AufSchrei
10.05.2006 um 10:03
Mein lieber manjatu, auch hier triffst Du wieder voll ins Schwarze und ich könnte ohneScham zugeben, dass es Milliarden von Eltern gäbe, die besser keine Kinder in diese Weltzu setzen hätten, welche im Namen der Liebe nur Tod und Zerstörung hervorbringen zuvermögen und so dem Wahnsinn der Realität zur Existenz verhelfen…
Es ist ein Aktdes Selbstverrats- ich nenne es hier den klassischen Selbstbetrug schlechthin-,wenn das Kind das Bewusstsein für sein eigenes Selbst zu verlieren beginnt. DieserProzess setzt damit ein, dass das Kind die Gefühle von Vater und Mutter nicht mehrwahrnimmt, sondern sich danach richtet, wie diese sich selbst sehen. Solch eine„Anpassung“ an die elterlichen Machtbedürfnisse führt zu einer Spaltung in derpsychischen Struktur des Kindes.
Es trennt seine Innenwelt von seinenInteraktionen mit der Umwelt. Damit gehen der Zusammenhang und die Wechselwirkungenzwischen Handlungen und Motivationen verloren. Um teilhaben zu können an der Macht, diedas Kind unterwirft, ersetzen Gehorsam und Anpassung die Verantwortung für das eigeneHandeln. Hat man den Bezug zu seinem eigenen Innern verloren, dann kann man sich nur aufein verfälschtes Selbst beziehen: auf das Image, das sich an bestimmten Verhalten und anGefühlslagen orientiert, die der Umwelt gefallen. Das Bedürfnis und vielleicht auch derZwang, ein solches Image aufrechtzuerhalten, bemächtigen sich all dessen, was die eigenenWahrnehmungen und die eigenen Gefühle und Mitgefühle hätten sein können. Die Unfähigkeit,in sich selbst zu wurzeln, ruft zerstörerisches und böses Verhalten hervor.
Unter allen Lebewesen scheint der Mensch das einzige zu sein, das um der Zerstörungwillen zerstört – als Selbstzweck, wie es der finnische Psychoanalytiker Martti Siiralanannte.
Anfangs sah Sigmund Freud das Zerstörerische des Menschen entweder ineinem a priori vorhandenen Todestrieb oder nekrophilen (Sonstige Störungen derSexualpräferenz) Bestrebungen, die auf analen oder ödipalen Fehlentwicklungen basieren,kritisiert und revidiert wurde diese Theorie durch Erich Fromm (nekropilie = Folgeungelebten Lebens), während ich der Meinung bin, dass es viele Anzeichen dafür gibt, dassdas zerstörerische und tödliche Handeln des Menschen in dem Verrat begründet ist,den er um der Teilhabe an einer halluzinierten Macht willen an sich selbstbegangen hat. Da dies aber nicht ein „höheres“ Schicksal ist, sondern der einzelnean seiner Unterwerfung mehr oder weniger bewusst mitgewirkt hat, entsteht einlebenslanger Selbsthass. Das Schreckliche einer solchen Entwicklung liegt darin,dass dann nur noch Zerstörung das Gefühl des eigenen Lebendigen vermittelt
Davonausgehend könnten wir zu einer Charakterisierung von Wahnsinn kommen, die von deroffiziellen Psychologie und Psychiatrie abweicht. Deren Betrachtungsweise beschränkt sichdarauf, menschliches Verhalten ausschliesslich vom Grad des Realitätsbezugs(common-sense) her zu beurteilen, was selbstverständlich seine Berechtigung hat. Nurverhindert sie damit die Annäherung an eine schwerer fassbare und gefährliche Pathologie,zu deren eigener Methode das Verbergen gehört: der Wahnsinn, der sich selbst überspieltund sich mit geistiger Gesundheit maskiert. Er hat es nicht schwer, sich zu verbergen, ineiner Welt, in der Täuschung und List realitätsgerecht sind.
Während jene als„verrückt“ gelten, die den Verlust der menschlichen Werte in der realen Welt nicht mehrertragen, wird denen „Normalität“ bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzelngetrennt haben. Und diese sind es, denen wir die Macht anvertrauen und die wir über unserLeben und Zukunft entscheiden lassen…
An Eltern und die es werden möchten:
Verantwortlich werden für das eigene Selbst ist ein paradoxer Prozess. Wer ineinfachen Begriffen des zeitlichen Nacheinanders denkt, wird die Wirkmechanismen nieerfassen. Entwicklung ist nie denkbar ohne Einflüsse von aussen. Wir alle haben Eltern,haben Vater oder Mutter, die in uns weiter wirken. Doch die Widersprüche im Innern dermenschlichen Seele entstehen, entfalten ihre eigene Dynamik. So kommt es zu Handlungen,die scheinbar durch bestimmte äussere Ereignisse determiniert sind, in Wahrheit aberwenig oder gar nichts mit ihnen zu tun haben.
Denn nicht nur die Umweltbeeinflusst das kleine Selbst, das wachsen möchte. Die Reaktionen des Kindes auf dieseprägenden Einflüsse wirken ihrerseits auf die Umwelt zurück. Es handelt sich also um eineständige Wechselwirkung. Vater und Mutter können dem Kind ihren Willen aufzwingen, dochArt und Intensität ihres erzieherischen Einflusses werden bestimmt durch die Reaktionendes Kindes.
Die Kompliziertheit dieses Wechselspieles zwischen Kind und Elternliegt darin, dass die Möglichkeit zur Autonomie einerseits in den frühsten Interaktionenzwischen dem werdenden Selbst und seiner Umwelt grundgelegt wird, andererseits aberentscheidend dafür ist, wie weit das Kind Verantwortung für sich selbst übernimmt. Davonhängen alle künftigen Beziehungen innerhalb des sozialen Feldes ab. Grundsätzlich kannVerantwortlichkeit sich in zweierlei Richtungen entwickeln: [b]Entweder formt sich daswerdende Selbst frei und offen in eigener Verantwortung, oder es überlässt sich fügsamdem prägenden Einfluss anderer. Damit weicht es den Verpflichtungen echter Verantwortungaus.
Die Flucht vor der Verantwortung wird dabei aus dem Bewusstseinverdrängt. Dies muss so sein, weil die Preisgabe der Autonomie durch Unterwerfung untereinen fremden Willen ein elementares Machtspiel in Gang setzt: „Ich werde so, wie du michhaben willst, damit du für mich sorgst. Meine Unterwerfung ist von nun an meine Machtüber dich, mit der ich deine Fürsorge erzwinge.“ So wird das Sich-abhängig-Machen zurRache für die Unterwerfung.
Hierin liegt auch Dein Aufschrei begründetmanjatu, wenn Du die erwähnte Mutter antriffst, welche im genannten Beispiel erwähntwurde…
Erstens übernimmt das Kind die Bewertung der Eltern. Was manInternalisierung nennt, ist also ein Prozess der Kollaboration durch Unterwerfung.Zweitens bedeutet dies, dass das Kind alles an sich selber zu hassen beginnt, was es inKonflikt mit den Erwartungen seiner Eltern bringen könnte. Und drittens erwächst ausdiesem Selbsthass die Bereitschaft zu immer weiteren Unterwerfung. Damit ist einTeufelskreis in Gang gesetzt: Unterwerfung und Selbstverachtung bedingen sichwechselseitig. Es ist immer beides vorhanden: Selbsthass und Selbstverachtung. Doch ebendie Selbstverachtung darf nicht gefühlt werden, weil sie unerträglich wäre. Darum mussder ganze Prozess unbewusst bleiben; er wird verdrängt und verleugnet, und so stürzt mansich blindlings immer tiefer in die Verstrickungen des Machtspiels.
Hier drinliegt auch die Geburtsstunde des illusionären Ich’s begründet… ;)
So sieht diemenschliche Situation aus, wenn die Mitwirkung an der eigenen Unterwerfung dieEntwicklung charakterisiert. Und wer nicht mehr weiss, dass er sich unterworfen hat, kanndas abgespaltene Selbst auch im späteren Leben nicht integrieren. Der darausresultierende Selbsthass wird alle künftigen Handlungen nähren- als Versuch, dasseelische Ungleichgewicht zu kompensieren. Eigentlich ist ein Leben in Selbsthassunmöglich. Nur wenn man sich dem eigenen Selbst, das sich so bereitwillig unterwerfenkonnte, stellt, dann gelangt man- wenn auch unter Schmerzen- zu einer Verminderung desSelbsthasses. Doch sich ihm stellen, das würde bedeuten, die Unterwerfung anzuerkennen,die einen hassen macht.
Ein Kind aber kann nicht erkennen und damit nichtzugeben, dass es den Schmerz nicht ertragen konnte, in seinem Selbst nicht wirklichangenommen zu werden, nicht anerkannt zu werden. Sich selbst angenommen zu fühlen durchdie Liebe eines anderen ist eine Grundbedingung des menschlichen Wachsens. FriedrichHebbel hat es in einem Gedicht ausgedrückt:
So dir im Auge wundersam
Sah ichmich selbst entstehen.
Der Schmerz darüber, nicht angenommen zu werden, ist sehrwahrscheinlich bei manchen Kindern die Ursache des so genannten plötzlichen Kindstods.Meistens unterwirft sich das Kind, um teilzuhaben an der Macht, die es unterdrückt.Autistische Kinder gehen offensichtlich anders mit diesem Schmerz um, sie scheinen nichtbereit zu sein, ihn zu leugnen…
Es ist sehr paradox: Man kann nicht mit demSelbsthass leben, ohne etwas gegen ihn zu tun. Würde man ihm ins Gesicht sehen, sähe mansich dem Schmerz über den Verrat, den man an sich selbst begangen hat, konfrontiert. Alsowird er geleugnet. Der Widerspruch zwischen dem Bedürfnis, vor sich selbst das Gesicht zuwahren, und der Bereitschaft, sich durch Unterwerfung mit der Macht zu verbünden, istdeshalb die [b]grundlegendste und vielleicht [b]erste Spaltung in der menschlichenSeele. Sie ist nicht eine blosse Verdrängung, sondern eine [b]radikaleAbspaltung, die Abspaltung [b]vom Wissen um das preisgegebene Selbst und dendaraus resultierenden [b]Selbsthass. Dies wird zum [b]Grundprinzip eines ganzenLebens.
Diese Spaltung ist eingebettet und wird aufrechterhalten von einergesellschaftlichen Ideologie, die Gehorsam mit Verantwortung gleichsetzt: Gehorsam seinheisst gut sein, und gut sein heisst verantwortungsvoll sein. Frei sein dagegen istungehorsam, und wer ungehorsam ist, fordert Missfallen heraus und droht den Schutz derMächtigen beziehungsweise die Chance der Teilhabe an ihrer Macht zu verlieren.
(war mein gemeinsamer Aufschrei mit Arno Gruen…)[/b2][/b1][/b0][/b][/b][/b][/b]