Böhmermann, Schmähkritik, Erdogan und internationale Zwischenfälle...
16.04.2016 um 10:58@exbuddel
Das wurde gestern auf n24 berichtet..
Das wurde gestern auf n24 berichtet..
In Anbetracht des Wirbels, den der Fall Böhmermann in Deutschland verursacht, könnte man erwarten, in der Türkei wäre es ebenso. Doch weit gefehlt, das Land hat wichtigere Probleme.http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/8380530/die-tuerkei-hat-ganz-andere-probleme.html
Angesichts der Ausmaße, die die Affäre um Jan Böhmermann angenommen hat, scheint sich das in Deutschland kaum jemand vorstellen zu können – aber die Wahrheit ist: Die Sache war in der Türkei bislang kein großes Thema. Natürlich berichteten türkische Medien darüber, und Regierungssprecher Numan Kurtulmus nannte Böhmermanns Schmähkritik gar ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Aber Ausmaße wie in Deutschland erreicht das Thema nicht.
Überhaupt griffen türkische Medien den Fall erst auf, nachdem der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert erklärt hatte, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ihrem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu gegenüber Böhmermanns Gedicht als "bewusst verletzend" bezeichnet. Das war am 3. April, vier Tage nach Ausstrahlung des Beitrags in der ZDF-Sendung "Neo Magazin Royale".
Selbst die Zustimmung der Bundesregierung zum Ermittlungsverfahren rangierte am Freitag in den Fernsehnachrichten und auf den Nachrichtenseiten nur an zweiter Stelle – hinter Erdogans Rede zum Abschluss des Gipfeltreffens der Organisation für Islamische Zusammenarbeit in Istanbul, bei der er aber nicht auf die Böhmermann-Affäre zu sprechen kam.
Auch in den Trending Topics auf Twitter – der Kurznachrichtendienst ist in der Türkei ungleich verbreiteter als in Deutschland und immer ein gutes Indiz dafür, was die Leute bewegt – tauchte das Thema am Freitag nicht auf. Vermutlich wird es noch einige Reaktionen geben. Aber dass sich – wie in Deutschland – unzählige Politiker, Journalisten und Künstler dazu äußern, ist nicht zu erwarten. Jedenfalls nicht, so lange sie nicht von deutschen Journalisten dazu gefragt werden.
Aber warum hat das Thema die Türkei bislang nicht in gleicher Weise bewegt? Das hat vermutlich verschiedene Gründe, politische wie ästhetische. Die politischen: In Teilen der kurdischen Gebiete des Landes herrscht Krieg. Jeden Tag sterben Sicherheitskräfte, PKK-Kämpfer und Zivilisten, ganze Städte sind von der Außenwelt abgeschnitten. In den vergangenen Monaten haben sich in Ankara und Istanbul mehrfach Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt.
Die Tageszeitung "Cumhuriyet" veröffentlichte interne Untersuchungsberichte der Behörden, aus denen hervorgeht, dass die Polizei vor dem Anschlag auf eine Kundgebung von Kurden und Linken Mitte Oktober in Ankara – mit 107 Todesopfern der blutigste Anschlag der türkischen Geschichte – Warnungen des Geheimdienstes ignoriert habe. Einige Stunden nach der Entscheidung in Sachen Böhmermann wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Ankara Ermittlungen eingeleitet hat – nicht gegen Verantwortliche bei der Polizei, sondern gegen drei Journalisten der "Cumhuriyet" und der "Evrensel", die darüber geschrieben hatten.
Die innenpolitische Diskussion dreht sich um die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten und um die Einführung eines Präsidialsystems – Erdogan will gerne in der Verfassung umfangreiche Kompetenzen für sein Amt verankern, die er bislang nur faktisch und ohne Rechtsgrundlage in Anspruch nimmt. Außerdem hat die Türkei 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
Dazu erschüttert ein Missbrauchsskandal das Land, den die AKP-Regierung zu vertuschen versucht. Und nachdem Mitte März der türkisch-iranische Geschäftsmann Reza Zarrab, eine Schlüsselfigur des AKP-Korruptionsskandals von 2013, in den USA verhaftet wurde, wartet man gespannt auf seine Aussagen.
Kurz: Die Türkei hat andere Probleme. Jedes einzelne davon, so sagen kritische Journalisten, würde in einem "normalen Land" monatelang die Öffentlichkeit beschäftigen. Und daran, dass der Staatspräsident sich ständig beleidigt fühlt, hat man sich hierzulande gewöhnt: Knapp 2000 Anklagen wegen Beleidigung des Staatspräsidenten wurden seit seinem Amtsantritt im August 2014 erhoben.
Hinzu kommen ästhetische Gründe: Derber deutscher Humor lässt sich kaum oder gar nicht ins Türkische übertragen, was auch umgekehrt gilt. Ins Deutsche übersetzt, wirken auch die derben Gags der türkischen Satirezeitschriften "Penguen" oder "Leman" plump.
Außerdem haben es die türkischen Medien bislang versäumt, Böhmermanns Gedicht zu erläutern. Auch sie haben schließlich anderes zu tun. Böhmermanns Vorrede, in der auf den Unterschied zwischen erlaubter Satire und auch in Deutschland verbotener Schmähkritik eingegangen wird, kam in der Türkei nicht an. Ebenso wenig, dass er mit seinem Gedicht nicht nur eine Botschaft an Erdogan adressierte, sondern sich auch von Pharisäern in Deutschland abgrenzen wollte, die sehr für Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sind, solange es um die Türkei geht.
Diese Nuancen fehlen in der Berichterstattung, ebenso wie der Hinweis, dass Böhmermanns Schmähungen auch ein Parodie waren: eine Parodie auf Satire wie eine Parodie auf Beleidigungen. Einen Reim wie "Von Ankara bis Istanbul weiß jeder / dieser Mann ist schwul" würde in Deutschland nicht einmal ein Büttenredner in der Provinz machen. Das aber müsste man in der Türkei erklären. Ohne diesen Kontext, in der reinen Übersetzung aber wirkt das Gedicht als Aneinanderreihung von Beleidigungen ohne jeden Esprit und Hintergedanken.
Auch darum gab es wohl – anders als bei dem satirischen Lied von "Extra 3" – keine untertitelte Version des Gedichts, die unter Erdogan-Gegnern die Runde gemacht hätte.
Und eigentlich hatte man das Thema schon fast vergessen, bis letzte Woche ein Kamerateam des regierungsnahen Senders A-Haber die ZDF-Zentrale in Mainz besuchte und sich über die ZDF-Verantwortlichen beschwerte ("Sie sehen, wie es um die Pressefreiheit in Deutschland bestellt ist: Die Hände in den Hosentaschen"). Das war todernst gemeint, wurde aber zu einer großen Lachnummer.