Wie geht es Euch nach Eurer Abtreibung?
25.01.2020 um 21:39
Ich weiß nicht, ob ich hier schreiben sollte, denn ich habe nie abgetrieben, hatte aber praktisch so zweimal so eine "fast Abtreibungserfahrung" - die sehr unterschiedlich waren.
Ich habe hier ja schon öfters meine Biografie geschrieben - ich bin mit 16 (fast mittellos) daheim ausgezogen und habe fast 10 Jahre lang (mit kurzen Unterbrechungen) auf dem absoluten Existenzminimum gelebt, weil ich erst eine Ausbildung machte (die mir keinen Spaß machte), dann das Abi nachholte und dann studiert habe.
Alles, was ich an "Plus" hereingewirtschaftet habe, habe ich wieder in meine Ausbildung investiert (z.B. Führerschein, Auslandssemester, ...). Daher war ich eigentlich immer im Überlebensmodus und hatte immer den Spagat zwischen Arbeiten und möglichst billig leben (meist auf irgendwelchen Billigjobs in der Gastronomie - lange vor Zeit des Fachkräftemangels (ich war aber gar keine Fachkraft) und Mindestlohn und möglichst gute Studienergebnisse zu erzielen.
Im letzten Semester meines Studiums wurde ich völlig ungeplant schwanger. Es war so überraschend und unwahrscheinlich (wir waren so vorsichtig!), dass ich es drei Monate lang geschafft habe, die Schwangerschaft zu ignorieren. Ich hatte Examen, meine Mitbewohner hatten sich mit einer hartnäckigen Form des Novo-Virus angesteckt und ich hatte immer mal wieder schwere Blutungen und Übelkeit, was ich einfach unter Stress und Virus verbuchte.
Ich hatte viele Probleme: die Prüfungen, die Magisterarbeit, die Nebenjobs, mein Mietvertrag endete mit der bestandenen Prüfung (ich wohnte im letzten Semester auf dem Campus) und ich arbeitete noch viel, damit ich nicht auf der Straße stand und auch eine Kaution etc. für eine Wohnung außerhalb der Uniwelt stemmen konnte. Gescheide Klamotten für Vorstellungsgespräche musste ich auch kaufen.
Nach der letzten Prüfung war mir klar, dass irgendetwas passiert war (unterschwellig schon vorher) und ich machte beim Gynäkologen einen Termin aus. Ich kaufte mir so einen Billigtest, aber ich rechnete nie damit, schwanger zu sein und für einen kleinen Moment schien mein Leben wie ich es kannte, zu enden, als er positiv wurde. Ich hatte schon eine Doktorandenstelle an der Uni mündlich zugesagt, in meinem dortigen Bekanntenkreis waren Kinder (noch) gar kein Thema. Ich ging also an die Uni zurück, erzählte niemanden, was passiert war und merkte, dass die Tage in dem Leben, wie ich es kannte, gezählt waren.
Ich bekam solche Angst - ich hatte mich an der Uni so wohl gefühlt, hatte meine ganzen Bekannten dort. Ich hatte entsetzliche Zukunftsängste - bisher war ich alleine gewesen und immer in der Lage, mich selbst irgendwie zu versorgen und zu finanzieren - das würde nun mit einem Kind, das beaufsichtigt werden musste, nicht mehr gehen. Würde ich einen Job finden, der mich endlich aus dem Dauerzustand der Armut befreien würde - trotz Kind? Lauter neue Probleme. Babyausstattung. Kinderbetreuung. Minimierte Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Da ich wirklich sehr gerne an der Uni bleiben wollte, habe ich einen Beratungstermin wahrgenommen - einfach auch, um zu schauen, ob es irgendwas gab - ein Stipendium, irgendwas, was diese Angst abdämpfen würde, einen Weg, den ich gehen konnte, um beides zu behalten. Der Beratungstermin war ernüchternd und ziemlich negativ. Nach dem Beratungstermin bekam ich dann den Beratungsschein in die Hand gedrückt "falls ich es mir überlegen wollte". Die Beratung lief einfach dahin, dass ich beraten wurde, die Schwangerschaft zu unterbrechen - es gab keinen Weg, an der Uni zu bleiben, die Finanzierung außerhalb der Sozialhilfe (damals gab es noch kein Hartz4) unmöglich, mit Sozialhilfe durfte ich aber nicht mehr eingeschrieben sein, sonst gab es gar nichts.
Der Abbruch klang so einfach, der Beratungstyp ließ es so wie Alltag klingen - ein kurzer ambulanter Eingriff, niemand würde etwas wissen, das Kind eigentlich noch ein Zellhaufen, meine wirtschaftliche Lage so prekär, dass es auch schwierig wäre. Sie kooperierten auch mit einem Gynäkologen, der könnte die nächsten Tage, also sehr schnell ... Er gab mir so viele Gründe, dass völlig unlogisch schien, das Kind zu behalten.
Es war für einen Nachmittag verlockend, weil ich einfach das, worauf ich so lange hingearbeitet hatte, nicht verlieren wollte und ich mich in meinem Unileben so wohl fühlte. Man könnte ja "ein anderes Kind" bekommen, in einem Jahr oder zwei. Ich war wirklich versucht, einen Termin auszumachen, "ambulant", keine große Sache, ein paar Minuten, am nächsten Tag wieder einsatzfähig. Dann war ich beim Gynäkologen, der merkte wohl meine Ambivalenz und datierte meine Schwangerschaft auf die 10. Woche (ich war aber schon weiter). Als ich das Herz hatte schlagen sehen, wusste ich, dass ich das nicht hinbekommen würde. Auf dem Heimweg sah ich lauter Frauen mit Kinder. Da wusste ich wieder - NEIN. Auch wenn es völlig irrational war - ich konnte es nicht.
Ich sagte die Stelle ab, der Kindesvater war Gott-sei-Dank außer sich vor Freude und stellte mich auf das andere Leben -mit Kind und ohne Unikarriere- ein. Ich habe oft an den Mittag gedacht und die Versuchung, die er darstellte. Die Beratung war gefährlich, einfach, weil ich so verwirrt war und immer gesagt bekam "hier - die Lösung ist Abtreibung. Die einzige Lösung ist Abtreibung. Das Kind in diese Armut hinzugebären ist unfair. Sogar die Wohnsituation ist gefährdet. Gefährde dich nicht selbst". Es klang so, wie wenn es das richtige wäre, das Kind nicht zu bekommen. Aus heutiger Sicht gruselig.
Die zweite Erfahrung war komplett anders. Nach der Geburt von Kind #1 wollten wir ein Geschwisterchen - möglichst im schnellen Abstand (ich hatte die Hoffnung auf die Unikarriere noch nicht aufgegeben). Und es tat sich zwei Jahre überhaupt nichts ... Auf einmal zeichneten wir Temperaturkurven, trackten fruchtbare Tage ...
Und auf einmal stellte ich fest, dass so eine Schwangerschaft nicht bestellbar war und wir kamen an einen Punkt, wo wir dachte, gut, wenn es nicht wieder klappt - da sah ich den Mittag von anderer Seite - wenn ich mein Kind abgetrieben hätte, wäre ich vielleicht gar nie Mutter geworden. Das hat meine Sichtweise komplett verändert.
Dann - fast drei Jahre nach der Geburt - eine Zwillingsschwangerschaft. Sie stand von Anfang an unter keinem so guten Stern, der erste Zwilling gut darstellbar mit solidem Herzschlag, der zweite klein und eher zögerlich an unmöglichem Ort eingenistet. Dann, aus heiterem Himmel - eine Blutung.
Zurück zum Gyn, der feststellte, dass der gut darstellbare zeitgemäß entwickelte Zwilling verstorben war und der andere immer noch irgendwie in mir hing. Zweitmeinung im Krankenhaus, die schon mal vorsichtig zum Abbruch rieten, weil nichts an der Schwangerschaft der Norm entsprach, dann Wochen, wo es immer zwischen Krankenhaus und zu Hause hin und her ging ... das Baby wuchs, aber nicht so, wie es sollte. Kind #1 litt furchtbar unter der Situation. Dann wieder heftige Blutungen und Krämpfe. Zurück ins Krankenhaus ....
Konzil mit einer Zweitmeinung, der eben auch davon ausging, dass das Baby nicht normal entwickelt war (von der Größe her), die Plazenta funktionierte auch nicht richtig ... Immer wieder die Empfehlung der Ärzte, die Schwangerschaft mit den vielen Fragezeichen zu beenden, da sie die Chance, dass ein gesundes Kind herauskäme "optimistisch geschätzt auf 20%" ansiedelten und die Gefahr einer Frühgeburt, die entweder nicht überlebensfähig wäre oder schwerstbehindert riesig.
Immer wieder das (zu kleine) Kind und sein Herzschlag im Ultraschall. Immer wieder das heftige Weinen von Kind #1, das mich daheim vermisste. Immer wieder die Frage, ob und wie lange man die Schwangerschaft halten würde. Wann würde die Plazenta ihren Geist aufgeben? Was, wenn das Kind in der 21. oder 22. Woche zur Welt kommen würde, nicht lebensfähig. Was, wenn es überleben würde, aber schwerstbehindert wäre? Wäre es dem ersten Kind gegenüber nicht unfair? Wollten wir unser gesamtes weiteres Leben einer derartigen Aufgabe widmen? Durften wir hier über Leben und Tod entscheiden? Dann in der 18. Woche Wehen ... Wieder Krankenhaus, riesiger Medikamentencocktail, Megablutung. Aber das Baby lebte noch immer. Es war ein furchtbarer Nervenkrieg - geboren habe ich am Ende einen gesunden kleinen Jungen, der heute ein intelligenter, frecher Teenie ist :-).
Neben dem verstorbenen Zwilling hatte ich noch zwei Fehlgeburten. Ich habe danach noch ein weiteres Kind bekommen - und war eben noch mit drei Kindern schwanger, die ich nie kennengelernt habe. Ab und an, bei Familienfeiern oder beim Abendbrot denke ich daran, wie sie wohl gewesen wären (meine drei Kinder sind sehr unterschiedlich).
In meiner unbekümmerten Studizeit hätte ich auch gedacht, dass ich das mit der Abtreibung hinbekomme um mir und künftigen Kindern ein wirtschaftlich besseres Leben zu ermöglichen. Ich hätte vermutlich damals die Abtreibung als große Erleichterung empfunden. Ich selbst habe ich aber auch weiterentwickelt. Aus heutiger Perspektive bin ich sehr dankbar, dass ich in beiden Fällen - nicht abgetrieben habe. Ich vermisse schon mitunter die Kinder, die durch Fehlgeburten verstorben sind. Ich denke, ganz wäre ich mit mir nicht mehr ins Reine gekommen, wenn ich mich bewusst dafür entschieden hätte, sie nicht zu bekommen.
Meine Mutter hatte vor meinem Bruder und mir eine Todgeburt. Das war in den 1960ern und man riet damals den Frauen, so schnell wie möglich zum Alltag überzugehen. Das tat sie, redete nicht viel darüber, spendete einen Teil der Kleider, wurde wieder schwanger, bekam drei Kinder.
Wir liefen oft auf den Friedhof um die Gräber zu gießen und danach immer noch über das Feld, wo die Todgeburten des Klinikums irgendwo anonym bestattet waren. Meine Mutter sagte nie viel - sie ist heute fast 80, aber wenn sie auf dem Friedhof ist, dann geht sie immer noch über dieses Gräberfeld. Sie sagt immer noch nicht viel, aber irgendwo ist die Trauer in ihr und sie kann sie noch immer nicht artikulieren.