Schadet die Umerziehung zum Rechtshänder?
21.10.2004 um 19:58
Ich habe hier mal einen SEHR, SEHR langen Text gefunde, und dachte mir, es könnte euch interressieren:
Die einen schreiben mit links, die anderen mit rechts. So leicht, wie es klingt, ist es bei weitem nicht! Im Kindergarten, spätestens aber in der Grundschule kommt auf PädagogInnen das Thema Linkshändigkeit zu. Natascha Bleckmann hat darüber mit Dr. Johanna B. Sattler gesprochen, die LehrerInnen dazu forbildet.
LeaNet: Sie leiten in München die Erste deutsche Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder. Mit welchen Anliegen kann man zu Ihnen kommen und was tun Sie?
J. Sattler: Man kann mit allen Fragestellungen bezüglich Linkshändigkeit und Händigkeit zu uns kommen. Wir machen Händigkeitstests, beraten beim Erlernen einer lockeren Schreibhaltung und bieten Schreibvorbereitungsgruppen für Kinder an, die ein Jahr vor der Einschulung bzw. in der ersten Klasse sind. Die Kinder machen dort Übungen zur Fingerbeweglichkeit und zur Aktivierung der Schreibfinger und lernen eine Schreibhaltung, in der sie später die Tinte beim Schreiben nicht verwischen. Dann beraten wir bezüglich Gebrauchsgegenständen für Linkshänder, beantworten Fragen zur Rückschulung der Händigkeit und bieten Beratung an bezüglich beruflicher Fragen. Wir halten Literatur und Info-Material bereit und haben eine Internet-Seite, auf der es demnächst auch ein FAQ-Forum geben wird. Dort kann man uns Fragen stellen.
LeaNet: Linkshändigkeit bedeutet ja nicht nur, dass man mit links schreibt. Inwiefern unterscheidet sich ein linkshändiger von einem rechtshändigen Menschen?
J. Sattler: Es fällt auf, dass sich Links- und Rechtshänder in ihrer Tendenz und Neigung zu denken, zu verarbeiten und zu reagieren etwas unterscheiden. Linkshänder denken oft mehr in ganzheitlichen Zusammenhängen. Ihnen fällt es dann oft schwerer, eine Sache nach der anderen auf die Reihe zu bringen. Rechtshänder denken dagegen eher linear, eine Sache nach der anderen. Zudem lieben es viele linkshändige Kinder, mit sich zeitweise allein zu sein, im Rollenspiel mit sich und ihren imaginären Spielkameraden. Dabei sind nicht Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten gemeint, sondern normal integrierte Kinder mit Freundschaften. Rechtshändige Kinder hingegen sind oft stärker auf die Gruppe bezogen.
LeaNet: Ihre Beratungsarbeit richtet sich auch an umgeschulte Linkshänder. Heißt das, dass ein Linkshänder ein Rechtshänder werden kann?
Linkshändigkeit bleibt ein Leben lang
J. Sattler: Nein, umgeschulte Linkshänder werden keine Rechtshänder. Früher schulte man Linkshänder fast alle zum Schreiben und zu anderen Kulturtechniken auf rechts um wie z.B. Essen, Schneiden, Sticken. Da wirkten Linkshänder wie Rechtshänder. Kam es aber zu spontanen Handlungen oder zu solchen, die von der Erziehung nicht so beeinflusst wurden, dann bevorzugten sie häufig ihre dominante linke Hand. Da Händigkeit genetisch veranlagt ist, bleibt diese bestehen - so wie auch das Geschlecht eines Menschen nicht einfach geändert werden kann.
LeaNet: Umgeschulte Linkshänder machen also manches mit links, manches mit rechts. Bringt das im Alltag Schwierigkeiten mit sich?
J. Sattler: Eine Umschulung von der dominanten linken auf die nicht dominante rechte Hand kann zu Schwierigkeiten in den Gehirnabläufen führen, denn bei Linkshändern ist die rechte Gehirnhälfte motorisch dominant, bei Rechtshändern die linke, also immer die gegenüberliegende. Wenn Sie einen Linkshänder auf rechts umschulen, dann kommt es zu falschen Belastungen im Gehirn, die dominante Gehirnhälfte wird unterfordert, die nicht-dominante überfordert. Auch können Irritationen zwischen den Gehirnhälften auftreten.
LeaNet: Wie äußert sich so etwas im Alltag?
J. Sattler: Viele umgeschulte Linkshänder erzählen, dass sie in der Schule Probleme mit der Konzentration und dem Gedächtnis hatten und z.B. unter Blackouts litten. Manchmal kommt es zu Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, zu Verdrehern von Buchstaben, zu feinmotorischen Problemen, was man besonders an der Schrift sieht, und auch leichte Sprachschwierigkeiten können auftreten. Daraus erwachsen oft psychische Schwierigkeiten, denn wenn ein Kind Sachen denken und verstehen, sie aber nicht entsprechend rüberbringen kann, dann ist es irritiert. Das Kind zieht sich zurück, wird unsicher, kann sich selbst nicht mehr einschätzen und bekommt unter Umständen auch psychosomatische Probleme.
LeaNet: Hat ein als Kind umgeschulter Linkshänder noch im Erwachsenenalter mit Schwierigkeiten zu rechen?
J. Sattler: Ja, die Schwierigkeiten gehen im Erwachsenenalter weiter, aber die meisten haben gelernt, damit umzugehen, sie zu kompensieren. Umgeschulte Linkshänder brauchen bis zu 30 Prozent mehr an Kraft und Energie, um die gleiche Leistung zu erzielen wie ein nicht-umgeschulter Linkshänder oder ein Rechtshänder. Mit 40, 50 Jahren gehen unsere Kräfte langsam zurück und dann können gerade umgeschulte Linkshänder oft ihre Schwierigkeiten nicht mehr so kompensieren, wie sie es sich angewöhnt haben. Sie gehen zum Hausarzt, zum Neurologen, zum Psychotherapeuten, man denkt an Alzheimer oder frühzeitige Altersdemenz. Wenn die Kausalität, also der Zusammenhang zwischen einer Umschulung und der Händigkeit und möglichen negativen Folgen, herausgefunden wird, ist das für viele äußerst erleichternd. Manche schulen sich als Erwachsene dann auch zurück, so dass sie wieder links schreiben.
LeaNet: In den 70er Jahren mussten sich linkshändige Kinder nicht selten für ihre Händigkeit rechtfertigen. Ist das heute auch noch so?
Ein linkshändiges Kind ist der "weiße Rabe"
J. Sattler: Heute achten viele Eltern darauf, dass ihr Kind nicht umgeschult wird. Aber noch immer ist die Linkshändigkeit eher ein Sonderfall, ein linkshändiges Kind der "weiße Rabe". Es ist wie bei roten Haaren: daraus kann eine Stigmatisierung entstehen. Es hängt davon ab, wie die Familie, der Kindergarten und die Schule damit umgehen und wie selbstbewusst das Kind ist. In meiner Praxis kenne ich den Fall eines Jungen mit wechselndem Handgebrauch: seine linke Hand ist motorisch gestört, aber er nimmt sie für viele Aufgaben bevorzugt heran. Seine Großeltern sehen, wie er leidet, wenn er mit links schreibt, und sagen ihm, er solle die rechte Hand zum Schreiben nehmen - was aber nicht gut ist, da der Junge kein Rechtshänder ist. Heute sind die Vorurteile gegen Linkshändigkeit weit weniger geworden, aber noch immer sind Linkshänder benachteiligt. Sie sind es insofern, als die Händigkeit bagatellisiert wird: die aus einer Umschulung erwachsenen Schwierigkeiten werden nicht als so schlimm angesehen und Hilfestellungen beim linkshändigen Handeling werden nicht gegeben werden.
LeaNet: Welche Rolle sollte es für eine Lehrkraft spielen, wenn ein linkshändiges Kind zur Klasse gehört?
J. Sattler: Sind mehrer Kinder linkshändig, sollte das Thema möglichst früh auf einem Elternabend angesprochen werden. Die Lehrerin sollte nachprüfen, ob die Kinder eine Schere und einen Spitzer für Linkshänder haben und ob sie damit umgehen können. Sie sollte sich mit dem Lineal für Linkshänder vertraut machen. Wenn die Lehrerin auf einem Arbeitsblatt einen Buchstaben oder ein Wort vorgibt, das die Kinder nachschreiben sollen, dürfen diese nicht nur links stehen, sondern müssen auch rechts wiederholt werden. Links muss ein Pfeil oder ein Sternchen den Zeilenanfang kennzeichnen. Auf den Sitzplatz linkshändiger Kinder muss geachtet werden, sie brauchen auf der linken Seite Armfreiheit und sollten von der Lehrerin aus gesehen nicht hinten links sitzen, denn dort haben sie am wenigsten Licht und machen sich selbst zu viel Schatten. Das Handarbeiten ist ein Thema: Sticken, Häkeln und Stricken müssen mit links gezeigt werden.
LeaNet: Linkshändigkeit macht sich nicht erst mit der Einschulung bemerkbar. Was raten Sie denjenigen, die früher mit linkshändigen Kindern umgehen, zum Beispiel im Kindergarten?
J. Sattler: Auf Blattlage und Stifthaltung beim Malen sollte von Anfang an geachtet werden. Spätestens im letzten Kindergartenjahr muss eine lockere Schreibhaltung vorbereitet werden. Auch Schere und Spitzer sind Themen für den Kindergarten. Und ich halte es für sehr wichtig, dass die Linkshändigkeit angesprochen wird: Es ist genauso normal, Linkshänder zu sein wie Rechtshänder. Linkshänder und Rechtshänder gibt es so, wie es Jungen und Mädchen gibt.
LeaNet: In der Lehrerausbildung spielt das Thema Linkshändigkeit so gut wie keine Rolle. Wie können Lehrer und Lehrerinnen diese Lücke schließen?
J. Sattler: Wenn jemand seine Ausbildung zum Lehrer beendet hat, stehen Fortbildungsakademien und Pädagogische Institute zur Verfügung. Oft fragen diese auch die Lehrer nach ihren Interessen - und so werde ich immer wieder von Schulämtern, Pädagogischen Akademien, Schulen und Kindergarten für Vorträge und Seminare eingeladen. Ich bemerke ein großes Interesse von Lehrern am Thema. Das Problem aber ist die Ausbildung: Dort geschieht viel zu wenig. Viele Studenten schätzen nicht ab, dass sie später mit Linkshändigkeit konfrontiert werden. In Bayern steht meines nach Wissens nach nichts in den Prüfungs- und Studienordnungen.
LeaNet: Bayern hat die Linkshändigkeit in die Lehrpläne für die Grundschule aufgenommen. Inwiefern wird es für die Schülerinnen und Schüler nun einfacher?
J. Sattler: Durch die Berücksichtigung der Linkshändigkeit im neuen Lehrplan hat sich in Bayern wirklich etwas getan, z.B. müssen Buchstaben nun immer auch an den rechten Zeilenrand geschrieben werden. Schreiblernhefte müssen eine Lösung bieten, die auch Linkshändern gerecht wird - ansonsten werden sie in Bayern nicht zugelassen. Sicher dauert es noch, bis sich im Schulalltag alles nach Wunsch durchgesetzt hat, weswegen Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung so wichtig sind.
Man darf nicht sagen: "später", denn später ist es zu spät!
LeaNet: Wie helfen Sie Eltern von linkshändigen Kindern, die in Ihre Beratung kommen?
J. Sattler: Vor allem sagen wir Eltern, dass Linkshänder genauso normal sind wie Rechtshänder und dass sie das auch ihren Kindern vermitteln sollen. Rechtzeitig muss man als Eltern mit der Blattlage anfangen, schon, wenn die Kinder zu malen beginnen. Eine Schreibtisch-Auflage, auf der die Blattneigung und die Lage der rechten Hand als Erinnerungsstütze markiert sind, kann dem Kind helfen, mühelos sich eine lockere Mal- und Schreibhaltung einzuüben. Nachspurübungen können im Vorschulalter das Nachrücken mit der Hand unter der Zeile begünstigen. Die passende Schere, der Spitzer, Kartoffelschäler, Dosenöffner gehören von Anfang an für das linkshändige Kind in den Haushalt. Eltern dürfen nicht sagen: "später", denn später ist es zu spät! Auch brauchen Linkshänder ein anderes Taschenmesser, die Kerbe, mit der das Messer geöffnet wird, ist da wichtig, sonst verletzt sich das Kind leicht und hat Schwierigkeiten, das Messer zu öffnen. Ich habe mich immer gewundert, wieso ich mit einem Taschenmesser nicht zurecht kam und erst viel später ist mir klar geworden, dass es daran lag, dass die Kerbe auf der Seite für Rechtshänder angebracht war.
Gerne hätten wir, dass Händigkeit schon im medizinischen Untersuchungsheft für Kinder von Ärzten abgefragt wird. Zumindest sollte nachgefragt werden, mit welcher Hand das Kind bevorzugt hantiert. Dann kann man die Eltern rechtzeitig darauf hinweisen, bestimmte Dinge zu unternehmen, wie z.B. eine passende Schere zu kaufen und dem Kind zu zeigen, wie man damit umgeht. Ansonsten sollten Eltern ihr Kind in Ruhe lassen. Erst wenn ein Kind mit 4,5 Jahren noch nicht sicher im Handgebrauch ist, sollten Eltern mit ihrem Kinderarzt sprechen und eventuell einen Ergotherapeut aufsuchen. Dieser kann nämlich feststellen, ob noch andere Probleme da sind z.B. im Motorischen oder beim Gleichgewicht. Durch eine Behandlung überwinden viele Kinder ihre Schwierigkeiten und kommen schließlich zur ihrer Händigkeit.
LeaNet: Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Sattler!
In the Darkness, you are not alone...