DER LUZIFER EFEKT
http://www.translibri.com/pdf/Luzifer_Leseprobe.pdfDer Fall Jamie Bulger: Rechte reagieren heftig auf die Freilassung von Thompson und Venables
Von Barbara Slaughter
3. Juli 2001
aus dem Englischen (27. Juni 2001)
Als am 22. Juni bekannt gegeben wurde, dass die Entlassung von Jon Thompson und Robert Venables aus dem Gefängnis bevorsteht, reagierten die britischen Medien darauf mit einer hysterischen Verleumdungskampagne.
Thompson und Venables waren 1993 im Alter von zehn Jahren wegen Mordes an dem Zweijährigen Jamie Bulger in Bootle, Merseyside verurteilt worden. Die Presse bezeichnete die beiden Jungen damals als "Wilde" und "böse Monster". Während ihrer achtjährigen Haft erhielten ihre Familien Todesdrohungen und waren gezwungen, in Anonymität zu leben.
Die Nachricht, dass die jetzt Achtzehnjährigen Thompson und Venables bald entlassen werden, versetzte Boulevardzeitungen wie News of the World, Daily Mail und Sun in helle Aufregung. Die Presse verhüllte kaum ihren Versuch, einen Lynchmob zu mobilisieren, und veröffentlichte schadenfroh Aufrufe, die Beiden zu jagen und zu töten. Die Sonntagsausgabe von News of the World zitierte James Bulger, den Onkel von Jamie, mit den Worten: "Der Tod ist noch zu gut für diese zwei. Es wird keinen Ort geben, an dem sie sich verstecken können." Die gleiche Zeitung berichtete über Susan Venables Angst um die Sicherheit ihres Sohnes unter der Überschrift: "Bulgers Mörder in vier Wochen tot".
Wegen der Gefahr für ihr Leben wurden Thompson und Venables unter einer gerichtlichen Verfügung entlassen, die ihnen lebenslange Garantie vor "Bloßstellung", also Anonymität verspricht. Sie wurden mit neuen Identitäten und falschen Biografien versorgt, wie sie normalerweise nur Spione und verdeckte Ermittler erhalten. Aber die Geheimhaltung gilt nur für England und Wales, das heißt ihre Identitäten können in Schottland, der ausländischen Presse oder dem Internet bekannt gemacht werden. Im Ergebnis müssen Thompson und Venables, obwohl sie entlassen sind, für den Rest ihres Lebens als Flüchtige leben und permanent um ihre Sicherheit fürchten.
Nur wenige Stunden nach der Ankündigung veröffentlichte die Manchester Evening News Informationen über die zwei Haftanstalten, in denen die Jungen gehalten wurden. Staatsanwalt Lord Goldsmith prüft derzeit, ob ein Unterlassungsbefehl gegen die Zeitung erwirkt werden kann. Es wird berichtet, dass Magazine in ganz Europa riesige Summen für aktuelle Fotos von den beiden Jungen bieten. Gerüchten zufolge verfügt eine der britischen Boulevardzeitungen bereits über eine Reihe von aktuellen Fotos von den beiden Jungen. Unterstützer einer Kampagne namens "Gerechtigkeit für Jamie" behaupten, ein wenige Jahre altes Foto von Thompson zu besitzen.
Letztlich liegt die Verantwortung für diese ungeheuerliche Situation bei den Politikern der regierenden Labour-Partei und der Konservativen sowie bei den korrupten und abscheulichen Medien. Innenminister David Blunkett hat zwar formal jede Forderung nach Selbstjustiz verurteilt, sich aber gleichzeitig der Lynchmob-Atmosphäre angepasst. Er wies darauf hin, dass die Verantwortung für die Freilassung allein bei der unabhängigen Behörde für Haftentlassung liege, und fügte hinzu: "Ich kann sehr gut verstehen, wie betrübt Jamies Familie ist, diese Nachricht zu hören." Die Samstagsausgabe der Sun stellte sich auf Blunketts Seite und erklärte, dass er die Freilassung akzeptieren musste, "weil er von den Gutmenschen in den europäischen Gerichten dazu gezwungen wurde".
Das Verfahren zum Mord an Jamie Bulger diente der Labour Party 1993 als Gelegenheit zu beweisen, dass sie endgültig mit allen Vorstellungen von einer progressiven Sozialreform gebrochen hatte und es mit den Tories in Fragen der Verbrechensbekämpfungsrhetorik aufnehmen konnte. Als Sprecher der Labour Party für innere Angelegenheiten forderte Tony Blair damals härtere Maßnahmen gegen Kinder und profilierte Labour damit als "Law and Order"-Partei und sich selbst als ihren zukünftigen Führer.
Als zehnjährige Kinder wurden Thompson und Venables als kriminell zurechnungsfähig und schuldfähig erachtet. Sie wurden in einem offenen Prozess vor einem Krongericht verurteilt, dessen Verhandlungen sie weder folgen noch verstehen konnten. Bis zu diesem Verfahren war es bis üblich gewesen, Kinder, die eines Tötungsdelikts angeklagt waren, vor der Öffentlichkeit zu schützen. Richter Morland allerdings erlaubte die Veröffentlichung von Fotos und persönlichen Daten von Thompson und Venables mit dem Scheinargument des öffentlichen Interesses. Vor allem seine Entscheidung ist maßgeblich verantwortlich für die Gefahren, denen die Jungen und ihre Familien heute ausgesetzt sind.
Es wurde überhaupt nicht versucht, die soziale und psychologische Notlage zu ergründen, die zu dem Verbrechen der Jungen geführt hatte. Und es wurde alles versucht, um sie als von Natur aus böse Menschen darzustellen. Folgender Ausspruch eines Polizisten, der mit dem Fall zu tun hatte, wurde häufig zitiert: "Ich glaube, dass die Natur Missgeburten ausspuckt. Diese beiden Jungen waren Missgeburten, die sich einfach gegenseitig gefunden hatten."
Nach dem Schuldspruch organisierte die Sun, die rechte Boulevardzeitung des Mediengiganten Rupert Murdoch, eine Petitionskampagne, die dann als Vorwand diente, die von Richter Morland verhängte Mindeststrafe von acht Jahren heraufzusetzen. Begründet mit der "öffentlichen Empörung" erhöhte zunächst der Lordoberrichter Lord Taylor die Strafe auf zehn Jahre, dann verlängerte der konservative Innenminister Michael Howard die Strafe auf fünfzehn Jahre.
Die Labour Party hätte diesen Angriff auf demokratische Rechte und die anhaltende Brutalisierung der beiden Jungen niemals rückgängig gemacht. Howards Entscheidung wurde zwei Jahre später von den Richtern des Oberhauses gekippt, nachdem die Anwälte der zwei Kinder das ursprüngliche Urteil mehrfach angefochten hatten. Im Dezember 1999 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Thompson und Venables kein faires Verfahren hatten. Er urteilte auch, dass die Festlegung ihrer Strafe durch einen Politiker an Stelle einer unabhängigen juristischen Körperschaft einen Bruch der Menschenrechte darstelle.
Diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte führte dazu, dass die jungen Männer jetzt entlassen wurden. Im vergangenen Oktober legte Lordoberrichter Lord Woolf das Ende der Strafzeit fest - nach der Mindestzeit, die sie in Gewahrsam verbringen mussten. Er entschied, dass es nicht gut für die Jungen wäre, wenn sie weitere Zeit in der "zersetzenden Atmosphäre" der Jugendstrafanstalten verbringen müssten.
Anders als die Medien behaupten, ging der Freilassung von Thompson und Venables ein strenges Beurteilungsverfahren voraus. Beide wurden getrennt voneinander über Stunden von der Haftentlassungsbehörde befragt, um sicherzustellen, dass sie keine "Gefahr für die Öffentlichkeit" darstellen. Beide jungen Männer wurden von ihren Betreuern als extrem reife und mitfühlende junge Männer beschrieben, die von tiefem Bedauern und Reue erfüllt sind.
Doch auch nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben, wird Thompsons und Venables Albtraum niemals wirklich enden. Neben der immer präsenten Möglichkeit, dass ein selbsternannter Rächer sie umbringen könnte, sind sie unter Bedingungen einer lebenslangen Bewährung entlassen worden. Jemand, der mit dem Fall näher zu tun hatte, wurde im Daily Telegraph folgendermaßen zitiert: "Sie sind Eigentum der Regierung und sie werden Eigentum der Regierung bleiben. [...] Das ist die Bedeutung davon, dass sie sich nach Gutdünken ihrer Majestät in Polizeigewahrsam befinden. Sie können jederzeit wieder ins Gefängnis gebracht werden, wenn es der Regierung ihrer Majestät gefällt. Sie sind keine freien Menschen und sie werden niemals freie Menschen sein. Sie laufen nur an einer längeren Leine als vorher."
Dies allein ist bereits eine Tragödie, aber die rechte Kampagne, die von den Tories in Gang gesetzt und von den Medien und der Labour-Regierung genährt wurde, hat noch viel weitergehende Auswirkungen.
Die Bemühungen, Thompson und Venables zu dämonisieren, verfolgen das Ziel, sämtliche sozialen Reformen sukzessive rückgängig zu machen. Zu diesem Zweck muss jeder Versuch unterbunden werden, die umfassendere gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verstehen, aus der ein abweichendes Verhalten von Kindern und andere gesellschaftliche Probleme hervorgehen. Jeder Versuch in dieser Richtung wurde als "weiches, liberales Weltverbesserungsgehabe" abgetan und gleichzeitig für die zunehmende Kriminalität verantwortlich gemacht. Die öffentliche Debatte wurde brutalisiert und dabei die weitere Brutalisierung der Gesellschaft selbst vorweg genommen.
Zur Zeit seiner Verurteilung wurde Venables als ein Kind beschrieben, das beinahe analphabetisch war, regelmäßig seinen Kopf gegen Wände schlug und sich mit Scheren ins Fleisch schnitt. Seitdem hat er sechs Abschlussprüfungen bestanden, gerade sein Abitur gemacht und wird aller Voraussicht nach ein Studium beginnen. Thompson hat fünf Abschlussprüfungen bestanden, ebenfalls sein Abitur gemacht und ein echtes künstlerisches Talent gezeigt.
Im Februar sagte ein Gerichtspsychiater für Heranwachsende, der regelmäßig mit kindlichen Mördern arbeitet, über Venables: "Er hat außergewöhnliche Fortschritte gemacht [...] in der persönlichen Entwicklung, der Anerkennung des Ausmaßes seines Verbrechens, dem Verständnis hinsichtlich seiner Taten als Kind und seiner normalen‘ Entwicklung als Jugendlicher unter anormalen Bedingungen." Ein ähnlicher Bericht über Thompson lobt dessen "außergewöhnlichen Fortschritt [...] bezüglich Reife, Bildung und Einsicht, der durch die Therapie erreicht wurde. Er übernimmt Verantwortung für das schwere Verbrechen, das er begangen hat, und zeigt tiefes Bedauern über die Leiden und Schmerzen, die er verursacht hat."
Die Fortschritte beider jungen Männer sind ein Verdienst der menschlichen Behandlung von Seiten ihrer Betreuer. Doch die Behandlung von Thompson und Venables wird von den Medien nicht als schlagender Erfolg gewertet, sondern vielmehr als eine Verschwendung öffentlicher Gelder und Werk einer "liberalen Elite" verurteilt, womit angeblich die Nachricht verbreitet würde, dass Verbrechen sich auszahlt.
Seit dem Gerichtsurteil von 1993 war das Jugendstrafrecht Gegenstand noch weiter gehender Angriffe von Seiten der konservativen Regierung und der nachfolgenden Labour-Regierung. Kinder haben ihr Recht zu schweigen verloren, dürfen unter Hausarrest gestellt und ab einem Alter von neun Jahren für "anti-soziales Verhalten" verantwortlich gemacht werden. Immer mehr Kinder werden jetzt in Gefängnisse für Erwachsene gesteckt - was eigentlich nicht rechtmäßig ist, aber trotzdem im zunehmende Maße gemacht wird, da immer mehr junge Menschen ins Gefängnis geworfen werden. Inzwischen hat Innenminister Blunkett versprochen, eine Gesetzesänderung durchzusetzen, um Politikern das Recht zu geben, die Länge der Strafe für jugendliche Verbrecher festzulegen.
Die Inhaftierung von Thompson und Venables war somit Kernstück einer konzertierten Kampagne, die die Uhr zurückdrehen soll und eine Wiederherstellung der viktorianischen Ordnung und Werte anstrebt - Unmöglichkeit einer Rehabilitierung, Schuldfähigkeit ab dem Kindesalter, heftige Vergeltung und harte Strafe. Ihre erzwungene Haftentlassung wird von der herrschenden Klasse Großbritanniens als Rückschlag und Affront verstanden. Dagegen müssen alle, die für demokratische Prinzipien einstehen und um das Schicksal der verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft besorgt sind, die Freilassung der Jungen begrüßen und sich bewusst gegen das Geschrei der rechten Medien und des politischen Establishments stellen.
Quelle wsws.org
Das dazu wie es sehr oft gehandhabt wird-mehr Zuspruch für Täter als für Opfer, wobei das sicherlich nn vielen Fällen nicht außer acht zulassenist-ganz klar...aber kann man so alles entschuldigen ? und in diesen Außmsmaßen...ganz sicher nicht....
Bericht in einer engl. Zeitung gefunden, in dem stand, dass die Mutter des Kleinen einen anonymen Brief bekam (irgendwann mal) und den Hinweis, wo die Jungen leben. Und sie ist dann mehrfach dorthin gfahren und hat eines tages ca. 6m weiter entfernt von diesem jetzt wieder gefangenem Jungen gestanden!
Sie wollte ihn ansprechen, ihm etwas antun und ist vorher ohnmächtig geworden
Aussage eines Detective von damals ,der sagte: "Es ist besser, nicht alles darüber zu wissen! Es reicht, dass ich es weiß!"