Musikbelästigung
06.07.2010 um 16:55
Dann lasst doch mal die Taliban ran:
Krieg dem Ton
Die Taliban verhängen totales
Musikverbot in Afghanistan
Wer in Afghanistan einen Kassettenrecorder besitzt, lebt gefährlich. Das von
der Taliban eingeführte "Amt für die Verbreitung von Tugend und Eindämmung
der Sünde" kontrolliert nämlich genau, welche Art von Tonträgern man hört.
Wagt es jemand, einer Musikkassette zu lauschen, so drohen drakonische
Strafen - Verhaftung und bis zu vierzig Tagen Gefängnis. Verdächtige Autos
mit Stereoanlagen werden konfisziert, Läden, in denen heimlich Musik
gespielt wird, geschlossen. Nicht erst seit der Zerstörung der beiden Riesen
Buddhafiguren von Bamiyan, die im März dieses Jahres die Weltöffentlichkeit
erregte, führen die Taliban einen Feldzug gegen die Kultur. Schon seit 1996
bemühen sie sich um ein Verbot von Musik. Mit Erfolg: Afghanistan ist
gewissermaßen zum ersten musikfreien Land der Welt geworden.
Verboten sind alle Arten von Musik, mit einer Ausnahme: die religiösen,
Gesänge der Taliban und ihre Hymnen auf gefallene Märtyrer (was in den Augen
der Taliban nicht als "Musik" gilt). Weil solche Aufnahmen toleriert werden,
haben die meisten Autofahrer in Kabul immer welche dabei. Geraten sie an
einen Checkpoint, tauschen sie rasch ihre Musikkassetten gegen die frommen
Klänge aus.
Die Taliban sind überzeugt, daß Musik schädlich auf die menschliche Psyche
wirke. Gott, so heißt es, komme vor allem in die Häuser, in denen am meisten
gebetet wird. Musik aber lenke vom Beten ab - deshalb, seien Häuser, in
denen Musik gehört wird, verdammt. Auf Musikinstrumente haben es die Taliban
daher besonders abgesehen. Razzien werden veranstaltet, Instrumente, denen
ein angeblich teuflischer Charakter zugeschrieben wird, sammeln sie ein und
übergießen sie dann bei öffentlichen Versammlungen mit Benzin. "Kommt alle
morgen ins Stadion", wird die Bevölkerung über Lautsprecher aufgerufen, "wir
wollen einige Musikinstrumente, Kassetten, Kassettenrecorder, Fernsehgeräte
und' Haschischpflanzen verbrennen."
Früher war Kabul eine quirlige Stadt. Bis in die achtziger Jahre gab es hier
eine blühende Musikszene. Radio Afghanistan sendete rund um die Uhr,
professionelle Musiker fanden vor allem bei Hochzeitsfesten Gelegenheit zum
Auftritt. Die Musik hatte aber auch eine einzigartige soziale und politische
Funktion: Im Vielvölkerstaat Afghanistan war sie immer schon ein einheits-
und identitätsstiftender Faktor. Sie verband die unterschiedlichen
Volksgruppen miteinander. Die beiden wichtigsten Ethnien, die Pashtun und
die Tajiks, formten sogar ein gemeinsames populäres Musikgenre, das zur
Aussöhnung der unterschiedlichen Gruppen beitrug.
Der Niedergang der Musik begann 1978 mit dem Überfall der Roten Armee und
den Kämpfen der Mudschahedin gegen die sowjetischen Besatzer. Millionen
Afghani verließen das Land. Die Flüchtlingscamps in Iran an der Grenze zu
Pakistan wuchsen kontinuierlich - Auffanglager, die immer noch bestehen und
in denen sich gerade nach der letzten Dürreperiode unvorstellbare
Elendsszenen abspielen. Diese Camps wurden in einem Zustand permanenter
Trauer gehalten, weil es so viele Tote und immer wieder Neuankömmlinge gab,
die Tote in ihrer Familie zu beklagen hatten. Im Islam darf nach einem
Todesfall vierzig Tage keine Musik gespielt werden, und so war in diesen
Camps praktisch keine Musik mehr zu hören.
Das bis 1992 herrschende prosowjetische Regime schränkte die Freiheit von
Sängern und Instrumentalisten zusätzlich ein, vergab Lizenzen nur an
regierungsfreundliche Künstler und verhielt sich damit wie viele Regime des
Ostblocks. Unter dem islamistischen Präsidenten Rabbani (1992 bis 1996)
wurde Musik zumindest noch im Radio verbreitet, alle Live-Auftritte aber
waren bereits verboten. Die Taliban schafften dann Radio und Fernsehen ab
und untersagten jede Form elektronischer, Unterhaltung. Die Repression der
Musik ist übrigens keineswegs durch die Glaubensvorstellungen des Islam
gedeckt, wie die überaus reiche Sufi-Musik in anderen islamischen Ländern
beweist. John Baily, Musikwissenschaftler am Londoner Goldsmith College und
renommierter Forscher zur afghanischen Musik, sieht in den Taliban eine
"puritanische" Variante des Islam, vergleichbar mit manchen Tendenzen des
Christentums; die Quäker etwa lehnten auch jede Form der Musik als Sünde ab.
So radikal wie die Taliban ist freilich noch niemand gegen Musik und Musiker
vorgegangen.
Einstweilen überlebt die afghanische Kultur im Ausland. Vor allem in Amerika
und in Deutschland haben sich, besonders im Frankfurter und Hamburger Raum,
viele Emigranten niedergelassen. Allerdings verändert sich die Musik unter
den Bedingungen des Exils: Einerseits finden sich nicht genügend Musiker für
die oft zahlreich zu besetzenden Ensembles, andererseits fehlen die
traditionellen Instrumente wie die zwölfsaitige Rubab, eine Art Laute mit
einigen frei schwingenden Resonanzsaiten. Zwangsläufig werden die
historischen Instrumente durch Synthesizer ersetzt, was den Klang verändert
und "verwestlicht".
Das Ausland, meint John Baily, dürfe dem Niedergang der afghanischen Musik
nicht tatenlos zuschauen. Der Wissenschaftler, der seit drei Jahrzehnten
regelmäßig nach Afghanistan reist, fordert internationale Unterstützung für
Musiker und Instrumentenbauer, auch für private Hochschulen, die sich im
Ausland gebildet haben. Leider kümmere sich die Unesco nicht um verfolgte
Musiker. Um dieses Defizit zu beheben, hat sich die Menschenrechtsgruppe
"Freemuse" ("Free Musical Expression“ gegründet. Sie setzt sich speziell für
verfolgte Musiker und ihre Interessen ein. Der Organisation mit Sitz in
Kopenhagen gehören Musiker und Juristen an, interessierte Fans und
Angehörige der Tonträgerindustrie, Musikwissenschaftler und Journalisten.
"Freemuse" hat nun seinen ersten Länderbericht zum Thema Afghanistan aus der
Feder John Bailys herausgegeben und in London vorgestellt. Dabei zeigten
sich Experten überzeugt, daß sich die Musik in Afghanistan nicht dauerhaft
werde auslöschen lassen. Es gebe positive Beispiele für eine Renaissance der
Musik nach Phasen der Repression wie etwa in Iran. Heute wird an sechs
Fakultäten allein in Teheran Musik unterrichtet. "Man kann Musik eine
Zeitlang kontrollieren", meint John Baily, "aber verbieten kann man sie
nicht."
WERNER BLOCH
Aus: FAZ, 11. Juli 2001
Keine Musik mehr. herrlich!