Eine Welt ohne Menschen?
09.08.2008 um 13:39
Mary Shelly hat nicht nur FRANKENSTEIN ERSCHAFFEN:
Die Zukunft von gestern
Der letzte Mensch, den Mary Shelley eine letzte Botschaft in Menschensprache niederlegen lässt, wird sich im Jahr 2100 aus Rom melden. Auf allen Kontinenten der Erde sind dann die Bewohner durch Pest und Naturkatastrophen dahingerafft, nur ein einziger Überlebender, ein Robinson der ganzen Erde, bringt noch zu Papier, was nach ihm niemand mehr lesen wird. Dass dieses letzte Menschenwort aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert den Lesern von 1826, da der Roman erschien, und auch uns unter die Augen kommt, ist nach der Fiktion des Buches der Tatsache zu verdanken, dass diese Ereignisse bereits im Archiv der sibyllinischen Prophetien niedergelegt sind. Die Herausgeberin will sie bei einem Besuch der cumäischen Höhle bei Neapel im Jahre 1819 entdeckt haben. Mühevoll entzifferte sie die zerstreuten, in verschiedenen Sprachen beschrifteten Blätter und fügte sie zu einer kohärenten Erzählung zusammen.
Geschlossene Akte
Das ist die nicht ohne Längen erzählte Lebensgeschichte des Lionel Verney, der vom Schicksal ausersehen ist, die Akten der Menschheitsgeschichte zu schliessen. Lionels Biografie führt zunächst nach England. Die Phantasie der Autorin, der auch das Frankenstein-Monster entstiegen ist, konzentriert sich ganz auf die endzeitlichen Bilder und erfindet nicht allzu viele Details politischer, sozialer oder auch technischer Art, um die ferne Zukunft zu gestalten. Nur einmal lässt sie Lionel eine Reise in einem Fluggerät unternehmen, das als Montage von Ballon und flügelschlagender Maschine beschrieben wird.
Wenn die Erzählung im Jahre 2073 einsetzt, ist in England eben die Republik ausgerufen worden, an deren Spitze ein Protector stehen soll. Um dieses Amt wetteifern der Sohn des letzten Königs Adrian sowie ein anderer herausragender Mann, Lord Raymond, der soeben die Unabhängigkeit der «freien Staaten» von Griechenland erkämpft hat. Lionel, Adrian und ihre jeweiligen Schwestern, die sich über Kreuz verheiraten, sowie Lord Raymond bilden eine romantische Familie, die Mut und Tapferkeit zeigt, während die Weltkatastrophe ihren unaufhaltsamen Lauf nimmt.
Nach dieser Familiengeschichte wendet sich die Erzählung ganz den Wirkungen zu, die der verheerende Auftritt der Pest in England auslöst. Das Sterben der Millionen begleitet eine Reihe von Naturkatastrophen: Die romantische paranoische Imagination liefert ahnungsvolle Bilder des Klimawandels. Wellen von Migranten, zum Teil aus Amerika, suchen plündernd und mordend die britische Insel heim. Die politischen Autoritäten vermögen diese brutale Invasion nicht aufzuhalten, und die englische Gesellschaft sieht sich in den Naturzustand zurückgeworfen. Da Bauer und Fürst in gleicher Weise um ihr Leben kämpfen müssen, ist der republikanische Gleichheitstraum in einen katastrophalen Egalitarismus entartet.
Rein innerweltliche Katastrophe
Wilde, verrückte Endzeitpropheten ergreifen die Macht über die Gemüter, nur Adrian steht zu seinen Prinzipien der Menschenliebe und bemüht sich, den Schrecken zu mildern. Endlich beschliessen Adrian und Lionel Anfang 2098, da London nur noch wenige hundert Einwohner zählt, mit 1400 Freunden auf den Kontinent überzusetzen. Über Paris, Versailles, Dijon zieht die Armee der Überlebenden durch das entvölkerte Kontinentaleuropa, aber der Tod wütet weiter unter den Exilanten, und als die Schweiz erreicht ist, leben nur noch vier: Lionel, Adrian und zwei Kinder. Schliesslich gerät die kleine Gruppe beim Versuch, nach Griechenland überzusetzen, in einen Sturm, der allein Lionel lebend an Land spült. Er erreicht dann das menschenleere Rom, dessen Ruinen und Prachtbauten die Kulisse für die letzten Mitteilungen Lionel Verneys bilden.
Das Bild des letzten Menschen ist eine romantische Obsession. Um die Jahrhundertwende von 1800 wuchern die Poeme und Romane der entseelten Welten. Aber Mary Shelleys «Last Man» unterscheidet sich etwa von Cousin de Grainvilles 1805 erschienenem Roman «Le dernier homme» dadurch, dass sie eine rein innerweltliche Katastrophe erzählt. Mit ihrem Ende versinkt die Menschheit im Nichts. Kein Gott, kein Dämon schreibt sich die Autorschaft der Weltentseelung zu. Vielmehr liefert die Pest Aussenbedingungen für ein Menschenexperiment, wie es Albert Camus mehr als hundert Jahre später noch einmal als Romandiskurs durchspielen wird.
Paranoische Imagination
Das Desaster setzt religiöse Massen in Bewegung, die Muslime pilgern in riesigen Scharen nach Mekka, in England tauchen wilde Banden auf und religiöse Fanatiker. Adrian allein träumt davon, dass die Menschheit noch einmal von vorn beginnen könnte. Als die Letzten nach Griechenland aufbrechen, gaukeln sie sich vor, auf den Kykladen im ewigen Frühling dem Tod zu trotzen. Alle diese Träume aber waren längst durch Naturzeichen konterkariert. Am 21. Juni 2098 ging eine schwarze Sonne auf, in England erschienen plötzlich zwei weitere Sonnen am Himmel, und als sie im Meer versanken, fing die See an zu kochen.
Erst das 20. Jahrhundert hat den Sinn für die Weltapokalypse der Mary Shelley und für ihre Vision einer menschenleeren Welt entwickelt. Der Senatspräsident Schreber, Autor der «Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken» von 1903, hielt sich eine Zeitlang selbst für den letzten Menschen. Die Bilder der Verheerungen, über die das Publikum um 1830 lachte, sprechen heute nicht nur Kinogänger an, sondern auch uns Zeitgenossen der Flutkatastrophen, Wirbelstürme und wachsenden Wüsten. Die von der paranoischen Imagination der Romantik beschriebene orbitale Verwüstung ist heute das Gipfel-Thema in Wissenschaft und Politik.
Manfred Schneider (Quelle NZZ Online)