Asexualität
15.12.2008 um 05:13
Keine oder extrem geringe Libido: ist so etwas angeboren - oder auch erwerbbar im Laufe des Lebens? Kann es auch asexuelle Phasen im Leben geben?
"Was Asexualität betrifft, gibt es aus heutiger wissenschaftlicher Sicht keine einfachen und generellen Antworten, vor allem deshalb, weil unter diesem Begriff so viel Unterschiedliches verstanden wird.
Zur Asexualität als "fehlende Libido" bzw. völliges sexuelles Desinteresse ist zu sagen, dass die menschliche Sexualität im Laufe des Lebensbogens äußerst vielen Einflüssen und Schwankungen unterworfen ist, die in diesem Zusammenhang allesamt Zusammenhang zu berücksichtigen und analysieren sind.
Hier ist als wichtigster Faktor unsere physische Konstitution (mit beeinflusst durch Ernährung, körperliche Aktivität, gesundheitliche Situation, Alter etc.) zu nennen, sowie unsere Erziehung, kulturelle Faktoren und die soziale Umwelt.
Selbstverständlich können auch einschneidende Lebensereignisse zu einem Verlust des sexuellen Interesses führen.
Generell ist jedoch zu sagen, dass es sich bei der von Menschen sich selbst zugeschriebenen "Asexualität" in Wirklichkeit häfig um die Folgen langjähriger Kontaktstörungen bzw. Schwierigkeiten, einen Partner oder Partnerin zu finden handelt. Nach langen Jahren der Frustration bei der Kontaktsuche bzw. schwierigen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht wird zum Selbstschutz das Interesse sozusagen "stillgelegt".
"Fehlt" den Asexuellen etwas (Gene, Hormone, was auch immer)?
"Nun, Abweichungen vom hormonellen Normalzustand finden sich tatsächlich relativ häufig bei Klienten, die sich selbst als sexuell interessenlos oder lustlos beschreiben. Ich halte es jedoch für ein zu simples Erklärungsmodell, 'hormonelle Probleme' oder die berühmten 'Gene' stets auch als ursächliche Erklärung heranzuziehen. Vielmehr wissen wir nach dem heutigen Forschungsstand z.B. der Neurobiologie, dass auch unser Denken sowie unsere Emotionen physiologische Veränderungen auslösen können. Beispielsweise weisen Männer, die jahrelang keinen Sex hatten, häufig niedrigere Testosteronspiegel und/oder eine niedrigere Spermaproduktion auf als Männer mit regelmässigem Sexualverkehr. Beides wiederum reduziert aber auch das Bedürfnis nach Sex. Asexualität stellt sich in der Sexualtherapie deshalb häufig als Teufelskreis für die Betroffenen dar, aus dem sie aus eigenem Antrieb nur schwierig herausfinden."
Ist es nicht auch eine Gefahr, sich in die Diagnose "Asexualität" zu flüchten, wenn behandlungswürdige Störungen o.ä. vorliegen?
"Ja, denn hormonelle Störungen etwa gehören unbedingt behandelt, da sie sich ja nicht nur auf die Libido auswirken, sondern auch organische Schäden auslösen können.
Asexualitaet selbst aber ist nicht 'gefährlich', auch wenn den Betroffenen natürlich eine ganz wesentliche Quelle für Lebensfreude und Lebenslust damit verlorengeht, die nur schwer zu ersetzen sind. Somit sind Betroffene vermutlich anfälliger für Depressionen. Das Tückische an diesem Störungsbild ist jedoch, dass die betroffenen Menschen dies gar nicht so empfinden oder ihren Zustand sogar regelrecht idealisieren, wie sich etwa auf einschlägigen Internet-Websites nachlesen läßt. Sie immunisieren sich damit gewissermassen selbst vor jeglichem Veränderungsdruck - die Störung wird als neuer Normalzustand definiert, da jegliche Veränderung (z.B. die Suche nach einem passenden Partner) als unerreichbar oder quälend empfunden wird."
Der Leidensdruck (so entnehme ich es den AVEN-Foren) hat offenbar viel damit zu tun, dass Asexuelle eben nicht den entsprechenden Partner finden, der Verständnis zeigt für ihr sexuelles Desinteresse. Da kann natürlich auch keine Therapie helfen, vermute ich ... was raten Sie unglücklichen Asexuellen?
"Unter dieser Schwierigkeit leiden tatsächlich viele Asexuelle. Dennoch kommt mir diese Erwartungshaltung leider ein wenig so vor, als würde eine Person mit einer schweren depressiven Störung enttäuscht sein, keinen Partner zu finden, der Verständnis für ihre Suizidgedanken, Schlaflosigkeit und Weinkrämpfe zeigt. Mitunter finden asexuell lebende Menschen zumindest ähnlich empfindende Partner über einschlägige Foren oder Kontaktbörsen, auch wenn dies natürlich das eigentliche Problem nicht löst.
Wer etwas verändern will, muss bei einer Therapie natürlich damit rechnen, dass diese nicht sofort mit einer "Instant-Lösung auf dem Silvertablett" aufwarten kann, vielmehr geht es gewissermassen um ein Neuentdecken der Sexualität und eine schrittweise Annäherung, bei der die Therapie begleitet und Impulse liefert. Das aber gelingt i.d.R. äußerst gut und mit Erfolg, sofern sich jemand eine gewisse Zeit lang auf einen solchen Prozess einlässt."