http://www.stillkinder.de/warum-stillen-muetter-in-deutschland-nicht-laenger/Warum stillen Mütter in Deutschland nicht länger?
Die durchschnittliche Stilldauer in Deutschland betrug in den Jahren 2003 – 2006 nur 6,9 Monate, 77,6 % der Mütter stillten weniger als 6 Monate voll.
Nach 9 Monaten hatten ca. 79 % der Mütter bereits abgestillt, nach 12 Monaten stillten ca. 92 % nicht mehr, nach 18 Monaten ca. 97 % und nach 24 Monaten mehr als 99 %[1].
Damit liegen deutsche Mütter, trotz zahlreicher wissenschaftlicher Belege der Nachteile des Nicht- oder kurzen Stillens[2],[3], bei der Stilldauer weit hinter der Empfehlung der WHO zur globalen Strategie für die Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern[4]. Diese empfiehlt ein ausschließliches Stillen in den ersten 6 Lebensmonaten und danach bei geeigneter Beikost ein Weiterstillen bis zum zweiten Geburtstag und darüber hinaus, um optimales Wachstum, Entwicklung und Gesundheit zu gewährleisten und den steigenden Nährstoffbedarf von Kleinkindern zu decken.
Ausgehend von dem biologischen Abstillalter von 2,5 – 7 Jahren, wie es von der amerikanischen Anthropologin Katherine Dettwyler durch Vergleiche mit anderen Säugetieren und Primaten errechnet wurde, sowie im Vergleich mit der durchschnittlichen Stilldauer von 64 traditionellen Kulturen, die bei etwa 32 Monaten liegt[5], stellt sich die Frage, wie es zu diesen Unterschieden kommt.
Stillen ist zwar, rein biologisch gesehen, ein natürliches und angeborenes Verhalten von Müttern und Kindern, dennoch gibt die jeweilige Kultur einer Gesellschaft vor, warum, wie, wo und besonders wie lange gestillt wird. Darüber hinaus spielen natürlich jeweils auch individuelle Faktoren eine Rolle.
Die Gründe für das vorzeitige Abstillen
Mütter, die vorzeitig abgestillt haben, nennen als häufigsten Grund Stillprobleme, wie z.B. Schmerzen beim Stillen, Brustentzündung, Milchmangel oder Brustverweigerung. Weiter geben sie oft an, dass Flaschenfütterung bequemer bzw. genauso gut wie Stillen sei, und dass das Stillen mit zuviel Stress durch Wiederaufnahme der Berufstätigkeit, dem Haushalt oder den Geschwisterkindern verbunden war.[6]
Auch gesundheitliche Probleme, wie Krankheiten von Mutter oder Kind mit notwendigen „nicht-stillverträglichen“ medizinischen Behandlungen, eine neue Schwangerschaft, die Sorge vor Schäden durch Schadstoffe in der Muttermilch oder Karies des Kindes führen oft zu einem früheren Abstillen, als es ursprünglich geplant war.
Weitere Gründe sind Belastungen der Mutter durch nächtliches Stillen sowie beim Stillen in der Öffentlichkeit. Einen großen Einfluss auf die Stilldauer hat auch die mangelnde Akzeptanz des längeren Stillens durch den Partner und das weitere soziale Umfeld, einschließlich Kinderarzt, Frauenarzt, Hebamme usw.
Häufig wird die Einführung der Beikost mit dem Beginn des Abstillens verbunden, erwecken doch viele Empfehlungen den Eindruck, dass dabei nach und nach die Stillmahlzeiten durch Brei ersetzt werden[7]. Die neuen Leitlinien zur Allergieprävention[8] empfehlen nun das Einführen der Beikost nach dem 4. Lebensmonat, was wahrscheinlich eine weitere Verkürzung der Stilldauer zur Folge haben wird.
Das Stillen eines älteren Kindes wird zudem von der Allgemeinheit, sowie auch von vielen Psychologen, als Zeichen einer zu großen Abhängigkeit von der Mutter gesehen. Das hierzulande gesellschaftlich akzeptierte Abstillalter liegt etwa bei einem Jahr. Nach dieser Zeit wird zunehmend Druck auf die Mütter ausgeübt, doch nun endlich abzustillen. Die häufig gestellte Frage „Stillst Du immer noch?“ ist nur ein Beleg dafür. Stillen über das erste Lebensjahr hinaus wird demzufolge auch als „Langzeitstillen“ bezeichnet, was ebenfalls zeigt, dass unsere kulturelle Norm eine kürzere Stillzeit vorsieht.
Der Einfluss der Kultur auf das Stillverhalten in Deutschland
Die Mütter entscheiden sich für das Stillen und Abstillen immer im kulturellen Kontext. So fokussiert unsere Gesellschaft zwar einerseits stark auf dem gesundheitlichen Aspekt des Stillens. Fast alle werdenden Mütter begründen ihren Stillwunsch auch damit, ihr Kind vor Infektionen und Allergien schützen und ihm das Beste geben zu wollen. Andererseits wird Stillen hierzulande oft als schwierig, unkontrollierbar, einschränkend und auszehrend für die Mütter angesehen, so dass bei auftretenden Problemen schnell nach der scheinbar sichereren und einfacheren Flaschennahrung gegriffen wird.
Stillen wird dabei lediglich als eine Form der Ernährung von Babys gesehen und die ebenso wichtigen Funktionen wie etwa regelmäßiger Haut-Haut-Kontakt, Vertiefung der Mutter-Kind-Bindung, Regulation der kindlichen Gefühlszustände, Reduktion der mütterlichen und kindlichen Stresshormone usw. geraten völlig aus dem Blick. Stillen über die Babyzeit hinaus wird gar als überflüssig und potentiell gefährlich angesehen.
Wesentlichen Einfluss auf das Stillverhalten haben die veränderten Familienstrukturen, entstanden durch das Aussterben der dörflichen Strukturen und der Großfamilien, mit der Folge, dass Kinder hierzulande immer weniger durch das Beobachten von stillenden Müttern lernen können, wie gestillt wird. Die heute übliche berufliche Mobilität führt zudem dazu, dass viele junge Eltern weit entfernt von ihren Ursprungsfamilien leben, so dass sie nach der Geburt eines Kindes kaum familiäre Unterstützung erhalten können. Schon bald nach der Geburt bleibt die junge Mutter mit Baby, Geschwistern und Haushalt allein, was oft zu Überlastung und Überforderung führt. Dies trifft noch in besonderem Maße auf Alleinerziehende und Mütter, die frühzeitig wieder erwerbstätig sind, zu.
Auch die moderne Pränatal- und Geburtstechnologie führt bei den Schwangeren zu einem zunehmenden Verlust des Vertrauens in die Fähigkeiten ihres Körpers und ihres Kindes. Statt ihren eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Wahrnehmungen zu trauen, bauen sie nun vor allem auf die Ratschläge von Experten, informieren sich in Büchern und im Internet und suchen nach Regeln, denen sie folgen können.
Da das medizinische Fachpersonal jedoch oft nur mangelhaftes Fachwissen zum Stillen hat, wird bei Stillproblemen oft allzu leicht zum Abstillen geraten, wobei manche Ratschläge von Experten erst die Probleme verursachen, wie z.B. Begrenzung der Anlegezeiten, feste Rhythmen oder das frühe Fördern des nächtlichen Durchschlafens. Auch die Zunahme der Kaiserschnitte auf 31 % der Geburten im Jahr 2009 führt zu vermehrten Schwierigkeiten zum Beginn der Stillzeit[9], denen nicht selten ein frühzeitiges Abstillen folgt.
Seit dem Beginn der industriellen Herstellung sogenannter „humanisierter“ bzw. adaptierter, künstlicher Säuglingsnahrung in den 50erJahren hat sich in der Gesellschaft die Annahme verbreitet, künstliche Säuglingsnahrung sei der Muttermilch gleichwertig und sicher. Gleichzeitig wurden durch moderne Labortechniken immer mehr unterschiedliche Schadstoffe[10] in der Muttermilch nachweisbar, was bei den Eltern Ängste und Zweifel an ihrer Qualität auslöst und die künstliche Säuglingsnahrung spätestens nach 6 Monaten als sichere Alternative erscheinen lässt.
Die langen Regale der frei verkäuflichen Babynahrung in deutschen Supermärkten wecken zudem den Anschein, die dort angebotenen Produkte seien unverzichtbare Utensilien der Babypflege. Die Säuglingsflasche als Piktogramm für Wickelräume oder als Zubehör für Puppen zeigt einmal mehr, dass Deutschland eher eine „Flaschenkultur“ als eine Stillkultur hat.
Weiter herrscht in unserer Kultur ein distanzierter Typ der Babypflege vor, der sich in der frühen Trennung von Müttern und Kindern durch Babybetten, Kinderwägen, Babyphon und Schnuller usw. äußert. Auch müsse schon das Baby zur Regelmäßigkeit, zum frühen Durchschlafen ohne elterliche Nähe und zum Warten erzogen werden. Aufgrund häufiger Warnungen der älteren Generation fürchten viele Eltern, ihr Baby wolle sie manipulieren, wenn es schreit, weil es alleine gelassen wurde und sich beruhigt, sobald es hochgenommen wird. Zuviel körperliche Nähe und Eingehen auf die kindlichen Bedürfnisse würde das Kind verzärteln, oder gar verwöhnen, indem unerwünschte Verhaltensweisen belohnt werden[11].
Bei Babys, die viel weinen, werden schnell Dreimonatskoliken oder Regulationsstörungen diagnostiziert, was die Ursache des Weinens beim Kind sieht, statt in der Art der herrschenden Babypflege. So werden Kinder sogar von Erziehungsratgebern als „kleine Tyrannen“ bezeichnet[12], die von den Eltern zu zivilen Menschen erzogen werden müssen. Ziel der Erziehung ist daher auch die Selbständigkeit von Kindern. Insbesondere das längere Stillen wird hier als die Entwicklung der Selbständigkeit behindernd angesehen, da es das Kind zu lange in einer Abhängigkeit von der Mutter und im Verhaltensrepertoire eines Säuglings halten würde.
Auch wird Stillen allgemein als die Mutter einschränkend und aufzehrend bezeichnet, da es schwierig und aufwändig sei. Schon im Mittelalter war es daher gängige Praxis der Oberschichtmütter, ihre Kinder zu Ammen zu geben, um dem anstrengenden Stillen zu entgehen[13]. Die Frauen der Unterschicht mussten hingegen stillen, da sie sich keine Amme leisten konnten und ihre Kinder sonst nicht überlebt hätten. Auch Aussagen wie „Stillen schwächt die Knochen“ oder „Jedes Kind kostet die Mutter einen Zahn“ zeugen von der Einstellung, dass Stillen eine Aufopferung der Mutter bedeutet. So glauben noch heute viele Menschen, Stillende müssten ihre Ernährung einschränken, da viele Lebensmittel Koliken verursachten, oder sie dürften keinerlei Medikamente nehmen, was beides jedoch nicht den Tatsachen entspricht. Die Mütter müssten sich dem Kind unterordnen und wären durch das Stillen an Haus und Kind gebunden.
Paradoxerweise wird jedoch die Familienarbeit gesellschaftlich nicht als wirtschaftliche Leistung, sondern als eine Art „Nichtstun“ gesehen. Hinzu kommt, dass bei zu langer Abwesenheit aus dem Berufsleben bzw. von einer bestimmten qualifizierten Arbeitsstelle die Gefahr wegen vorgeblicher Dequalifizierung „nicht mehr benötigt zu werden“ steigt. Der subjektive und auch objektive Druck, dem Arbeitsmarkt nach einer Geburt wieder schnell und vollumfänglich zur Verfügung zu stehen, ist insbesondere für hochqualifizierte Mütter groß. Dass junge Mütter heute möglichst schnell zurück ins Berufsleben möchten, ist daher durchaus nachvollziehbar.
Dies alles steht zusätzlich vor dem Hintergrund einer allgemeinen sexuellen Doppelmoral. Einerseits werden seit den 60er Jahren in den Massenmedien zunehmend nackte und vor allem große Brüste abgebildet, was den gesellschaftlichen Fokus auf die sexuelle Funktion der Brüste statt auf ihre Ernährungsfunktion gelegt hat. Demzufolge wird das Stillen auch als quasi-sexueller Akt gesehen, der im Falle des Stillens von älteren Kindern lediglich der Lust der Mutter dienen könne und daher als sexueller Missbrauch gewertet wird.
Andererseits ist das Stillen in der Öffentlichkeit bei uns nicht gern gesehen, so dass selbst Mütter, die ein kleines Baby in der Öffentlichkeit stillen, sich dabei oft nicht wohl fühlen und versuchen, die Brust und das Stillgeschehen mit Schals und Tüchern zu verdecken oder sich zum Stillen zurückziehen. Nicht selten werden stillende Mütter tatsächlich in öffentlichen Räumen dazu aufgefordert, das Stillen zu unterlassen, da sich andere Personen davon gestört fühlen könnten[14].
Auch die Angst der Mütter vor Hängebrüsten durch das (lange) Stillen und dem damit einhergehenden Verlust ihrer sexuellen Attraktivität ist dem westlichen Fokus auf die sexuelle Funktion der Brüste zuzuschreiben. So werden in Deutschland jährlich mehr als 25.000 Brustimplantate eingesetzt. Das durchschnittliche Alter der Patientinnen sinkt von Jahr zu Jahr kontinuierlich. Die Hälfte der 2005 operierten Frauen war unter 25 Jahre, 2 % sogar unter 18 Jahre alt. Zugleich steigt das Volumen der Silikonimplantate, gerade bei jüngeren, an[15]. Dass dies auch die Stillfähigkeit und den Stillwunsch der jungen Frauen beeinflusst, muss wohl nicht unterstrichen werden.
Manche Väter drängen ihre Frauen auch zum frühen Abstillen oder verbieten ihnen sogar zu stillen, weil sie “ihre” Brust nicht mit einem Säugling teilen möchten oder ihre Frau während der Stillzeit sexuell für weniger attraktiv halten, weil aus den Brüsten Milch kommt. Dies könnte auch eine späte Nachwirkung der Haltung einiger katholischer Moraltheologen sein, die Müttern über mehrere hundert Jahre empfohlen hatten[16], ihre Kinder abzustillen und durch Ammen stillen zu lassen, um dem Ehemann zur „ehelichen Pflicht“ zur Verfügung zu stehen .
Wie kann längeres Stillen gefördert werden?
In Deutschland stillen eher Mütter länger als durchschnittlich, die einen hohen Sozialstatus haben, aus den alten Bundesländern stammen, bei der Geburt des Kindes älter als 30 Jahre und Nicht-Raucherinnen sind. Aber auch die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit und der damit einhergehende Besuch des Kindes in einer Kindertagesstätte oder das Eintreten einer neuen Schwangerschaft sind mit dem längeren Stillen vereinbar. Meine Erfahrungen aus meiner Stillgruppenarbeit mit lang stillenden Müttern seit 2003 zeigen: Es sind vor allem Mütter, die sehr feinfühlig die Bedürfnisse ihres Kindes wahrnehmen und befriedigen und die ihrem eigenen Gefühl folgen und sich in dem, was sie tun, wenig vom Druck der Außenwelt beeinflussen lassen.
Dabei ist es meistens so, dass die Mutter im Vornherein nicht geplant hatte, so lange zu stillen, sondern es sich so ergibt, weil ihr Kind mit 6 – 12 Monaten die Beikost verweigert[17] und weiter an der Brust trinken möchte. Das lange Stillen geht also meistens von dem Kind aus, das sich einfach wie seit Tausenden von Jahren seinen Bedürfnissen entsprechend verhält[18]. Wenn diese Mütter dann erfahren, dass dies ungefährlich, natürlich und „in Ordnung“ ist, stillen sie meist mit Freude und beruhigt weiter. Denn die Mütter erleben selbst mit, wie gut das Stillen ihrem Kind tut, wie es dabei auftankt und sie glücklich anschaut bzw. dies auch selbst sprachlich ausdrückt. Sie möchten dieses Bedürfnis ihres Kindes weiter befriedigen und es nicht gegen dessen Willen abstillen. Außerdem möchten sie ihrem Kind ermöglichen, selbst zu bestimmen, wann es aufhört zu stillen und vertrauen darauf, dass ihr Kind von selber das Stillen beendet, wenn es von seiner Entwicklung soweit ist, so wie es auch von selber in seinem Tempo Krabbeln, Laufen, Sprechen usw. gelernt hat.
Grundsätzlich geht es darum, den für Mutter UND Kind richtigen Zeitpunkt zum Beenden des Stillens abzuwarten und zu erkennen, statt sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen. Angesichts der kulturellen Haltung, die dem Stillen und insbesondere dem längeren Stillen kritisch bis ablehnend gegenüber steht, brauchen Mütter, die länger als hier üblich stillen, sowohl fachlich korrekte Informationen, als auch emotionale Bestärkung durch Fachleute sowie den Austausch mit Gleichgesinnten, da in ihrem persönlichen Umfeld meist kaum noch weitere Mütter stillen.
Damit in unserer Gesellschaft mehr Mütter länger stillen, müssten zunächst weitere Anstrengungen unternommen werden, um die allgemeine Stillquote zu erhöhen. Die Bedeutung des (längeren) Stillens und die Risiken des Nicht- oder Kurzstillens müssten besonders den weniger gut ausgebildeten Müttern und der gesamten Bevölkerung immer wieder nahegebracht und verständlich erklärt werden.
Weitere babyfreundliche Krankenhäuser, bessere Ausbildung zum Stillen für medizinisches Fachpersonal, leicht verfügbare Informationen für medizinische Laien, breite Aufklärung über die natürlichen Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern sowie eine positivere Darstellung des (längeren) Stillens in den Massenmedien könnten auch bei uns die Stillkultur fördern, zu größerer Akzeptanz führen und das Kurzzeitstillen vermindern.
Autorin: Regine Gresens, IBCLC, Juli 20