Nebelstimme schrieb am 14.08.2019:Ihr befindet euch in einer für euch scheinbar ausweglosen Situation, entwickelt sogar Suizidgedanken. Eigentlich das Gegenteil der Resilienz. Doch meint ihr es ist möglich ohne therapeutische und medikamentöse Hilfe aus diesem Tief heraus zu finden und seine Psyche sogar derart zu stärken das man über einen gewissen Zeitraum eine Resilienz entwickelt?
Aus eigener Erfahrung: Ja. Ich war zweimal in so einer Situation - aber -rückwirkend- es war auch wirklich Glück, dass ich da herausgefunden habe. Und -es gibt so viele tolle Hilfsangebote, dass es auch doof war, alleine z.T. über einen sehr langen Zeitraum vor mich hinzuleiden.
Und: Ich hatte das Glück eines kompletten Wohnraumwechsels, praktisch einmal ein komplettes Reset. Das erste Mal war ich soweit, dass ich abschließen wollte, als mein Freund, mit dem ich acht Jahre zusammen war und der wirklich mein Ein und Alles war, fremdging. Wir planten gerade unsere Hochzeit, schauten Grundstücke an und mir zog es komplett den Boden unter den Füßen weg.
Es war wirklich auch so, dass ich ihm sehr viel zu verdanken hatte, damals kaum Kontakt zu meinen Eltern und einen sehr überschaubaren Freundeskreis hatte, der nicht belastbar oder verlässlich war - mehr Bekannte. Zudem lief der Mietvertrag auf ihn - mit der Trennung wurde ich obdachlos, ich hatte gerade meine Stelle gekündigt, um ihn bei einem Karrieresprung zu unterstützen und war in eine fremde Stadt gezogen, in der ich keinerlei Unterstützersysteme hatte.
Er war sozusagen, der Fels in der Brandung, mein Leuchtturm und ich dachte immer, er sei das Glück meines Lebens. Entsprechend schwer war es zu akzeptieren, dass dieser Mann ein zweites, sehr hässliches Gesicht hatte, dass ich nie heiraten würde, dass wir nie ein Haus bauen, Kinder bekommen ... der Abschied von dieser Zukunft war extrem schmerzhaft und der Abschied von ihm.
Da kamen mir Gedanken, weil ich diesen Schmerz und die Einsamkeit nicht ertragen konnte - es ging soweit, dass ich wirklich einmal eine Nacht auf unserem Tiefgaragenstellplatz saß, einfach hoffend, dass er heimkommen würde, ich ertrug die Leere und Stille in unserer Wohnung nicht mehr. Und weil diese Leere so wehtat, gab es eben auch Gedanken, dass ein Suizid sie beenden könnte.
Glücklicherweise hatte ich -woher auch immer- noch einen gewissen Drive, packte mein Geraffel, schmiss es bei meinen Eltern in die Garage, setzte mich dem Mitleid/Hohn eines ganzen Dorfes aus "wolltest du nicht heiraten", bewarb mich um Studienplätze, schnappte meinen Rucksack (weil ich es im heimischen Dorf nicht aushielt), plünderte mein Konto und reiste einmal in ein paar europäische Länder, wo ich schon immer hinwollte. Da ich viel in Hostels schlief, lernte ich total viele Menschen und Lebensentwürfe kennen und stellte fest, dass ich bisher wie in einem Ei gelebt hatte und gar nicht wusste, was auf der anderen Seite war. Dass ich keinen festen Wohnsitz mehr hatte, störte gar nicht, weil ich mich im Leben treiben ließ, immer mal wieder arbeitete und immer wieder die Chance hatte, Anker zu werfen.
Irgendwann trudelte eine Zusage für einen Studienplatz ein, ich war fast pleite, fand ein Zimmer und begann nicht als verheulte Ex von mein Studium, sondern als junge Frau mit witzigen Geschichten und der Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen ... Die Frau, die sich an der Uni einschrieb, hatte mit der Frau, die ein halbes Jahr zuvor über Suizid nachdachte, nichts mehr zu tun - weder optisch, noch von Werten, Normen und Verhaltensweisen. Es war fast so, als ob ich aus einem Ei geschlüpft war und zu der Person wurde, die ich heute bin.
Doors schrieb am 14.08.2019:Manchmal glaube ich, ich muss einen Resilienzfaktor haben wie Stahlbeton, dass alles, was sich das Leben so im Laufe der Jahrzehnte für mich ausgedacht hat, abprallt wie Knallerbsen an einem Kampfpanzer. Möglicherweise ist verrückt, wer an diesem Leben nicht irre wird.
Das hatten wir in einem anderen Thread auch schon. Bei mir ist es ähnlich. Ich wurde z.B. in meiner Kindheit wiederholt sexuell missbraucht - zunächst war ich echt verschüchtert ... aber ich habe als Kind gelernt, das abzuspalten, irgendwie. Bei mir ist es auch so, dass Stress an mir abprallt. In meinem alten Job habe ich z.B. mal sechs Wochen am Stück gearbeitet (mit 12 Stunden Schichten am Wochenende) - ohne dass es mich ermüdet hätte. Ich konnte das auch abspalten.
Doors schrieb am 14.08.2019:Na gut, für psychische Probleme halte ich mir eine kleine Schwester und für Suchtverhalten eine Ehefrau. Vielleicht ist auch hier Outsourcing das Geheimnis psychischer Gesundheit.
Witzig - so ist es bei mir auch ... ich habe einige sehr instabile Menschen in meinem Umfeld und weiß gar nicht, warum sie da sind (wir sind gar nicht verwandt).
Doors schrieb am 14.08.2019: Warum ich so bin wie ich bin? Keine Ahnung. Harte Kindheit, harte Jugend, anstrengendes und aufregendes Leben - vielleicht wächst der Mensch tatsächlich mit und an seinen Aufgaben - wenn er nicht daran zerbricht.
Ich denke, es gibt verschiedene Coping Mechanismen - abzuhärten ist einer davon. Wir hatten einen Mann im Ort, dessen drei Kinder alle im Jugendalter an einer Erbkrankheit verstarben, seine Frau wurde sehr krank, etc. immer passierte etwas - und er schaffte es, in allem einen Sinn zu sehen und sich weiterhin konstruktiv in die Gesellschaft einzubringen (Gründung einer Gruppe für verwaiste Eltern, Schaffung von Strukturen ...)