@quetzalqoatlNa Nina
Apropos Risiko,mir ist gerade ein schöner Text in die Hände gefallen...also Deutsch ist mir schnurzpiepe,aber Berliner sein bedeutet herrlich krank sein zu dürfen und sie alle zu ficken...selbst noch aus der Grube wenns sein muss
Das hätte Christian Huth gefallen. Dass ein alter Freund bei seiner Beerdigung erstmal auf dem falschen Friedhof landet, und dann rennen muss wie ein Blöder, um noch rechtzeitig ans richtige Grab zu kommen. "Chris hätte sich kaputtgelacht. Er hatte immer was übrig für Situationskomik!" Gerade noch geschafft, mit hängender Zunge, um eine Handvoll Erde auf die Urne rieseln zu lassen. Ein anderer schüttet eine Flasche Schnaps hinterher: "Goodbye Chris!" Viele alte Bekannte und Freunde sind zum Abschied gekommen. Die Erwachsengewordenen und die ewigen Berufsjugendlichen mit den verwitterten Gesichtern. "Bist du ditt? - Mann, siehst du scheiße aus!" Vielleicht hätte sich Chris auch darüber gebogen vor Lachen. Einer nimmt einen Schluck aus einem silbernen Flachmann. Ein Glucksen. Ein Seufzen. Man spürt, wie sehr sie alle Chris Huth mochten.
Was müssen sie da noch groß sagen über ihn?
Dass er ein "Künstler ohne Werk" war? Ein bisschen wie Neal Cassady, der Held aus Jack Kerouacs Roman "On The Road"? Ein Abgrundforscher mit Selbstversuch? Einer, der ungewöhnlich warmherzig und freundlich war, inmitten einer "coolen" Szene, wo sonst eher eine gewisse Gefühlshärte kultiviert wurde.
Irgendwann werde sicher jemand ein Buch schreiben über diese Szene, die sich einmal als "Avantgarde" gefühlt hatte im Berlin der 80er-Jahre: die Musiker, die Bands, die Fotografen, die Schriftsteller, die Kinos, die Kneipen. Die Drinks und die Drogen. Hochprozentig Liquides und diverse weiße Pülverchen. Ideen, Ideen, Ideen. In kurzen Sätzen. Gedankenfetzen. Machen, machen, machen. Drei Tage wach am Stück. Nicht schlafen bis man umfällt. Und wieder von vorne. Neu anfangen. Neu machen. Neue Ideen. Neue Projekte. Neue Zusammenbrüche.
Ja, irgendwann wird jemand so ein Buch schreiben, und Chris Huth wird darin eine wichtige Rolle spielen. Er war keiner von den ganz großen Machern, die auf der Bühne standen und irgendwann groß rauskamen. Aber auch keiner, der als Anbeter vor der Bühne stand, sondern eher hinter der Bühne, als Bindeglied zwischen Stars und Bewunderern. Einer von denen, die von Anfang an dabei waren.
Am Anfang war Punk. Ausdruck vom Jungsein. Von Wut, Rebellion und ungebändigter Lebensenergie. Aber auch Ausdruck einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Nähe. Und nach einer besseren Welt.
Chris Huth war 17 und hatte genug Wut im Bauch und Sehnsucht im Herzen. Wut auf seine zerrissene Charlottenburger Familie, den Alkoholismus der Eltern. Wut auf die lange Zeit im Kinderheim in Ruhleben. Wut auf eine Welt, die durch reine Profitgier immer mehr aus dem ökologischen Gleichgewicht zu geraten schien. Und Chris sehnte sich nach stabilen Verhältnissen und Freundschaften. Er wurde Punk mit orangen Haaren und zerrissenen Jeans. Und es war keine Pose, sondern echtes Lebensgefühl.
Weil er schon früh eine eigene Wohnung hatte, die er mit seinem jüngeren Bruder Mario teilte, und weil damals kaum einer Geld hatte zum Ausgehen, wurden "Chris und Mario" in der Pascalstraße zum ständigen Treffpunkt der Freunde. Wo sie Bier tranken, Captagon schluckten und die neusten mitgebrachten Punk-Singles vom "Zensor" aus der Belziger Straße hörten. "CRASS", die Anarchoband mit dem groben Sound und dem Kreis um das A im Bandnamen mochte Chris damals am liebsten. Manchmal gingen sie ins Punkhaus am Lehniner Platz, zu Konzerten ins SO 36 in der Oranienstraße, ins Exxess in der Kurfürstenstraße, oder sie trafen sich in der "Walde", dem besetzten Haus in der Kreuzberger Waldemarstraße.
Irgendwann hatte Chris diesen Job im "Tali"-Kino am Kottbusser Damm: Kasse und Putzen. Zweimal am Tag "Rocky Horror Picture Show". Am Wochenende dreimal "Rocky Horror". Nach jeder Vorstellung haben sie beim Saubermachen drei bis sieben Müllsäcke rausgetragen: Reis, Konfetti, nasse Luftschlangen, Flaschen, Scherben. Manchmal auch Erbrochenes, weil die Leute so viel gesoffen haben. Ein anstrengender Job.
Sein Kollege Blixa Bargeld zeigt Chris, wie man Filme einlegt. Chris wird Filmvorführer. Dinge, die ihn interessierten, lernte er schnell. Wie man Filme vom Verleih beschafft, die geschäftlichen Angelegenheiten, und alles andere, was mit dem Kino zu tun hat. Chris und Blixa wurden die Seele vom "Tali", schmissen den Laden zu zweit. Und als der Chef ihnen anbot, das Kino in eigene Regie zu übernehmen, schmissen sie's einfach hin. Vielleicht scheuten sie das finanzielle Risiko. Vielleicht fehlte das Selbstvertrauen. Das "Tali" machte zu, Chris machte weiter. Immer weiter. Immer wieder etwas Neues. "Mach weiter! Gib nie auf!", spornte er sich selbst und seine Freunde an. Gejammert über schlechte Zeiten hat er nie.
In der ersten Hälfte der 80er-Jahre traf sich die "Avantgarde" der Berliner Alternativszene im "Risiko", auf der Schöneberger Seite der Yorckbrücken. Sehr "cool", arrogant, elitär, egoistisch. Exzessiv. Es wurde gesoffen, gekokst, geplant, geredet. Projekte, Bands, abstruse Ideen. Vor dem Tresen die Stars und ihre Bewunderer. Die Bands mit den seltsamen Namen: "Sprung aus den Wolken", "Tödliche Doris", "MDK", "Minus Delta T.", "Camping Sex", "Einstürzende Neubauten". Dieter Meier von "Yello" war regelmäßig da. Und Nick Cave.
Und hinterm Tresen: Chris Huth, gar nicht arrogant oder elitär, eher freundlich, zugewandt, entgegenkommend. Und nie bereit, sich musikalischen Kleiderordnungen der Szene zu unterwerfen. Als sein "Risiko"-Tresenkollege Blixa Bargeld mit den Einstürzenden Neubauten schon schwerste Bleche dengelte, Eisenträger zerspante und mit Boschhämmern musizierte, legte Chris Huth auch im Risiko immer wieder bodenständigen Rock 'n' Roll auf: AC/DC. The Wipers. Oder seinen Lieblingssong: "Faith Healer" von Alex Harvey: "If your body's feelin' bad / And it's the only one you have / You want to take away the pain / Go out walkin' in the rain..."
Chris lief durch den Regen, betäubte die Schmerzen seiner Kindheitserinnerungen, strapazierte seinen Körper, obwohl er wusste, dass er nur diesen einen hatte. Er machte weiter. Hinterm Tresen vom "Niagara" am Südstern. In der eigenen "Blech"-Kneipe in der Mittenwalder Straße. Chris renovierte, machte, baute, richtete ein. Und wenn er fertig war, fing er etwas Neues an. Immer wieder. Der alte Traum vom Kino: Er übernahm das "Xenon" in der Schöneberger Kolonnenstraße. Renovierte, arbeitete, baute auf. Und schenkte das Kino nach drei Jahren seiner Freundin.
Die meisten Freunde haben Chris Huth aus den Augen verloren, nachdem er weggegangen war aus Berlin. Irgendwann in den 90ern ist er mit seiner Freundin Christin nach Malta gefahren. In einem alten Bremer Feuerwehrauto. Eine mühsame Reise mit Hindernissen, über Italien, Sizilien. Und wieder hat Chris neu angefangen, auf Malta. Hat gemacht und getan. Hat an einem Haus gebaut. Hat Möbel hergestellt und verkauft: ausgefallene Einzelstücke in Handarbeit. Holz und Metall. Und als das Geschäft begann, richtig gut zu laufen, nach Jahren mühseligen Aufbaus, als Chris endlich einen Geldgeber gefunden hatte, der sich als Geschäftspartner anbot, gab er die Sache wieder auf. Vielleicht weil er mit einem Pink-Floyd-Fan keine Partnerschaft eingehen wollte? Oder weil er zurückwollte nach Deutschland? Vielleicht um seiner beiden Kinder Willen? Nach der Geburt seiner Tochter Zoe hatte Chris seiner Tante einen zauberhaften Brief geschrieben: was für ein Wunder doch die Geburt so eines Kindes sei. Und wie sehr er sich gefreut hat darüber. Chris hatte sich immer gesehnt nach einer intakten Familie, die er als Kind selbst nie hatte. Vielleicht hing er deswegen auch so sehr an seinem Bruder Mario und der Schwester Carola. Und wieder hatte er diesen Traum vom eigenen Kino, damit er für die Kinder sorgen könnte. In Bremen arbeitete er wieder als Filmvorführer.
2005 kam Christian Huth zurück nach Berlin. Es ging ihm nicht gut. Sein Traum von der eigenen Familie war gescheitert. Er war niedergeschlagen, hauste in "Läusepensionen", vegetierte vor sich hin. Vermisste Christin und die Kinder. Wollte sich bei den alten Freunden so nicht sehen lassen. Erst, wenn er wieder auf den Beinen wäre.
Chris kam wieder auf die Beine. Zog in eine Wohnung in der Köpenicker Straße, nahm Kontakt zu den Freunden auf, schmiedete neue Pläne: vielleicht ein Programmkino? Oder aus der alten Eisdiele am Lausitzer Platz eine Sommerbar machen? Und vielleicht würde er das mit der Familie auch wieder hinkriegen.
Der große, schlanke, sehnige Chris strotzte wieder vor Kraft. Einem kranken Freund schleppte er auf einen Schlag 15 Halbliterflaschen Pils, sechs Anderthalbliterflaschen Wasser und eine riesige Tüte Lebensmittel in die Wohnung. Und ob er sonst noch was bräuchte? Und ist mit dem Fahrrad den ganzen langen Weg von Pankow nach Kreuzberg zurückgeradelt. Wer dachte da an Krankheit?
Dann ist es ganz schnell gegangen. Krankenhaus im September. Lungenkrebs. Chemotherapien. Linker Arm gelähmt. Aber Chris Huth hat den Freunden versichert: "Alles wird gut!" Und er hat gelacht über den Titel des Buches neben seinem Krankenhausbett: "Der Untergeher" von Thomas Bernhard. Und über eine Zeitungsschlagzeile: dass Forscher eine "Krebskanone" erfunden hätten.
Im Pflegeheim "House Of Life" in der Blücherstraße sagt Chris noch: an Weihnachten sei er in Bremen bei Christin und den Kindern. Als Christin ihn abholen will, fragt der Arzt erstaunt: "Abholen?" Christin ist bei ihm als er stirbt.
H.P. Daniels