Die öffentliche Kontrolle durch die Medien bildet ein bedeutsames Gegengewicht gegen
Missstände und Fehlentwicklungen. Die Selbstheilungskräfte der Demokratie sind eng mit
den Medien verbunden. Ohne sie würden Missbräuche leichter unter den Teppich gekehrt,
und es fehlte der öffentliche Druck, Fehlentwicklungen abzustellen. Beispiele gibt es zuhauf:
die verschiedenen Parteispendenaffären sowie die Versuche, die Beteiligten durch ein
Amnestiegesetz straflos zu stellen, die am öffentlichen Protest scheiterten, oder die Diäten-
und Versorgungsfälle in Hessen, Hamburg, im Saarland und im Bund, wo durch öffentliche
Kritik die Rücknahme unangemessener Gesetze erzwungen wurde. Gerade wenn die
politische Klasse in eigener Sache entscheidet, ist Öffentlichkeit oft die einzige wirksame
Kontrolle.
Andererseits reagiert die Politik auf die zunehmende Bedeutung der Medien für ihr
Erscheinungsbild mit der strategischen Inszenierung der Wirklichkeit. Positiv Erscheinendes
wird grell beleuchtet, Negatives ausgeblendet. Die gelungene Inszenierung der Wirklichkeit
wird zum Erfolgskriterium, obwohl die produzierten Wirklichkeitsbilder nur das Spiegelbild
von Interessen sind - das Gegenteil von Authentizität.
Themen, welche die politische Klasse insgesamt belasten, gelten ohnehin als tabu. Insofern
existiert geradezu eine Art Schere im Kopf auch vieler Journalisten, die es erschwert, die
wichtigsten Themen zum Gegenstand öffentlicher Diskussion zu machen. Hier zahlt sich der
Einfluss der politischen Klasse auf Rundfunk- und Fernsehanstalten aus. Und was die Medien
ausblenden, scheint gar nicht zu existieren. Es kommt deshalb - und danach handeln die
politische und mediale Klasse geradezu instinktiv - darauf an, Bilder und Vorstellungen in
den Köpfen der Menschen zu verankern, die Zweifel am System erst gar nicht aufkommen
lassen. Dass das offizielle System schwere Mängel aufweist und sich dahinter ein inoffizielles
System gebildet hat, in welchem die Ursachen für Mängel und die Schwierigkeiten ihrer
Behebung zu suchen sind, rührt so sehr an Grundfragen und an die Interessen der etablierten
Mächte, dass bereits die Fragestellung entrüstet zurückgewiesen zu werden pflegt.
Das Fernsehen, das für die große Mehrheit der Bevölkerung zur Hauptinformationsquelle
geworden ist, hat seine eigenen Gesetze. Da Personen leichter als verbale Aussagen
„
rüberzubringen“ sind, gewinnen die optische Erscheinung und persönliche
Ausstrahlung immer größere Bedeutung. Die Undurchsichtigkeit der politischen Strukturen
und Verantwortlichkeiten verleiht dem Faktor „
Vertrauen“ zentrales Gewicht. Der am
Bildschirm, wo man dem Politiker sozusagen direkt ins Gesicht sehen kann, gewonnene
Eindruck der Vertrauenswürdigkeit entscheidet. Die zentrale Bedeutung der Telegenität hat
Rückwirkungen auf die Spitzenkandidaten der Parteien, aber auch auf die Arbeit, das Denken
und Handeln aller Personen, die ihnen zuarbeiten, ihre Mitarbeiter und Berater.
https://www.youtube.com/watch?v=Afns5_F2ZcsWas die Medien leisten sollen, ist klar. Medienfunktionäre besitzen, wie das
Bundesverfassungsgericht betont, nur eine „
dienende Freiheit“. Die Vielfalt der
bestehenden Meinungen müsse „
in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck finden und „
auf diese Weise umfassende Information geboten“ werden. Doch gerade
über die wichtigsten Themen „
spricht man nicht“. Das trägt dazu bei, dass die
veröffentlichte Meinung und die tatsächliche Mehrheitsmeinung stark voneinander abweichen
können, ein Phänomen, das der türkisch-amerikanische Politikwissenschaftler Timur Kuran
als „
öffentliches Lügen“ bezeichnet. Der Kommunikationswissenschaftler Peter Glotz
sprach schlicht von der „
immer größer werdenden Kluft zwischen öffentlicher und
veröffentlichter Meinung. Die veröffentlichte Meinung erweckt den Eindruck, Menschen
mit anderer Auffassung seien in der Minderheit, was diese tendenziell verstummen lässt. So
wird der Anteil der Lauten immer lauter, immer größer, während der Anteil der Stummen
schrumpft, eine Entwicklung, die Elisabeth Noelle-Neumann, die große alte Dame der
Demoskopie, die „
Schweigespirale“ nennt
Dazu auch eine Panorama Reportage:
Das Lügenfernsehen - Wenn Ihr Fernseher lügtMisstrauen Sie Ihrem Fernseher! So manche scheinbar wahre Geschichte, die dort
erzählt wird, ist manipuliert, erfunden und erlogen. Scheinbar "echte" Familien streiten nicht
tatsächlich, sondern nur nach Drehbuch. Teenager verzweifeln nach Regieansage. Helfer
entpuppen sich als Schauspieler. Panorama-Moderatorin Anja Reschke hat sich in die Welt
des Privatfernsehens begeben, die immer schriller die angebliche Wirklichkeit abbildet. In
zahlreichen Beispielen weist sie nach, wie in reportagehaften Formaten und Doku-Soaps
getrickst wird. Eine Jobsuche wird als bizarre Familientragödie inszeniert. Gecastete Familien
spielen Geschichten nach. Eine Hausversteigerung wird schlicht gefälscht. Eine Spurensuche
im Treibsand der neuen Fernsehlandschaft….
http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_die_reporter/luegenfernsehen105.html (Link ist mit dem Video zur Reportage)
Hier wird eine Art „
geistige Sperrklausel“ praktiziert, die aber nicht nur fünf Prozent
der Bürger unter den Tisch fallen lässt, sondern über fünfzig Prozent und damit oft gerade
diejenigen Themen ausgrenzt, welche die Menschen am meisten interessieren. Solche
„
Publizistenideologie“ wirkt wie eine innere Zensur und fördert die Entmündigung
der Bürger, weil sie vorsortiert, welche Tatsachen und Meinungen den Menschen frommen,
statt diesen selbst die Entscheidung zu überlassen. Die umfassende Information der
Öffentlichkeit fällt vielen Redakteuren im täglichen Betrieb umso schwerer, als jedenfalls die
öffentlich-rechtlichen Medien unter dem Einfluss der politischen Klasse stehen und
Redakteure, die dem nicht Rechnung tragen, ihre Karriere gefährden. Die Verengung macht
die politische Diskussion zudem fad und uninteressant.
Die Tabuisierung gerade der wichtigsten Themen relativiert den Wert der
Kommunikationsgrundrechte. Das Recht, „
sich aus allgemein zugänglicher Quelle
ungehindert zu unterrichten“ (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), die Basis aller anderen
politischen Grundrechte, verliert an Bedeutung, wenn bestimmte Informationen von den
Medien gar nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Die Ausblendung wirkt voraus und
lähmt bereits die Fähigkeit, wichtige Grundfragen überhaupt nur zu denken. Es mangelt
deshalb an Analysen, die den Problemen wirklich auf den Grund gehen, und an
konzeptionellen Handlungsalternativen. Die Reaktion auf neue Herausforderungen wird
erschwert und die Erneuerungsfähigkeit des ganzen Systems beeinträchtigt.
Doch wehe, wenn das Eigeninteresse der Medienfunktionäre betroffen ist…
In seinem Buch »1984« beschreibt George Orwell die perfiden Techniken der Macht, mit
denen Diktaturen den Menschen selbstständiges Denken austreiben und sie zu gefügigen Mit-
läufern machen. Der offizielle Wortschatz wird von allen Elementen „
gereinigt“, die
zur Kritik an der Herrschaft dienen könnten. Die ideologisch aufgeladene politische
Kunstsprache (
Neusprech) soll es von vornherein unmöglich machen, für Alternativen
zum herrschenden System zu werben, ja sie auch nur zu formulieren.
In einem Rechtsstaat sind derartige mit physischem Zwang durchgesetzte Praktiken natürlich
untersagt. Doch die herrschende Ideologie hat auch bei uns in den Köpfen der Menschen
politisch-gesellschaftliche Barrieren errichtet, die die Freiheit kaum weniger massiv
einschränken können. Die Vorab-Tabuisierung bestimmter Fragen erscheint bisweilen
wirksamer als gesetzliche Verbote, die den verfassungsrechtlich verbürgten Freiheiten des
Denkens, der Meinungsäußerung und des Handelns offen widersprechen würden. Diese
mentalen Barrieren lassen sich in dem Begriff „
politische Korrektheit“
zusammenfassen. Unter diesem Deckmantel werden vielfach wichtige Themen von
Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaft ausgespart. „
Darüber spricht man nicht,
zumindest nicht öffentlich“, lautet die Devise…
Wer dagegen verstößt, riskiert Isolation und gesellschaftliche Ächtung. Hier bestätigt sich die
alte Weisheit, dass die Besetzung von Begriffen und Denkmustern in der politischen
Auseinandersetzung genauso wichtig ist für den Erwerb und Erhalt der Macht wie die
Besetzung strategischer Schlüsselpositionen im Krieg.
Inzwischen hat der Begriff
politische Korrektheit aber seine Stoßrichtung erweitert
und umfasst auch Themen, deren offene Diskussion angeblich die Fundamente des politischen
und wirtschaftlichen Systems erschüttern und das offizielle Geschichtsbild gefährden könnte.
Dahinter stecken jetzt aber nicht mehr die Interessen von - tatsächlich oder angeblich -
Unterdrückten, sondern die der Machthaber, die um Pfründen und Privilegien bangen. Ihr
Einfluss auf praktisch alle öffentlichen Institutionen zeigt sich in der Verdrängung bestimmter
kritischer Fragen aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die sachliche Argumentation und
Auseinandersetzung wird durch moralische Ächtung ersetzt. Dieses „
Kartell des
Schweigens“ macht es so schwer, strukturelle Defizite in Staat und Gesellschaft
öffentlichkeitswirksam zu thematisieren - trotz deren fundamentaler Bedeutung -, von
wirksamen Reformen ganz zu schweigen.
Dieser Effekt wird verschärft, weil auch viele Journalisten ganz gezielt nicht das zur Debatte
stellen, was die Gesellschaft bewegt, sondern das, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach
bewegen
sollte. Und das bestimmt sich meist wieder nach dem Maßstab der
politischen Korrektheit. Die Aussperrung zentraler Themen, die die Menschen zutiefst
berühren, durch die Medien bewirkt eine Spaltung in öffentliche und veröffentlichte Meinung,
die oft völlig voneinander abweichen.
In dieser Situation kommt es zu einem geradezu tragischen kollektiven Irrtum: In ihrer
Vereinzelung glauben sich die Menschen mit ihrer privaten Meinung in der Minderheit und
scheuen sich deshalb, gegen die herrschende scheinbare Mehrheitsauffassung aufzumucken,
um nicht ins soziale Abseits zu geraten, selbst wenn ihre Auffassung den Kern des Problems
trifft. Diese bereits zitierte „
Schweigespirale“ verführt die Menschen dazu, ihre
privaten Wahrheiten öffentlich zu verleugnen.
Solche Formen der Tabuisierung betreffen nicht nur fertige Gedanken, sie beeinträchtigen
auch den Konzeptions- und Entstehungsprozess. Die Ausblendung hindert nicht nur daran,
bestimmte Fragen öffentlich anzusprechen. Sie wirkt unterschwellig voraus und beeinträchtigt
bereits die Fähigkeit, sie überhaupt nur zu denken. Diesen Teufelskreis gilt es zu
durchbrechen. Das verlangt eine unvoreingenommene Analyse der Probleme und
Zusammenhänge sowie ein Zurechtrücken der Begriffe.