mutter desselben Glaubens ist), aber es vertritt um nichts weniger diesen alleinigen Heilsanspruch. Und der Islam, ein weiterer Spross desselben Stammes des Monotheismus , hat zwar ursprünglich seine Wurzeln in der jüdischen-christlichen Tradition anerkannt und die beiden anderen levantinischen Religionen als zwar überholte, aber doch den selben Gott verehrende Brüder akzeptiert, von dieser respektvollen Toleranz gegenüber den anderen monotheistischen Ansätzen ist jedoch bei manchen Vertretern eines radikalen Islam nichts mehr zu spüren. Darüber hinaus wird auch der Islam wie Judentum und Christentum einen nicht-monotheistischen Ansatz nicht als wahre Religion akzeptieren können. Die großen fernöstlichen religiösen Systeme (Buddhismus, Hinduismus, Taoismus) hingegen wussten stets: es gibt viele Wege zum einen Ziel und jeder ist - mehr oder weniger - akzeptabel. Dieser Unterschied ist wesentlich für die Bedingungen, unter denen Menschen in unserer Zeit im Westen - in Europa und den beiden Amerikas - als Glaubende leben.
Die vom Christentum geprägten, nach religiöser Wahrheit suchenden Menschen dieses Kulturraums (und die Amerikas bilden mit Europa historisch und mehr noch aktuell einen Makro-Kulturraum) wachsen mit der Doktrin des Christentums, Judentums oder auch des Islams auf, dass es nur eine wahre Religion geben kann. Aber zugleich stellen sie zunehmend enttäuschter fest, dass diese wahre Religion sich nicht in den Sonntagspredigten ihrer Priester und Pastoren (oder der Synagogenvorsteher und Imame) finden lässt. Sie spüren die Anziehungskraft der spirituellen Philosophien aus dem Osten nicht ohne Grund.
Krieg als religiöse Tradition
Woher stammt der Alleinvertretungsanspruch für die Wahrheit in den monotheistischen Religionen? Joseph Campbell, der wohl bedeutendste Mythologe des 20. Jahrhunderts, schreibt in seinem Werk "Lebendiger Mythos" (1985, 87): "In der Levante wird nämlich der Gehorsam betont, der Gehorsam des Menschen gegenüber dem Willen Gottes, wie launenhaft dieser auch sein mag. Hierbei ist der Leitgedanke, dass Gott eine Offenbarung gegeben hat, aufgezeichnet in einem Buch, das die Menschen zu lesen und zu verehren haben, nie zu kritisieren wagen dürfen, sondern das sie annehmen und dem sie gehorchen müssen. Wer dieses heilige Buch nicht kennt oder es gar von sich weist, ist aus der Nähe des Schöpfers verbannt. Viele große und kleine Völker, ja ganze Kontinente sind somit in Wirklichkeit gottlos". Das Prinzip, das dahinter steckt, hat mit einem Gott, der die ganze Welt geschaffen und alle Menschen als seine Geschöpfe betrachtet, nichts mehr zu tun. Wahre Religion ist dieser Meinung zufolge exklusiv nur für diejenigen reserviert, die ein Buch als die Quelle der Wahrheit akzeptieren, für dessen besonderen Anspruch es aber keine plausiblen Argumente gibt. Wenn heute auch das Gros der Theologen zugibt, dass die Bibel kein von Gott selbst verfasstes oder auch nur diktiertes Buch ist, sondern ein von Menschen, die glaubten, geschriebenes, so stellt sich die Frage, was dieses Buch zu einem so besonderen Dokument macht, dass nicht andere (aus anderen Kulturen oder heute geschriebene) Glaubenzeugnisse ihm gleichkommen könnten. Den Anspruch, eine ganz und gar einmalige Heilige Schrift in der Bibel vorzufinden, nehmen immer weniger Menschen unserer Zeit den Theologen ab.
Aber das ist nicht alles, was den damit verbundenen Anspruch so fragwürdig macht. Aus jeder Seite des Alten Testaments, heilige Schrift und Grundlage aller drei monotheistischen Religionen, tropft das Blut zahlreicher Völker. Campbell meint dazu, "dass wir auf eine der brutalsten Kriegsmythologien aller Zeiten getrimmt wurden" (189). Das Christentum, so könnte man mit Campbell sagen, entstammt einem Kulturraum (der Levante), in dem es hauptsächlich um eine Sache ging: Krieg eines Volkes gegen das andere, das heißt: ständige Abgrenzung des eigenen Territoriums gegen Invasoren, Abgrenzung der eigenen Kultur als einheitsstiftendes Element gegen Einflüsse von außerhalb und Abgrenzung des eigenen Gottes gegenüber als ebenso mächtig vorgestellten (auch bei den frühen Hebräern!) Göttern anderer Völker.
Das Resultat dieser Abgrenzungsbemühungen war ein Anspruch, alleiniger Schatzhüter der religiösen Wahrheit zu sein. Was den Krieg betrifft, so bekommen wir dieselbe Haltung auch heutzutage noch sehr plastisch vor Augen geführt, wenn die eine auf exklusive Wahrheit hin angelegte Kultur die andere mit genau diesem Anspruch zu bekämpfen beginnt und dabei auch noch meint, ein gutes Werk zu tun... Und die Aggression sogenannter "christlicher" Politiker wie (sogenannter) islamischer Terroristen ist ein völlig folgerichtiges Resultat ihrer religiösen Wurzeln: "Bei unserem Überblick über die Kriegsmythologien haben wir sowohl in der Thora als auch im Koran die Überzeugung angetroffen, dass Gott, der Schöpfer und alleinige Regent des Weltalls, absolut und immer auf der Seite einer bestimmten auserwählten Gemeinschaft stünde und dass folglich seine Kriege Heilige Kriege seien, die in seinem Namen und nach seinem Willen geführt würden" schreibt Campbell (212).
Diese Folgen einer religiös vermittelten Kriegskultur, die wir alle im Westen teilen, werden noch deutlicher, wenn wir uns anhören, was der große vietnamesische Zen -Meister Thich Nhat Hanh über Präsident Georg Bush (Senior!) schreibt (nebenbei wird auch deutlich, wie sehr der Sohn sich hier nacheifernd um die Anerkennung des Vaters zu bemühen scheint): "Unmittelbar nachdem Präsident Bush im Februar 1991 den Angriff gegen den Irak angeordnet hatte, sprach er zum amerikanischen Volk und sagte: ‚Egal was Sie in diesem Augenblick tun, bitte halten Sie inne und beten Sie für unsere Soldaten im Golf. Gott segne die Vereinigten Staaten von Amerika'. Ich vermute, dass im selben Augenblick viele Muslime ebenso zu ihrem Gott beteten, um den Irak und die irakischen Soldaten zu beschützen. Wie aber kann Gott wissen, welche Religion er unterstützen soll?" (Thich Nhat Hanh: Liebe handelt. 1993, 83).
Der Exklusivitätsanspruch der monotheistischen Religionen erwuchs aus dem Bedürfnis der Völker der Levante, sich gegenüber den zahlreichen verfeindeten Nachbarn abzugrenzen - was nur Erfolg versprach, wenn der jeweilige Gott sowohl gegenüber dem eigenen Volk wie gegebenenfalls auch gegenüber anderen Völkern erfolgreich als der mächtigste und somit einzig wahre dargestellt werden konnte. Die Saat von Hass und Konflikt, von Rechthaberei bis zum Mord um der eigenen Überzeugung willen, war ausgebracht und trägt bis heute Früchte. Die Reihe ihrer Opfer in früheren Jahrhunderten (Massaker bei Kreuzzügen, Hexenverbrennung, Judenpogrome, Vernichtung ganzer Indianervölker mit Kreuz und Schwert, Versklavung "unzivilisierter" Nationen in Afrika, Ketzerverfolgung im Mittelalter und der dreißigjährige Krieg, um nur einige zu nennen) wird durch die Opfer der religiös motivierten Kriege im 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt. All dies ist weder die "Schuld" einer einzelnen Religion noch ist es Folge einer Conditio humana, das heißt: es müsse so sein, weil der Mensch so gestrickt ist. Der Mensch ist mit dem Gen der Aggression ausgestattet. Aber der Mensch ist auch ein Kulturwesen, wie führende Anthropologen wissen (vergleiche dazu die berühmten Anthropologen Plessner oder Gehlen). Er ist dazu in der Lage seine Aggression unheilvoll oder heilsam einzusetzen. Aber wie er sie einsetzt, ist keine Frage der Gene, sondern eine Folge der Anleitung und Erziehung, die er im Umgang mit seinen Gefühlen erfährt. Krieg ist eine Folge des Willens zum Krieg bei einer Mehrheit von Menschen eines Volkes, nicht ein Produkt unkontrollierbarer Triebe. Und dieser Wille ist (bei einer so großen Zahl von Individuen, wie sie für einen Krieg erforderlich ist) nicht von der Erziehung einer einzelnen Mutter oder eines einzelnen Vaters abhängig, sondern von den Auswirkungen einer die meisten Individuen einer Kultur erfassenden Tradition wie der christlich-abendländischen, der jüdischen oder der islamischen. Es ist das folgerichtige Produkt einer Tradition, die von den kriegerischen Völkern des Nahen Ostens der Antike bis zu uns reicht. Einer wahrlich unheilvollen Tradition.
Christliche Doktrinen
Campbell schreibt: "Wir im Westen haben unserem Gott einen Namen gegeben oder vielmehr, wir haben den Namen der Gottheit einem Buch aus einer Zeit und von einem Ort entnommen, die nicht die unseren sind. Und man hat uns gelehrt, nicht nur an die absolute Existenz dieser metaphysischen Fiktion zu glauben, sondern auch an ihre Bedeutung für die Gestaltung unseres Lebens" (106). Dieses Buch ist auch in anderer Hinsicht fragwürdig als nur im Hinblick auf die Auswirkungen der monotheistischen Schwarz-Weiß-Malerei. Der Kampf des Guten gegen das Böse, der moralische Anspruch, das Gute zu vertreten und das Böse zu kennen, sind nicht nur Folgen des Monotheismus, sondern finden sich bereits auf den ersten Seiten der Bibel im Buch Genesis. Bei Buddhisten und Hindus stößt man zuweilen auf eine gewisse Skepsis gegenüber einer Religion, die einen Gott anbetet, der seine geliebten Kinder in die ewige Verbannung stößt, weil sie ihm einen Apfel geklaut haben, ihnen jedoch alles wieder vergibt, als sie seinen Sohn ans Kreuz nageln. Auf christlicher Seite gibt es einen Wasserkopf an Theologie zur Erklärung solcher Glaubensaussagen für diejenigen, die ihnen ihre angebliche Tiefgründigkeit nicht spontan ansehen, eine Fülle an über zwanzig Jahrhunderte hinweg immer spitzfindiger werdenden Formen der Apologetik, der Verteidigung des Glaubens gegenüber den gottlosen Kritikern, für die diese grotesken oder haarsträubenden Aussagen der Heiligen Schrift nichts anderes als Unverständnis oder Kopfschütteln hervorrufen. Das vernünftigste Argument gegen solche Kritik scheint wohl noch das von der symbolischen Bedeutung der biblischen Aussagen zu sein. Demnach symbolisiert das Essen des Apfels in Genesis den primordialen Sündenfall, die ursprüngliche Ursache der Trennung zwischen Mensch und Gott. Demnach ist es zunächst der Teufel und nicht Gott, der die Initiative zur Trennung ergriff. Der erste dieser Gedanken - Mensch und Gott sind grundsätzlich getrennt voneinander - ist zunächst einmal eine Grundbedingung jeder religiösen Bemühung. In allen Religionen wird ja angenommen, dass die Welt, die wir normalerweise erleben, einer anderen Sphäre gegenübersteht und beide somit nicht miteinander identisch sind. Wie weit diese Trennung geht - ob sie eine grundsätzlich unüberwindbare ist, eine, die von der Initiative des Menschen überwunden werden kann oder eine, die nur scheinbar besteht, in Wirklichkeit aber nicht, ist eine Frage der bevorzugten Akzentsetzung und darin unterscheiden sich die einzelnen Religionen gewaltig.
Der Philosoph Leibniz, nach dessen damit befasster Schrift man diese Problematik auch als Theodizee-Problem bezeichnet, fand drei verschiedene Formen des Übels: ein physisches (z. B. Krankheit), ein metaphysisches (z. B. die Frage, warum die Welt nicht einfach perfekt sein kann) und ein soziales (die Boshaftigkeit anderer). Und er kam zum Schluss, dass die Welt mit all diesen Übeln leben müsse, weil eine andere Konstruktion der Welt zu keinen besseren Ergebnissen geführt hätte (z. B. müsste Gott dann die Willensfreiheit einschränken). Aber bis heute ist nicht klar, ob damit das Problem gelöst ist. Wieso beispielsweise besitzt ein absolut guter und allmächtiger Gott nicht die Macht, eine absolut gute Welt zu schaffen. Und wenn er diese Macht besitzt und es nicht tut, kann man ihn dann wirklich noch gut nennen?
Die zweite zentrale Mythologie des Christentums, die anfangs angesprochen wurde, bezieht sich auf den Glauben an die Heilsbotschaft des Kreuzestodes und der anschließenden Auferstehung Christi. Entstanden in einer Zeit, in der jeder Bewohner des Mittelmeerraums sich unter einem religiösen Opfer noch etwas ganz Konkretes vorstellen konnte, ist dieser Opfertod für uns heute zu einem geradezu makabren Symbol geworden. Wo liegt das Heil verborgen in einem solchen archaischen Ritual der Sohnesopferung? Abgesehen davon, dass die Welt nach dem Tod Christi offenbar nicht besser geworden ist (die Urchristen lebten teilweise noch mit der enthusiastischen Hoffnung, die Verwandlung der Welt in Gottes Reich noch miterleben zu können), ist das Symbolische an diesem grausamen Tod für uns nicht gerade vertrauenerweckend. Der strenge Gott braucht offenbar einen grausam gefolterten und getöteten Gottmenschen um versöhnt zu werden. Das klingt stark nach dem anthropomorphen, rachsüchtigen Gott des Alten Testaments, den das Christentum doch hinter sich zu lassen versprach. Die modernen Theologen versuchen verständlicherweise diesen Kreuzestod als Handlung der Liebe auszulegen (Gott selbst gibt sich uns hin) oder als Solidaritätsbeweis (Gott macht sich dem leidenden Geschöpf gleich). Dennoch bleibt fraglich, wieso die Hingabe Gottes etwas so masochistisch Selbstzerstörerisches an sich haben und wieso Gott sich überhaupt auf die menschliche Sphäre hinab begeben muss? Fühlt er denn nicht in jedem Moment mit, was eines seiner geringsten Geschöpfe fühlt. Damit nicht genug: die Lehrbücher der Theologie sind voll von derart raffinierten Ausdeutungen, dass der Verstand kapitulieren muss und deshalb alles für bare Münze hält (so er denn glaubt). Wenn da von einer "radikalen Umgestaltung der Menschheit" durch das Heilsgeschehen der Auferstehung die Rede ist (Herders Theologisches Taschenlexikon) oder davon, dass Jesus als der neue Adam den Sündenfall revidiere, so muss man sich zwangsläufig fragen, ob die Indoktrination junger Theologiestudenten so weit gehen kann, dass sie derartig bedeutungsleere Parolen unkritisch übernehmen oder woran es liegt, dass christliche Gläubige in aller Welt daran glauben, durch die Auferstehung des Jesus von Nazareth gerettet worden zu sein, ohne dass irgendeiner Dir genauer erklären kann, worin diese Rettung denn nun eigentlich bestand.
Ein weiteres, mit dem eben gesagten untrennbar verbundenes Dogma, das dem heutigen Glaubenden fremd geworden sein kann, betrifft die alte Lehre von der Gottessohnschaft des Jesus von Nazareth und der Dreifaltigkeit. Demnach sei Jesus der Sohn Gottes. Zugleich sei er selbst Gott. Und schließlich sei er auch Mensch. Alle diese Aussagen beziehen sich aufeinander, untrennbar ist die Auffassung von der Dreifaltigkeit Gottes mit der Frage nach der wahren Natur des Jesus von Nazareth verknüpft.
Im Jahre 381 beschlossen die versammelten Kirchenführer in Konstantinopel, Gott-Vater, Jesus von Nazareth und der Heilige Geist seien zwar drei verschiedene Personen, aber alle drei seien von gleicher Natur. In ihrem Wesen unterscheiden sie sich nicht voneinander. Damit wollte man zugleich den Monotheismus, den Glauben an den einen einzigen Gott bewahren (der nie ernsthaft in Frage gestellt worden war) und andererseits Jesus als Menschen von Gott-Vater als transzendentem Wesen abheben. Dies war notwendig geworden, weil sich um die Natur Jesu verschiedene Auffassungen ergeben hatten. Die Konzilien der damaligen Zeit nun legten fest: weder sei Jesus ein besonderes, aber von Gott verschiedenes Geschöpf, wie es die Anhänger des Arius lehrten, noch sei er einfach Gott, der nur eine menschliche Scheingestalt angenommen habe, wie es der sogenannte Doketismus lehrte.
Gott und Mensch zugleich, unverbunden und ungetrennt seien beide Naturen, wie es das große, frühe Konzil von Chalkedon im Jahre 451 formulierte. Und zusammen mit dem heiligen Geist bilden Jesus und Gottvater eine Dreiheit, wobei alle drei aber selbst wiederum nicht als getrennte Wesen, sondern nur als drei Formen des einen und einzigen Gottes aufzufassen sind, drei Aspekte oder drei Personen, die jede für sich aber auch alle zusammen einen einzigen Gott bilden. Diese schwierige Lehre setzte sich damals gegen andere Ansätze als offizielle Richtlinie für (fast) alle christlichen Gläubigen bis heute durch. Während es in früheren Jahrhunderten noch vielfältige Theorien gegeben hatte, um die Natur des Jesus von Nazareth zu erklären, so waren sie nun alle nacheinander ausgemerzt worden, um die Einheit der Religion zu bewahren. Der Glaube, dass Jesus ein Mensch war, der von Gott als Sohn angenommen worden sei (Adoptianismus) oder andere Ansätze, die in Jesus einen Menschen sahen, waren zu diesem Zeitpunkt schon längst als Irrlehre in die Annalen der Geschichte verbannt. Unter anderem erging es so auch jenen sogenannten gnostischen Überlieferungen, die Jesus in einem gänzlich anderen Licht sahen als die offizielle Kirche (beispielsweise als Verkünder einer esoterischen Lehre zur spirituellen Selbstbefreiung), und die erst durch die Papyrusfunde von Nag Hammadi 1945 überhaupt wieder ans Tageslicht traten.
Ob diese dogmatischen Festlegungen jedoch wirklich dem Glauben dienlich waren oder ob sie nicht vor allem politischen Interessen entsprachen, ist umstritten. Als ziemlich gesichertes Faktum kann gelten, dass die Politik einige Male eine entscheidende Rolle bei der Definition des Glaubens spielte. Als im Jahre 325 in Nikaia zum ersten Mal in der Geschichte ein Konzil von Kirchenführern zusammentrat, um über Fragen eines gemeinsamen Glaubens zu beraten und damit die Weichen für die spätere Entwicklung der oben angesprochenen Glaubensfragen gestellt wurden, war es kein Mehrheitsbeschluss der versammelten Bischöfe, sondern eine Anweisung des römischen Kaisers Konstantin, die dazu führte, dass Jesus und Gott-Vater für wesensidentisch erklärt wurden. Konstantin fürchtete, dass Streitigkeiten innerhalb der immer stärker werdenden christlichen Kirche die Einheit seines Reiches zerstören könnten, und so bestand er auf der ihm angenehmsten theologischen Lösung: der Erklärung der Wesensgleichheit zwischen Gott und Jesus.
Aber auch ohne die politische Dimension einzubeziehen: Wenn man die komplizierten Gedankenspiele der Theologie berücksichtigt, wonach Jesus nur dann die Menschen durch Tod und Auferstehung retten konnte, wenn er einerseits wirklich Mensch geworden ist und andererseits wirklich Gott war (sonst funktioniert beispielsweise die Konstruktion nicht, in Jesus habe Gott menschliches Leiden hautnah gespürt und persönlich auf sich genommen), dann versteht man, warum diese frühen Konzilsbeschlüsse so ausfallen mussten. Die ganze christliche Theologie besteht aus solchen intellektuellen Salti nach dem Motto: das muss eben so sein, denn wenn es anders wäre, was würde dann aus dem, woran wir glauben? Ja, was wäre dann? Dann müsste man einsehen, dass Religion mit intellektuellen Gespinsten, die nur die brillantesten Köpfe begreifen, nicht viel zu tun hat. Dann würde man bemerken, dass ein solch verwinkelt begründeter Glaube nur durch die Verknüpfung mit Machtstrukturen Jahrhunderte lang aufrechterhalten bleiben konnte, wie schon die Geschichte des ersten Konzils der Christenheit zeigt. Heutige spirituell Suchende wollen sich nicht länger knebeln lassen von unverständlichen Gedankengebäuden. Wie viel einfacher wäre es da, wenn man als Christ bekennen dürfte, dass man Jesus für eine herausragende Persönlichkeit, einen Menschen von ungeheurer Leuchtkraft, einen Heiligen, einen der Gott kennen gelernt hat, einen Erleuchteten hält. Aber das darf man erst, wenn man hinzufügt: und auch für Gott selbst (und zwar exklusiv und geschichtlich einmalig!).
Christliche Praxis heute
Über die katastrophalen Formen christlicher Praxis durch die Jahrhunderte hindurch bis heute belehren einen beispielsweise die gut recherchierten Bücher von Karl-Heinz Deschner. Was darin zusammengetragen wurde, muss hier nicht wiederholt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: das Christentum hat wohl ebenso viel Unheil in den Herzen der Gläubigen gesät wie -zugegebenermaßen - Heil. Dabei sind die traurigen Fälle, in denen katholische Priester nicht mit dem Zölibat umzugehen wissen und deshalb entweder Kinder zeugen, die sie verleugnen müssen, oder Kinder zu sexuellen Handlungen heranziehen, eher ein Beleg dafür, dass christliche "Seelsorge" nicht nur bei den Gläubigen, sondern gerade auch bei den Seelsorgen selbst nicht immer das probate Mittel bereithält. Christliche Seelsorge ist ein ausgesprochen dilettantisches Geschäft. Sie hält weder den Maßstäben der modernen psychologischen Beratung noch denen der spirituellen Führung stand, wie die fernöstlichen Religionen sie praktizieren. Das hat letztlich theologische und weit in die Vergangenheit zurückliegende Wurzeln: das Christentum ist, wie das Judentum und der Islam, eine Gesetzesreligion mit einem Gott, der bestimmt, was der Mensch darf und was nicht. Wer sich nicht an Regeln hält, die oftmals so eindeutig menschlicher Herkunft sind, dass man sie nur noch belächeln mag, ist von Gott verdammt oder theologisch korrekter gesprochen: hat sich aus Gottes Nähe entfernt. Eine solche Gesetzesreligion wird sich nicht bemühen, Menschen zum persönlichen Glück zu führen, sondern zur Erfüllung der Gesetze und Pflichten, die sie für unumstößlich hält. Eine echte Sorge um die irdische Seele fand also erst relativ spät Eingang in das Tätigkeitsfeld der christlichen Prediger.
Zum anderen lehnt das Christentum die Eigeninitiative auf dem Weg zum Heil auf weiten Strecken ab. Zwar soll sich der Gläubige um Gottes Gunst bemühen, wie der Sohn oder die Ehefrau in einer patriarchalischen Gesellschaft die Gunst des Vaters oder Gatten notwendig zum gesellschaftlichen Dasein benötigte, er soll sich aber nicht vermessen, ihm ähnlich werden zu wollen. Zwar darf er Jesus und den Heiligen in puncto Pflichterfüllung nacheifern, er soll es aber bitte schön unterlassen, so unbescheiden zu sein und selbst explizit nach Heiligkeit zu streben. Und letztlich ist ohnehin alles von Gott gegeben, ob gut oder böse. Daraus ergibt sich ein mangelndes Interesse an der Entwicklung spiritueller Technologie. Damit meine ich Techniken und Methoden, die ein Ziel der seelischen oder geistigen Höherentwicklung erreichbarer machen. Derartige Techniken fristen im christlichen Kontext ein jämmerliches Mauerblümchendasein als Ausnahmerscheinungen (z. B. die Exerzitien des Ignatius von Loyola). In der Regel verbietet es das Primat der Heilstätigkeit Gottes (also die Vorstellung, dass Gott den Menschen rettet oder gerettet hat und nicht der Mensch sich selbst), dass der Christ etwas wie eine "Technik" anwendet, um ein besserer Mensch zu werden. Dies fällt besonders auf, wenn Erwartungen von der Form "Du solltest etwas mehr Nächstenliebe praktizieren" oder "als Christ sollte man..." an Gläubige von anderen Gläubigen herangetragen werden und dann niemand dem Gemaßregelten sagen kann, wie er denn vielleicht Nächstenliebe erlernen kann oder wie man ein guter Christ wird. Der Herr wird's schon geben, ist manchmal ein bisschen zu wenig Hilfe auf einem schwierigen Weg. Provozierend gesagt: in den Augen der christlichen Theologen sollen ihre Gläubigen zwar gute Menschen sein, aber wie sie das schaffen können, bleibt ihnen selbst überlassen. Oder noch provozierender gesagt: wenn du nicht bist, wie Gott dich haben möchte, hast du eben Pech gehabt. Die fernöstlichen Religionen hingegen sind teilweise wahre Schatzkammern in praktischer und ethisch wertvoller Psychologie.
Zudem war das ganze christliche Mittelalter von dem Gedanken geprägt, es gäbe keinen Fortschritt mehr, da alles Wesentliche schon gedacht worden sei: das Weltliche von den griechischen Philosophen, das Überweltliche stand ja bereits in der Bibel - und diese war selbst wiederum Maßstab für das, was man an weltlichem Wissen akzeptieren konnte. Es erschienen dem mittelalterlichen Menschen überhaupt keine lohnenswerten neuen Erkenntnisse mehr möglich (ein für uns offenbarer Irrtum, der nebenbei bemerkt zeigt, dass man dem geistigen Trend seiner eigenen Zeit gegenüber nicht kritisch genug sein kann). Diese mittelalterliche Erstarrung, dieser Glaube an die Statik des Alls und die fix-und-fertige Konstruktion des Menschen haben lange nachgewirkt und - wie die Leibfeindlichkeit des Christentums - eher religionshistorische als gute theologische Gründe. Auch heute gibt es fundamental-christliche Gruppen, die dem Menschen an sich, der Menscheit in phylogenetischer Hinsicht, eine Entwicklung im Sinne der heutigen Evolutionstheorie absprechen wollen, weil sie diese mit der kreatürlichen Schöpfung im Widerspruch sehen. Dass auch Entwicklungspotential eine offenkundig heilbringende Anlage des Menschen (und damit zumindest gottgewollt) sein kann, übersehen sie.
Auch auf der Ebene des Individuums ist ein solches Denken leider noch weiter verbreitet als anzunehmen wäre: Noch immer wird von der sündhaften Natur des Menschen und Gottes alleiniger Gnade, diese zu überwinden, gepredigt, so als ob Entwicklung nicht eine permanente menschliche Grundeigenschaft wäre, die notwendigerweise einsetzt, wann immer irgendein Ziel zu erreichen ist, das nicht nur eine Veränderung der Umweltbedingungen, sondern auch meiner selbst vorausetzt - also jedes Lernen. Und damit kann auch "Sündhaftigkeit" und "Heiligkeit" gelernt und verlernt werden. Wie sollte es auch anders sein! Was wir sind ist kein statisch-unveränderbares Produkt von Genen oder göttlicher Schöpfung. Das lehrt auch die Anthropologie: Menschen werden so unfertig geboren, dass man sie in der Anthropologie als Frühgeburt bezeichnet hat: der Mensch kommt im Vergleich mit anderen Tieren so unfertig zur Welt, dass er dazu gezwungen ist, viel mehr in seinem "extrauterinen Erstjahr" (Portmann) zu lernen, als jedes andere Tier. Das macht seine Stärke als lern- und anpassungsfähiges Wesen gegenüber allen anderen Tieren aus. Offenbar scheinen aber viele christliche Gläubige noch immer zu glauben, der Mensch werde als Heilige oder Sünderin geschaffen und geboren, so als trage er keine Entwicklungspotentiale in sich, die ihn erst zum einen oder anderen machen können.
Nicht nur bei der Formung der eigenen Persönlichkeit, der "Seelsorge" im weltlichen Sinne, sondern auch bei der Entwicklung spiritueller Qualitäten wirkt sich diese christliche Tradition der Verleugnung menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten hinderlich aus: Wo findet der spirituell Suchende all die Informationen über die Höherentwicklung seines Bewusstseins hin zur Annäherung an Gott, letztlich auch zum Aufgehen in Gott, die das offizielle Christentum immerhin doch für möglich hält. Auch hier wieder: die Unio mystica - die Verschmelzung mit Gott - ist eine Wirkung von Gottes Gnade und nicht der menschlichen Bemühungen. Deshalb findet der Suchende schwerlich explizite bewusstseins-technische Anleitungen in der christlichen Literatur verschiedener Jahrhunderte. Die wenigen Zeugnisse christlicher Mystiker (von Augustinus über Meister Eckhart und Theresa von Avila bis zu Mystikern unserer Tage), die an uns überliefert sind, wurden lange Zeit fast geheimgehalten, jedenfalls nicht auf den Kanzeln behandelt und wenige davon sind als praktizierbare Anleitungen zu einer ausgereiften spirituellen Praxis zu verstehen (wenn es auch Ausnehmen geben mag).
All dies hat gute Gründe, die in der schon oben besprochenen Verquickung von Kirche und Macht zu suchen sind. Die christliche Kirche war von Anfang an und zumindest bis zur Reformation eine Priesterkirche. Im Mittelalter wurden Laien, die eine Bibel besaßen, zuweilen wegen Ketzerei verbrannt. Es gab keinen Glauben außerhalb des von den Priestern vermittelten Glaubens (nulla salus extra ecclesiam), es gab kaum eine Möglichkeit sich Gott anzunähern außer durch die Vermittlung des Priesters, der mit dem alleinigen Recht, Sakramente zu spenden, die angeblich den Heiligen Geist aus der göttlichen in die hiesige Sphäre vermittelnde Macht besaß. Sollte man eine solche exklusive und angenehme Position einfach preisgeben? Es war sicherlich eines der wesentlichen Verdienste Luthers, dass er die freie Zugänglichkeit der religiösen Überlieferung ermöglichte, indem er die Bibel in die Landessprache übersetzte und die Liturgie der Messe dem Verständnis der Gläubigen zugänglich machte. Dass dabei wirkmächtige, irrationale Symbole der alten Kirche ihre Kraft verloren, war ein bedauerlicher Nebeneffekt, der heute die gesamte europäische und nordamerikanische Kirchenlandschaft in Mitleidenschaft gezogen hat. Jedenfalls hat sich die Kirche bis zu Luther sehr bemüht gezeigt, die Gläubigen nicht zu Partnern Gottes werden zu lassen, sondern sie als blökende Schafe in der Herde mit zu führen. Wenn wundert es da, wenn das offizielle Christentum so gut wie keine eigenen Mittel des spirituellen Wachstums mehr kennt.
Das Leiden am fremden Glauben
Wer tief genug in der westlichen Kultur verwurzelt ist, um einmal die Vorstellungen des Christentums von einem persönlichen Gott und Jesus als seinem wesensgleichen Sohn in sich aufgenommen zu haben - unabhängig davon, ob er sich zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens als gläubig bezeichnet hat oder nicht - tut sich zunächst schwer mit dem, woran der Ferne Osten glaubt. Da gibt es mehrere Götter, wie im Hinduismus (die allerdings auch nur Aspekte des einen alles umfassenden Brahman sind). Oder es gibt statt eines Gottes nur ein sehr abstraktes Weltenprinzip wie im Taoismus.
Noch schwieriger wird die Sache beim Buddhismus, der sogar dieses Grundprinzip noch hinter sich lässt und nur einigen die Wirklichkeit konstituierenden Prinzipien so etwas wie letzte Realität zubilligt (Unbeständigkeit, Nichtexistenz eines Selbst und damit zusammenhängend die Leerheit aller Dinge sowie Nirvana in der traditionellen Auflistung; man könnte noch das Gesetz von Ursache und Wirkung = Karma hinzufügen). Nach hinduistischer Auffassung wäre es zutreffend davon zu sprechen, dass man sein wahres, göttliches Wesen (Atman) entdecken solle, was westlichen Vorstellungen durchaus nahe kommt. Nach buddhistischer Auffassung wäre eine solche Aussage in der Vorstellungswelt des gewöhnlichen Alltagsmenschen stecken geblieben. Der Buddhist wäre allenfalls zufrieden, wenn er von sich behaupten könnte, die Sicht auf sich als eines eigenen Wesens ganz überwunden zu haben. Und damit tun sich westlich zivilisierte Menschen schwer. Kein Gott - kein wahres Wesen; so könnte man einen buddhistischen Slogan formulieren. Dennoch ist gerade der Buddhismus mit seinen vielfältigen Formen einer höchst differenzierten spirituellen Praxis, mit seinem ethischen Anspruch (der deutlicher als im Hinduismus hervorscheint) und vor allem mit seiner praktischen und in die Lebenswirklichkeit heutiger okzidentaler Menschen übertragbaren Anleitung zum Glücklichsein eine willkommene Bereicherung der letzten Jahrzehnte.
Freilich gibt es zahlreiche Angebote, die einen Buddhismus in light-Version anbieten, der die Klippen des eigentlichen fernöstlichen Systems gekonnt umschifft und nur das nach Nordamerika oder Europa importiert, was für hiesige kulturelle Dispositionen leicht genug verdaulich ist. Doch glücklicherweise gibt es auch genügend europäische, amerikanische und asiatische buddhistische Lehrer im Westen, die einen authentischen und genuinen Buddhismus lehren. Und wer sich mit diesem nicht nur vertraut, sondern sich ihn auch zueigen machen möchte, der stößt sogleich auf eine der oben bereits angesprochen Hürden.
Kann man sich Religion ohne Gott vorstellen?
Das kommt darauf an, was man unter Religion und was man unter Gott versteht. Das Wort Religion stammt vom lateinischen religio, das seinerseits vermutlich eine Ableitung von religare = anbinden ist. Religion ist die Anbindung an etwas. An ein unverständliches, weil transzendentes Etwas kann man sich nicht binden. Religion bezieht sich zwar auf Transzendentes, bedarf aber immer der Vermittlung durch Vorstellbares (je nach der individuellen Stufe der geistigen Entwicklung). Bindung ist nur möglich gegenüber etwas oder jemandem, dasoder der mir irgendwie verständlich ist. Einerseits also ist Religion nicht möglich gegenüber einem Abstraktum wie "Nirvana". Andererseits möchte ich den Begriff Religion aber in einem weiteren, zweigeteilten Sinn auffassen: als persönliche und als unpersönliche Religion. Bindung kann nämlich zweierlei bedeuten: es kann sich um eine emotionale Bindung handeln oder um eine abstrakte, an eine (vorstellbare) Idee oder Überzeugung. Im Fall der emotionalen Bindung funktioniert diese natürlich nur gegenüber einem persönlichen oder zumindest als Person vorgestellten Gegenüber. Im Falle der Bindung an eine Idee hingegen muss ich die Idee verstehen können, sie muss mir angenehm sein und ich muss sie in mein Selbstbild integrieren können. Dann kann ich auch von religiöser Bindung an einen eher abstrakten Gednkaen sprechen. Somit setzt Religion voraus, dass etwas da ist, an das ich mich binden kann, etwas das ich verstehen kann, aber nicht, dass es sich um eine Person handelt. Es gibt keine Religion, die nicht eines von beidem vorgibt. In allen mir bekannten Religionen handelt es sich entweder um ein oder um mehrere nicht-physische Personen oder aber (wie im Buddhismus und Taoismus) um abstrakte, aber verständliche Ideen. Diese werden dann häufig noch durch Personen versinnbildlicht, so dass die einfacherer Bindung an eine Person auch hier möglich wird. Beide Formen von Religion mögen sich ganz wesentlich unterscheiden, sie haben aber gemeinsam, dass sich ein Mensch an etwas bindet und zwar aus ganzem Herzen, an etwas, das er verstehen und erfassen kann.
Der Unterschied zwischen der Religion die einen persönlichen Gott (oder mehrere Götter) enthält und einer solchen, bei der dies nicht der Fall ist, liegt lediglich im Niveau der angezielten Abstraktion. Das Christentum hört unter dieser Perspektive an einem Punkt mit dem Nachdenken auf, an dem der Buddhismus erst anfängt. Auch der Buddhismus kennt Götter und Gottheiten sowie diesen noch übergeordnete Wesen, nämlich Buddhas. Aber erstere stehen, verglichen mit dem Christentum, eher im Rang von Engeln, während die Buddhas Aspekte der letzten Wirklichkeit sind und somit den Personen des dreifaltigen Gottes durchaus ähneln. Obwohl der Vergleich gewagt erscheint, gibt es doch auch im Buddhismus eine Dreiteilung des Buddhas, die vielleicht sogar noch mehr Parallelen zur Dreifaltigkeit aufweist, nämlich die Unterscheidung in einen Wahrheitskörper (dharmakaya), den ganz im absoluten Existierenden, einen Freudenkörper (samboghakaya), der zwischen beiden vermittelt wie der Heilige Geist und einen Ausstrahlungskörper (nirmanakaya), der menschliche Gestalt besitzen kann wie Jesus. Viele Theologen und buddhistische Gelehrte wehren sich gegen solche gewagten Vergleiche. Mir gefallen sie. Um ehrlich zu sein: ich halte die Diskussion, ob man den christlichen Gott und den Buddha miteinander vergleichen darf, für ziemlich spitzfindig. Es ist insbesondere dann recht spitzfindig, wenn wir uns klar machen, dass wir über eine Wirklichkeit reden, die kein gewöhnlicher Mensch aus eigener Anschauung kennt, und die so grundlegend anders ist von dem, was dieser gewöhnliche Mensch kennt, dass es selbst für höchstgradig Erleuchtete schwer zu sein scheint, irgendetwas Verständliches darüber auszusagen. Deshalb erscheint es mir legitim, Parallelen festzustellen, wo sie erkennbar sind (ohne dass sie in historischem Zusammenhang zu stehen brauchen, denn hier geht es - meine ich - um archetypische Erfahrungen, die überall auf der Welt auftauchen). Zugleich dürfen die Unterschiede nicht unter den Tisch gekehrt werden. Denn neben manchen Parallelen ist der Buddha niemals allmächtig und niemals absolut autonom wie Gott (er gilt sogar als Projektion des Geistes), der Buddha selbst ist nur relative Wirklichkeit, also bedingt durch Bewusstsein, er ist die letzte Wirklichkeit, aber nicht die letzte Ursache von allem, wie der christliche Gott es sein soll. Festzuhalten bleibt somit zugleich ein wesentlicher Unterschied: Buddhas sind nicht allmächtig - und damit umgeht der Buddhismus das oben aufgezeigte grundsätzliche Dilemma, das dann entsteht, wenn man einen Gott für allmächtig und zugleich absolut gut hält.
Stellen wir uns nun einmal folgendes vor: Jemand kniet mit gefalteten Händen vor einem Altar und betet zu dem höchsten Wesen, das er sich vorstellen kann - und er kann es sich recht plastisch vorstellen. Er bittet dieses Wesen um Hilfe bei seinem spirituellen Fortkommen. Und schließlich weiß er, dass das Wesen ihn den weiteren Tag über begleiten wird. Eine Religion, die dieses persönliche Verhältnis ausschlösse, wäre vermutlich zum Scheitern verurteilt. Ich bin mir sicher, dass ein Großteil der Buddhisten zu allen Zeiten immer wieder so gebetet hat, obwohl es nicht das ist, worauf der Großteil der buddhistischen Schulen ihren Schwerpunkt legt. Und doch ist das Wesen, zu dem der buddhistische Praktizierende beten kann, dem Westler ziemlich fremd. Ob die tibetische Tara oder der japanische (eigentlich universell-buddhistische) Amida, mit keinem kann sich der im Westen Aufgewachsene so leicht anfreunden. Es bleibt ihm also nur der Rückgriff auf Glaubensvorstellung aus seiner eigenen Kultur. Und da findet er dann ein fertiges Gottesbild vor - ein Bild, das Gott plastisch machen soll: Jesus von Nazareth (denn Gott-Vater bleibt gesichtslos). Dieser Jesus aber ist als historischer Mensch verknüpft mit einer merkwürdigen Geschichte von Kreuzigung und Kirche, die unser hypothetischer Sucher ja hinter sich zu lassen gedachte. Ein Dilemma entsteht, das schwer zu lösen scheint: entweder er wird Buddhist und ersetzt, zum Beispiel, Amida durch Jesus oder aber er muss zu einem Wesen Zuflucht nehmen, das er noch weniger kennt als den Gott seiner Herkunftskultur.
Da bleibt nur noch der Ausweg des Verzichts auf eine persönliche Gottesbeziehung. Da Gott anerkanntermaßen auch im Christentum der ganz Andere ist, kennt unser Westler eigentlich den Gedanken schon, den er in allen drei großen fernöstlichen Systemen wiederfindet: Gott als abstraktes Prinzip anzusehen, das - anders als im Westen - die spirituelle Praxis unmittelbar und unabdingbar einschließt. Ohne Meditation und kontemplatives Nachdenken kein spiritueller Fortschritt, ohne spirituellen Fortschritt keine Religion (denn Religion in diesem Sinne ist nichts anderes als spirituelle Erkenntnisfähigkeit zu erwerben)! Eine solche Religion ohne die kulturelle Einbettung, die sie traditionellerweise natürlich hatte, verkommt leicht zur Psychotechnik um der eigenen Selbstverwirklichung willen, ohne das eigentliche spirituelle Prinzip dahinter noch zu beherzigen. Also sind Gemeinschaften nötig, die einen vor dem Ego-Trip bewahren. Wo aber soll der Mensch in Europa oder Amerika, der nicht gerade in einer Megalopolis lebt, eine seriöse Gemeinschaft buddhistischer oder hinduistischer Praktizierender finden, die auch noch seinen menschlichen Ansprüchen genügt?
Wo bleibt die Liebe?
Ein wesentliches Prinzip des Christentums ist die Liebe Gottes zum Menschen. Dieser soll der Mensch nachfolgen, indem er seinerseits wiederum seinen Nächsten liebt wie sich selbst. Der mystische Sufismus stellt die Liebe zu Gott in den Mittelpunkt seines Bemühens. Im Hinduismus gibt es die Bhakti-Praxis, die etwas ähnliches, die hingebungsvolle Liebe zum Göttlichen, fordert. Im Buddhismus und Taoismus scheint die Liebe hingegen etwas kurz gekommen zu sein. Im Buddhismus spricht man hier vorrangig von Mitgefühl (karuna), während Liebe (maitri) im Kanon buddhistischer Tugenden zwar vorkommt (eine der vier Brahmaviharas), jedoch keinen besonderen Stellenwert einnimmt.
Zudem lassen sich weder aus dem Bhakti-Yoga, dem buddhistischen Maitri oder dem sufistischen Prinzip der Gottesliebe klare Schlussfolgerungen für das Ableiten, was im Christentum praktische Nächstenliebe heißt. Zwar gibt es einen sozial engagierten Buddhismus, dessen historisch bedeutsamste Organisation die Mahabodhi Society in Indien darstellt und dessen aktuell herausragendster Fürsprecher wohl Thich Nhat Hanh in Frankreich ist. Aber keiner hat wohl jemals davon gehört, dass dieses soziale Engagement die Ausmaße der christlichen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht hat. Dabei ist der Buddhismus nicht gleichgültig gegenüber dem Leiden der Menschen und Tiere. Er hält es lediglich für völlig überflüssig, es durch praktische Maßnahmen zu lindern, die ohnehin nur kurzfristige Wirkungen erzielen. Dagegen scheint engagierten Buddhisten und Christen jede Form der Linderung von Leiden - praktische Hilfe und spirituelle Wegweisung - angebracht zu sein, wenn man wirklich vom Leiden anderer Wesen betroffen ist. Der Mangel an klaren Aussagen und Strukturen in diesem Bereich führt dazu, dass engagierte Menschen im Westen sich oft von einem eher auf das Individuum bezogenen Ansatz wie dem buddhistischen (oder hinduistischen) abgestoßen fühlen. Sicherlich ist auch der Satz richtig, dass die Veränderung zum Guten immer bei einem selbst beginnen sollte und man niemandem wirklich helfen kann, solange man selbst der Hilfe bedarf. Andererseits sollte auch ein Buddhist erkennen, dass die praktische Nächstenliebe zu einer positiven Veränderung des eigenen Selbst dient, wie es das Christentum lehrt. Auch dafür steht Jesus von Nazareth - und der Verlust des Bezugs zu ihm als Mittelpunkt eines religiösen Glaubens bedeutet den Verlust eines Vorbilds in kämpferischer, engagierter Nächstenliebe. Das andererseits macht Jesus auch für manchen kritischen oder ehemaligen Christen zu einem "transzendenten Freund", den man nicht leichtfertig aufgibt.
Ein anderer Aspekt betrifft die Liebe zu Gott, die sich ein Buddhist nur dann vorstellen kann, wenn er sich noch auf der Stufe der Religiosität aufhält, wo persönliche Beziehungen zu höheren Wesen sinnvoll sind. Das ist beispielweise im Amida-Kult in Japan der Fall. Da aber gerade das Gefühl des Ergriffenseins durch Liebe enorme Energien freisetzt, die spirituell nutzbar sind, vermisst der gläubige Christ, der solches einmal erfahren hat und sich dann dem Buddhismus, vielleicht gar dem strengen Zen zuwendet, schnell das Feuer, das ihn in seinem Glauben überhaupt erst bestärkt und angetrieben hat. Ohne dieses Feuer der Motivation aber ist auch die spirituelle Praxis bald eine unangenehme Pflichtübung. Der Buddhismus kann von den erwähnten Religionen lernen, die Leidenschaft göttlicher Liebe als spirituelles Wirkprinzip zu integrieren. Ohne dies ist er für viele Menschen sicherlich schnell fade und unattraktiv.
Interreligiosität als Alternative
Religiöser Pluralismus
Im ersten Teil kam bereits zur Sprache, wieso das Christentum als monotheistische Religion mit seinem Alleinanspruch auf die religiöse Wahrheit sich dagegen verwehren muss, dass Religionen miteinander kombiniert werden und jeder sich seine eigene Religion "nach eigener Phantasie und eigenem Geschmack zusammenzimmert". Wesentlich dafür sind drei Fundamente, die den rechtgläubigen Christen charakterisieren: nämlich der Glaube an die Bibel als einzig wahre heilige Schrift, an Jesus von Nazareth als einzig wahren Gottmenschen - und an die christliche Gemeinschaft (für manche: die katholische Kirche) als einzige menschliche Institution, die den wahren Glauben vertritt. Dieser dritte Teil des Aufsatzes über Interreligiosität soll ein Plädoyer dafür liefern, sich nicht durch die konservativ-christliche Position beeindrucken zu lassen, derzufolge es keine wahre Religion neben dem Christentum und somit keine wahre Religiosität geben kann, die sich anderer als christlicher Methoden bedient.
Die Gesellschaft, in der wir leben, hebt sich von anderen zugleich oder in früheren Zeiten existierenden Gesellschaften durch einige Merkmale ab, die mit Schlagworten wie "Informationsgesellschaft", "Risikogesellschaft", oder "Pluralismus" bezeichnet werden. Pluralismus bedeutet in dem hier gebrauchten Sinn, dass der einzelne unter mehreren philosophischen oder religiösen Systemen wählen kann, dass seine Werte und grundlegende Prinzipien seiner Einstellungen nicht für ihn vorbestimmt sind, sondern von ihm selbst gefunden werden müssen. Das sorgt für Probleme einerseits, Chancen andererseits. Religiöser Pluralismus bedeutet, sich für eine unter mehreren Religionen entscheiden zu können. Es bedeutet aber auch, sich für eine Religion entscheiden zu müssen, insofern es sich nicht um einen Scheinpluralismus handelt, wo es zwar theoretisch möglich wäre, eine andere als die übliche Wahl zu treffen, aber aufgrund irgendeines sozialen Drucks eine solche Wahl praktisch nicht vorkommt. Die Unmöglichkeit, sich nicht zu entscheiden, ist ein typisches Kennzeichen einer Gesellschaft mit fast unbegrenzten Wahlmöglichkeiten. Das gesellschaftliche Phänomen des Pluralismus zu bewerten, ist hier nicht der richtige Ort. Es als gegeben zu akzeptieren ist jedoch unvermeidlich.
Ein Schreckgespenst für jeden rechtgläubigen Theologen geht seit Jahrzehnten in der Gesellschaft nach Woodstock um: der Gebrauch fremder Riten und Gebräuche in Kombination mit den althergebrachten christlichen Glaubensformen zieht sich durch alle Kreise von jungen wie älteren Gläubigen. Um so heftiger waren in den siebziger und vor allem achtziger Jahren die Reaktionen der neu bestellten Sektenbeauftragten beider großer Kirchen. Pluralistische Religiosität ist mit christlichen Heilsansprüchen unvereinbar. Aber was sonst spricht gegen die Vermischung verschiedener, inzwischen fast unbegrenzter religiöser Angebote?
Da gibt es Scharlatane und psychisch Kranke mit religiöser Strahlkraft, die ihre Gläubigen in die geistige Verwirrung oder den Massensuizid treiben, Prediger, die ihr eigenes Seelenheil vor allem in hohen wirtschaftlichen Profiten suchen. Es gibt Gläubige, die nicht wissen, wie sie sich auf dem Markt der hunderttausend Möglichkeiten orientieren können. Es gibt Gefahren von psychischer Abhängigkeit bis hin zum Ausgeliefertsein gegenüber menschenverachtenden Organisationen. Menschenverachtung konnte schon immer gut unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit verbreitet werden. Das ist die dunkle Seite des Pendelschlags, den man immer in Kauf nehmen muss, will man die helle Seite nicht aufgeben: statt "cuius regio, eius religio" - selbst wählen zu können, was man glaubt und was nicht; statt ins Gefängnis zu kommen, weil man öffentlich eine abweichende religiöse Botschaft vertritt, schlimmstenfalls in einer Talkshow verspottet zu werden; nicht die Zunge abgeschnitten zu bekommen, weil man unerwünschte Meinungen äußert und so weiter. Wenn man relativ große individuelle Freiheit und Wahlmöglichkeiten (Pluralismus) möchte, muss man auch die Qual der Wahl (im Extremfall Orientierungslosigkeit) und die Möglichkeit, eine falsche Wahl zu treffen (bis hin zu existenziellen Fehlentscheidungen), als gegeben hinnehmen. Pluralismus setzt Verantwortung für das eigene Wählen und Entscheiden voraus. Wer diese Verantwortung für sich selbst nicht übernehmen kann, benötigt Hilfe, aber nicht Zwang oder Druck zu einer bestimmten Wahl. Dem einzelnen diese Hilfe zu gewähren ist die Pflicht einer pluralistischen Gesellschaft. Vielleicht liegt es daran, dass die weiterhin christlich dominierten Staatsgebilde Europas sich noch nicht offiziell als pluralistisch definieren, aber man muss sich doch wundern, wieso diese Aufgabe der Gesellschaft - dem einzelnen bei seiner Wahl zu helfen - nicht deutlicher als ein staatlicher Auftrag betrachtet wird, wodurch dann das Paradoxon entsteht, dass Menschen, die Hilfe bei der Auswahl zwischen den Angeboten unserer pluralen Gesellschaft benötigen, sich zunächst einmal zwischen den Angeboten von psychologischen und sozialarbeiterischen Beratern, Ärzten und Arbeitsvermittlern, Theologen und guten Freunden entscheiden müssen. Doch auch für den, der schließlich Hilfe erhält, ist es letztlich seine eigene Aufgabe zu wählen. Und das gilt auch für den religiösen Bereich. Wer also auf die scheinbaren Sonderangebote im Supermarkt hereinfällt, weil er es versäumt hat, auch bei der Konkurrenz nebenan zu vergleichen, der hat die spezifisch pluralistische Form der Verantwortung für seine Auswahl nicht wahrgenommen. Diese besteht darin, sich ausreichend zu informieren, die Entscheidung nach ausreichend präzisen Kriterien zu treffen, mündig genug zu sein, um zu wissen, was man wählt.
Pluralistische Religiosität weist bereits über die freie Wahl hinaus in den Bereich des frei Geschaffenen. Ich darf im Pluralismus eben nicht nur wählen, was der Markt an Möglichem bietet, ich darf ihm auch selbst ein Angebot hinzufügen und ihn damit bereichern. Hier kommt der Begriff der Interreligiosität ins Spiel, der über die Auswahl aus bestehenden religiösen Angeboten hinaus geht und die Möglichkeit betont, sich seine eigenen religiösen Überzeugung nach eigenen Gesichtspunkten zusammenzustellen. Dies ist das eigentlich illegitime, was die Hüter der althergebrachten Religionsbegriffe besonders entsetzt. Und ihre Kraft ist deutlich spürbar. Kreativ zu sein gilt als ein hoher Wert in allen Bereichen - nur nicht im Religiösen. Religiöse Kreativität gilt als versponnen, wird - typisch christliches Vorurteil - sofort mit missionarischem Eifer und religiösem Wahn in Verbindung gebracht. Aber ist es denn wirklich so viel anders, sich auch in diesem Bereich eine eigene Meinung zu bilden als täte man dies bezüglich der Politik der Regierung oder bei der Aufgabe, sich seine eigene künftige Biographie zu entwerfen (ein sehr leichtsinniges Unterfangen, dem die meisten von uns sich mit der trügerischen Gewissheit hingeben, sie könnten in die eigene Zukunft blicken). Religiosität scheint mir letztlich viel weniger das zu sein, was eine Institution wie die Kirche als solches definiert, sondern ein menschliches Erleben und Verhalten. Wenn ich mit meinem Glauben nichts erlebe und er keinen Einfluss auf mein Verhalten hat, habe ich zwar eine Religion aber keine Religiosität, eine Kirche, aber keinen Glauben. Religiosität im Sinne von Spiritualität hat mit Erleben zu tun, nicht mit dem Befolgen eines bestimmten Lehrsystems. Und dieses Erleben ist immer nur mein eigenes.
Erfahrungsreligion
Gautama Siddharta, den die Buddhisten Buddha nennen, warnte seine Schüler davor, an ihn und seine Lehre zu glauben. Statt zu glauben sollten sie lieber selbst testen, ob das, was sie von ihm lernen konnten, auch hielt, was es versprach. Der religiöse Sucher als Leiter eines selbst konstruierten lebenslangen Experiments, als mündiger, prüfenden Kritiker dessen, was man ihm als Wahrheit verkauft. Der Buddha wünschte sich einen solchen Anhänger, keinen, der nur Ja und Amen sagt. Damit entzieht sich der Glauben nicht länger der Sphäre des Überprüfbaren, er wird zum Gegenstand einer rationalen Erfahrungswissenschaft, allerdings keiner Naturwissenschaft nach dem alten physikalischen Paradigma (mit wiederholbarem, von jedermann kontrollierbarem Experiment), sondern einer Wissenschaft nach dem neuen physikalischen Paradigma oder nach dem qualitativen Ansatz in den Sozialwissenschaften (Quasiexperimente mit unzähligen Einzelfallstudien). Eine solche Erfahrungsreligion ist viel leichter als Scharlatanerie zu entlarven als eine Religion, die von sich in Anspruch nimmt, per se unüberprüfbar zu sein (wie der Glaube derjenigen, die erwarten, dass in einer bestimmten, nahen Zukunft Harmagedon oder ein intergalaktischer Kontakt über uns hereinbrechen soll und der nur solange funktioniert, wie der vorhergesagte Zeitpunkt nicht eintritt, womit der Glaube überprüfbar würde). Eine solche Erfahrungsreligion widerspricht dem Argument des Atheismus, Religion sei "nur vorgestellt" und habe keine realen positiven Auswirkungen. Eine solche Erfahrungsreligion ist auch das Prinzip, nach dem sich der einzelne seine eigene Form von Religion konstruieren kann: was hilft, ist gut. Was besser hilft, ist besser. Wie in der Medizin auch heute noch der alte Grundsatz gilt "Wer heilt hat recht", so gilt auch in der Religion qua Erfahrungsreligion: Was dem Gläubigen zu spirituellem Fortschritt verhilft, ist das richtige für ihn oder sie.
Somit wird "spiritueller Fortschritt" zum Kriterium für den Wert einer Religion. Christliche Apologeten werden im Viereck springen, wenn man von Wert und Bewertung einer Religion spricht, aber tatsächlich ist der Prozess der Auswahl in einer pluralistischen Gesellschaft natürlich nur möglich, wenn eine Bewertung möglich ist. Spiritueller Fortschritt erscheint sinnvoller als Kernkriterium zur Bewertung einer Religion als andere mögliche Kriterien wie zum Beispiel psychische oder physische Gesundheit oder gesellschaftlicher Erfolg, die weniger direkt auf die Inhalte von Religion abzielen und eher periphere Kriterien zu sein scheinen. Andere Maßstäbe zur Beurteilung einer Religion wie ihr ethischer Gehalt, ihre soziale Verantwortung lassen sich nur vor den Prämissen der Religion selbst beurteilen. So ist für den gläubigen Hindu die Forderung, Kühe wie Freunde zu behandeln und Ratten im Tempel zu füttern unter Umständen ein ethisches Gebot, anhand dessen er das Christentum für ausgesprochen verantwortungslos halten wird. Der einzige interreligiös überprüfbare Maßstab wäre hier also das Verhältnis zwischen Worten und Taten, zwischen ethischem Anspruch und Umsetzung ihrer Anhänger. Dasjenige Kriterium, das dem Kern der Definition des Religiösen am nächsten kommt und das deshalb als Kernkriterium - in Abgrenzung zu akzidentellen oder zusätzlichen Kriterien - am meisten Gewicht beanspruchen darf, scheint doch eher damit zu tun zu haben, dass Religion auf eine transzendente Dimension abzielt. Und wenn eine Religion nicht Glaubens-, sondern Erfahrungssache sein will, muss sie sich daran messen lassen, wie tief sich diese transzendente Dimension dem Gläubigen nach einer gewissen Zeit der Übung in der jeweiligen Religion erschließt. Dies ist mit spirituellem Fortschritt gemeint: die Tatsache, dass Erfahrungsreligionen nicht darauf abzielen, einen statischen, sondern einen dynamischen Bezug zum Transzendenten zu schaffen, mithin eine Entwicklung einschließen, die vom Irdischen zum Überirdischen geht. Im Christentum wären es vor allem die mystischen Formen religiöser Praxis, die in diesem Sinne als Erfahrungsreligion anhand des dadurch möglichen spirituellen Fortschritts überprüfbar wären. Der Buddhismus versteht sich meines Erachtens ganz und gar als eine solche Erfahrungsreligion.
Und noch einen weiteren Aspekt beinhaltet der Begriff der Erfahrungsreligion: die kritische Überprüfung nicht nur der Wirkungen des eigenen Glaubens, sondern auch der eigenen Person des Gläubigen. Erfahrungsreligion meint eine ständige Kontrolle und Korrektur des eigenen Weges, ist das Gegenteil von dogmatischer Treue gegenüber einmal als vermeintlich wahr erkannten Lehrsätzen oder Glaubensformen. Der Begriff schließt die Bereitschaft mit ein, sich mit dem eigenen Glauben immer wieder von anderen in Frage stellen zu lassen, und zwar nicht, um durch die Kritik des anderen meine eigenen Argumente zu stärken, sondern um sich selbst zu hinterfragen und gegebenenfalls den eigenen Glauben zu modifizieren. Die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Überzeugungen zu verändern, sind Teil jeder auf Erfahrung aufbauenden Wissenschaft und somit so sehr Bestandteil dessen, was mit Erfahrungsreligion gemeint ist, dass ein sehr konsequenter buddhistischer Orden - der Order of Interbeing von Thich Nhat Hanh - den Verzicht auf feste Glaubenssätze sogar zu einem seiner Gelübde gemacht hat.
Formen und Stufen des Religiösen
Das Prinzip, dass jedem religiösen Menschen seine eigene Form der Religiosität frei wählbar zur Verfügung stehen sollte, schließt eben auch mit ein, dass sich Menschen von einer Religiosität angezogen fühlen "dürfen", die allen spirituellen Fortschritt in die Hand eines allmächtigen Gottes legt, die vielleicht sogar gar keinen spirituellen Fortschritt, sondern nur die Befolgung göttlicher Gebote kennt (der orthodoxe Islam und der orthodoxe mosaische Glaube scheinen mir so zu funktionieren). Eine Bewertung der einen oder anderen Form von Religiosität ist vermessen, wenn auch jedem, der im pluralistischen Dilemma steckt, sich zwischen allen möglichen Angeboten entscheiden zu sollen, klar sein muss, welche Konsequenzen die Hinwendung zu diesem oder jenem Glauben hat. Die Kriterien zur Beurteilung müssen klar sein, aber ob ihre Anwendung den Prüfenden dazu bringt, sich für oder gegen eine bestimmte Religion zu entscheiden, hängt im Pluralismus viel mehr von seinen eigenen Präferenz ab als davon, dass die eine Religion wahrer ist als die andere. Wer in religiösen Dingen eine Tochter-Vater-Beziehung vorzieht wird eine entsprechende Form der Religiosität ebenso finden wie einer, der von Bruder zu Bruder mit Gott kommunizieren will. Keine von beiden Formen ist der anderen überlegen. Sie mögen unterschiedliche Auswirkungen auf den Gläubigen haben, aber was sollte die eine "besser" machen als die andere? Manche tibetischen Schulen teilen religiöse Praktiken auf in Wirksamkeiten, je nachdem, welche Ziele damit zu erreichen sind. Aber es wäre Unsinn, wenn ein Lama behauptete, die Sutra-Praxis sei die schlechtere Praxis, Tantra die bessere, Buddhismus die bessere Religion, Christentum die schlechtere. Nach dem Grundsatz "jedem das seine" ist die Religion die beste, die am besten auf die Bedürfnisse des jeweiligen Gläubigen abgestimmt ist (wie auch der Dalai Lama nicht müde wird zu betonen).
Leider hat sich die Ansicht noch nicht weit genug herumgesprochen, dass Religion eine Grundeigenschaft des Homo sapiens ist, eine Eigenschaft, die es immer gab, solange es die Gattung Homo sapiens gibt und die nur bei einer besonders degenerierten Form unserer Tage ausgesetzt zu haben scheint (dem homo afides, dem ungläubigen Menschen). Leider hat sich noch nicht überall die Erkenntnis durchgesetzt, dass Religiosität so selbstverständlich zum Menschsein gehört wie Liebe und Neugier: der eine hat mehr, der andere weniger davon, aber ganz und gar nicht gibt es nicht. Denn wenn dies allgemein bekannt wäre, hätte man den monotheistischen Dünkel leichter überwunden. Man hätte akzeptiert, dass es für den Begriff der Religiosität keine Rolle spielt, ob man Christ ist oder ein Anhänger der brasilianischen Form des Woodoo, ob man sich Shiva anvertraut oder Allah. Religiosität ist psychologisch betrachtet die Einstellung, dass diese Welt nicht die einzige ist, mit all den Folgen, die sich daraus im Handeln und Bewerten des Alltags ableiten. Religiosität hat mit positiven Gefühlen gegenüber dieser anderen Wirklichkeit zu tun (der Begriff sagt nichts aus über die Gefühle gegenüber dieser Welt). Religiosität ist aus der Perspektive des religiösen Menschen betrachtet, die Hinwendung zur eigentlicheren und wichtigeren Realität, die nicht-religiösen Menschen verborgen bleibt. Und Religiosität ist der in verschiedenen Formen stattfindende Versuch, eine Verbindung zu dieser anderen Realität aufzunehmen - so oder so. In diesem Sinne ist Religiosität universell. Sogar manche ihrer Inhalte tauchen immer wieder auf: archetypische, die gesamte Menschheit betreffende Symbole sind Wegweiser zu der einen, aber stets wandelbar sich darstellen transzendenten Wirklichkeit.
Wenn all dies religiöse Menschen überall auf der Welt verbindet, scheint sie nicht mehr untereinander zu verbinden als sie gemeinsam von ihren nicht-religiösen Schwestern und Brüdern trennt? Wenn diese andere Realität, nach der sie streben, unser Vorstellungsvermögen doch so weit übersteigt, dass sie ohnehin nur per Analogieschluss in unser Denken Eingang finden kann, warum sollte nicht jede Kultur und jeder Mensch sich die Form des Religiösen suchen, die ihm am ehesten entspricht? Glauben Sie im Ernst, dass es für Gott, den ganz anderen, der keinen Namen hat, kein Gesicht und Bildnis, das ihm entspricht, dass es für diesen Gott einen Unterschied macht, ob man sich ihm nähert, indem man ihn sich hilfsweise als Shiva oder als Jesus von Nazareth vorstellt? Macht es für Ihn einen Unterschied, Ihn, der alles zugleich ist, in dem alles ist, außerhalb dessen nichts existiert? Ist Ihm die hingebungsvolle Liebe, das völlige Versunkensein eines indischen Sufi im göttlichen Licht lieber oder weniger lieb als die religiöse Begeisterung in einer Erweckungsbewegung? Und wenn es für Sie, die Göttin, keinen Unterschied macht, wie Sie vorgestellt oder angebetet wird, wie Menschen versuchen, sich Ihr anzunähern, macht es dann nicht wenigstens einen Unterschied für den Menschen, der sich Ihr annähert? Hier liegen meines Erachtens die entscheidenden, nämlich psychologischen und sozialen Unterschiede zwischen den Religionen.
Die eine von der anderen Religion zu unterscheiden ist kaum möglich aus der Perspektive der Wahrheit, denn das würde voraussetzen zu wissen, was Gott wirklich ist, und das weiß Gott allein. Es ist aber möglich nach dem neutestamentarischen Satz: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen". Und die Früchte der religiösen Überzeugungen sind die äußerlich sichtbaren sowie die nur innerlichen, dem Religiösen selbst zugänglichen psychologischen Wirkungen der Religion, des weiteren ihre sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen. Hier liegen die zusätzlichen Kriterien zur Auswahl aus dem religiösen Angebot, neben dem oben angesprochenen Kernkriterium der spirituellen Entwicklungsmöglichkeit. Ich kann mich für eine Religion entscheiden, weil ich sie für sozial verträglicher halte oder weil sie mir besser erklärt, wie ich mit meinem individuellen Leiden umgehen kann. In jedem Fall werde ich als mündiger Gläubiger die Religion vorziehen, die meine eigenen existentiellen Fragen am besten beantworten kann. Denn es ist der existentiell Suchende, der Mensch, der sich vor die großen Fragen seines eigenen Lebens gestellt sieht, der nach Religion sucht, und Religion ist nach wie vor die wesentlichste Antwort auf die fundamentalsten aller Fragen, die Fragen nach Sinn und Ziel und großen Zusammenhängen, die Fragen nach Dasein und Tod. Je nachdem, welche Frage sich mir gerade am dringlichsten stellt, dementsprechend wird meine Religiosität ausfallen. Dass dabei mancher religiöse Sucher Fragen eines ethischen Gemeinschaftslebens für eine gewisse Zeit gar nicht in Erwägung ziehen mag, ist bedauerlich für seine Mitmenschen, aber eine Tatsache, der man sich eher gesamtgesellschaftlich stellen muss (denn hier geht es um die Frage, ob der Pluralismus ethisch neutral bleiben darf, was nicht das gleiche ist wie die Frage nach der Existenzberechtigung des Pluralismus). Auch wenn wir soziale und psychologische Wirkungen von Religion als Kriterium für ihre Bewertung betrachten, gilt also Blaise Pascals (von Brecht aufgegriffener) Satz, man habe sich schon entschieden religiös zu sein, wenn man feststellt, dass der religiöse Glaube einem hilft zu leben. Es geht um die individuelle Bedeutung der Religion für den einzelnen. Und dennoch ist dies nicht der Ausverkauf der ethischen Botschaft der Religion. Jeder, der sich mit religiösem Gefühl und religiöser Überzeugung, mit dem Anspruch der Erfahrungsreligiosität einschließlich ihrer Bereitschaft zur Selbstkritik auf ein überweltliches Ziel hin ausrichtet, ist - so meine ich - auf dem besten Weg zu jener Wahrheit, die sich nicht mit irdischen Begriffen einfangen lässt und von sich aus jeden früher oder später zu ethischer Verantwortung führt. Denn hier erweist sich erst, was Interreligiosität erst ermöglicht und was Goethe so ausdrückte: "Und so hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit und es ist doch immer die selbe".
Was ist Religion im Zeitalter des Plurali