Der Vermisstenfall Rene Hasee (1996)
01.11.2012 um 10:38VERMISST!
Wie ist das, wenn ein Kind von heute auf morgen spurlos verschwindet? In dieser neuen BILD-Serie schildern Angehörige, wie sie mit der Ungewissheit leben. Heute: Die Familie von René, der seit 15 Jahren vermisst wird
Elsdorf – Seine bunten Pantoffeln, Größe 31, stehen noch immer unter der Kommode im Wohnzimmer bei Oma und Opa. Einmal pro Woche werden sie abgestaubt. Seit 14 Jahren und elf Monaten. Das macht 776-mal Abstauben von Pantoffeln, die keiner mehr trägt.
Irmgard (58) und Franz Burbach (65) trauen sich nicht, sie wegzuwerfen. Sie klammern sich an alles, was noch da ist von ihrem Enkel, ihrem „Mupsi“, wie sie sagen. Damit die Erinnerung bloß nicht ganz verblasst.
Vor 15 Jahren verschwand der kleine René (6) in Aljezur, 33 Kilometer entfernt von Praia da Luz – dem portugiesischen Urlaubsort, in dem 2007 auch Maddie McCann (3) verschwand.
Über die kleine Britin sprach die ganze Welt. Es wurde viel geschrieben, viel spekuliert: Entführt? Verschleppt? Oder waren es gar die Eltern? Das Verschwinden von René war nur in seinem Heimatort Elsdorf (NRW) ein Thema, und es gibt auch nur eine Theorie, an die alle glauben:
René wurde entführt.
Das denken auch Renés Großeltern, seit ihre Tochter Anita (heute 41) und ihr damaliger Freund 1996 mit René in den Sommerurlaub fuhren – und ohne ihn zurückkamen. Es war am 21. Juni, Sommeranfang, da rief Anita an. „Mutter, der Junge ist weg“, weinte sie in den Hörer.
Weg? Einfach weg?
„Sie erzählte, sie seien am Strand gewesen, René hätte noch Tintenfisch und Pommes gegessen, wollte schon mal ans Wasser“, erzählt Irmgard Burbach. „Er zog Hemd und Hose aus, spielte im Sand, meine Tochter konnte ihn die ganze Zeit sehen. Als sie zu ihm wollte und die Treppe vom Restaurant runterging, verlor sie ihn kurz aus den Augen. Und dann lagen plötzlich nur noch seine Klamotten da.“
Franz Burbach stieg sofort ins Auto, fuhr nach Portugal. René war schon immer „sein“ Junge gewesen, fast jeden Nachmittag hatte der Junge bei Oma und Opa verbracht.
Mit seiner Tochter hing der Opa Hunderte Plakate auf. Befragte Zeugen am Strand. Heuerte Taucher an. Stritt sich mit der Polizei, die die Suche nach ein paar Tagen einstellte.
„Die sagten, Anita hätte nicht aufgepasst, René wäre ertrunken“, erinnert sich Oma Irmgard. „Aber er hatte panische Angst vor den Wellen, wäre nie allein ins Meer gegangen. Außerdem hörten seine Fußspuren mitten im Sand auf.“
Der Albtraum, zu Hause wurde er noch schlimmer.
Mutter Anita konnte nicht mehr arbeiten, nicht mehr lieben. Die Postbotin wurde krankgeschrieben, später zerbrach ihre Beziehung.
Oma Irmgard erlitt einen Nervenzusammenbruch, verließ zwei Jahre das Haus nicht.
Opa Franz hatte fünf Schlaganfälle, drei Herzinfarkte. Der Stuckateur kann kaum noch sprechen. Und eigentlich will er auch nicht mehr.
Im Mai 2007 keimte kurz Hoffnung auf. „Wir dachten, durch Maddies Verschwinden nimmt man uns endlich ernst, fängt wieder an zu suchen“, sagt Irmgard Burbach. Die Ermittler aber konzentrierten sich auf Maddie, niemand fragte nach René. Nicht ein einziges Mal meldeten sich die Polizisten bei den Burbachs.
Was bleibt, ist traurig: Weihnachten ist nicht mehr Weihnachten, der Tannenbaum erinnert zu sehr an René. Ostern ist nicht mehr Ostern, das Eiersuchen erinnert zu sehr an René. Eigentlich erinnert jedes Fest, bei dem man fröhlich sein muss, zu sehr an René.
Familie Burbach hat nichts mehr zu feiern.
Jeden Sommer fährt Anita noch nach Portugal, verfolgt alte Spuren. Den Rest des Jahres versucht sie, ihr Leben zu ertragen. Sie hat sich zurückgezogen, lässt ihre Eltern für sie sprechen.
Die erzählen, ihre Tochter lebe nur noch für ihren zweiten Sohn, den sie drei Jahre nach Renés Verschwinden bekam: Guido, heute 12. „Ein lieber Junge“, sagt die Oma, „aber eben nicht unser Mupsi.“
René hat immer Spinat mit Mettbällchen von seiner Oma bekommen. „Guido hat kein Lieblingsessen, er isst ja auch nicht so oft bei uns.“
René konnte schon rechnen, bevor er in die Schule kam. „Guido fällt es schwer, sich zu konzentrieren.“
Renés Bild hängt in jedem Zimmer. „Von Guido brauchen wir keine Fotos. Wir wissen ja, wie er aussieht.“
Guido hat es nicht leicht. Die Burbachs reden lieber weiter über René.
Es gibt ein paar Erinnerungen, die lassen Oma und Opa Burbach lächeln, bevor beide wieder weinen. Eine davon:
April 1996, zwei Monate vor seinem Verschwinden. René trug seine bunten Pantoffeln, kam zu seiner Großmutter in die Küche, nahm sie fest in den Arm. „Omi, wenn du alt bist“, sagte er, „dann sorg ich für dich. Versprochen.‘“
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