Vermisstenfall Lars Mittank
10.09.2014 um 09:43
ALTERNATIVES ENDE
Kapitel 1
Lars ist verzweifelt. Er grübelt, denn er hatte sich das Ende seines Urlaubes anders vorgestellt.
Jetzt wo die Freunde weg sind, an die er sich in den letzten Tage schon so sehr gewöhnt hatte. Sie haben die Heimreise ohne ihn angetreten.
Das Ohr schmerzt und er nimmt ein weiteres Antibiotikum in seine Hand. Kurz sieht er sich das Medikament an. Sie scheinen größer zu sein, als die, die er aus Deutschland kennt. Sie riechen und schmecken merkwürdig. Lars legt sich auf das Bett, er starrt zur Zimmerdecke des schäbigen Hotels. Aus dem Nebenzimmer kommen komische Geräusche.
Ein beklommenes Gefühl der Leere überkommt ihn. Diese Einsamkeit ist farblos.
Wie heiter waren doch die Tage zuvor, unbeschwert. Haben ihm, der immer tadellos funktioniert, eine alternative Welt gezeigt. Eine Welt, deren Leichtigkeit seine bisherige Wirklichkeit in ein völlig anderes Licht rückt.
Er steht auf, geht zu Minibar und nimmt einen Wodkashot heraus. Da ist er wieder, der Geruch der Freiheit. Dieser und die nächsten beiden gehen schnell durch seine Kehle. Besser das, als sich durch die maroden Gassen noch zu einem Lokal zu bemühen. Alleine würde es ihm auch keinen Spaß machen, und Hunger hat er nicht.
Lars setzt sich wieder auf das Bett, die Geräusche aus dem Nebenzimmer werden immer lauter. Das Licht scheint zu flackern und der Fernseher aus dem gegenüberliegenden Haus malt bedrohliche Schattenfiguren an die Wand.
Lars schreckt auf, ist da eine Gestalt auf der Feuerleiter? Außer ein Wispern ist aus der Düsternis nicht zu vernehmen. Panik überfällt ihn.
Er flüchtet ins Badezimmer, der einzige Raum, der ihm Schutz und austeichend Licht bietet. Zitternd wählt er die Nummer seiner Mutter. "Mama, mit dem Hotel stimmt was nicht!"
Hastig wirft er seine paar Habseligkeiten in die noch unausgepackte Reisetasche und flüchtet in die Nacht. Überall diese Schatten, das Gesicht ist feucht vor Schweiss und die Beine schwer. Was ist nur los mit ihm? "Ich muss eine Zuflucht finden, sonst erwischen sie mich noch!", er ist gezwungen sich zu konzentrieren um nicht die Orientierung zu verlieren. Lautes Gegröle ist aus einer Seitengasse zu hören. Sind das wieder die Gegenspieler aus München? Lars ist sich sicher, wenn sie ihn ein weiteres Mal erwischen, würden sie ihn vernichten. Sein Herz rast, er kämpft gegen die Übelkeit an...nur nicht stehenbleiben!
Neben einer Schutthalde sieht er den Umriss eines großen Baumes. Roma-Kinder haben aus den Überresten des alten Schuppens, der früher dort stand, ein Baumhaus gebaut. Ein gutes Versteck, denkt sich Lars. Von dort oben könnte er die ganze Gegend überblicken. Der Mond ist fast voll, ausreichend, denn Lars' Augen haben sich schon längst an die Dunkelheit gewöhnt.
Jede Bewegung fällt ihm schwer, er fühlt sich benommen. Viel Sicherheit bietet diese kindliche Konstruktion nicht. Er muss aufpassen, nicht durch die morschen Bretter zu brechen.
Seiner Mutter gibt er kurz über das Handy bescheid, sie soll wissen, dass er in Sicherheit ist. Vorrübergehend zumindest. Und sobald das erste Licht des Tages die düstere Nacht vertreibt, wird er sich zum Flughafen aufmachen.
Kapitel 2
An Schlaf war nicht zu denken, aber jetzt im Anbeginn des Tages scheinen sich die bedrohlichen Schatten verzogen zu haben. Seine Kleidung ist grau vom Staub der Baumbaracke und er hat einen pelzig säuerlichen Geschmack im Mund. "Wie eine in Essig ausgekochte tote Maus", denkt er sich noch, als ein Taxi in die Straße einbiegt. Lars winkt das Taxi heran, einfach nur raus aus dieser unheimlichen Gegend. Alles ist besser als weiter hier zu verweilen.
Ein freundliches Gesicht gestattet ihm im Taxi Platz zu nehmen. Lars schämt sich ein wenig, ob seiner schmuddeligen Kleidung. Die einheimische Frau fragt: "You are deutsch?" Lars nickt verlegen. "You are on holiday here?" Lars lächelt. "Yes." - "You want to the hotel?" Lars schüttelt den Kopf. "No, I want to the airport"
Die junge Sozialarbeiterin nickt kurz, beugt sich nach vor und legt dem Taxichauffeur die Hand auf die Schulter. "Моля, отидете първо до летището!", dann wendet sie sich wieder Lars zu. Sie erkennt, dass Lars eine schlimme Nacht hinter sich haben muss. "Are you OK?" Ein kurzes verängstigtes Aufflackern in seinen Augen. Nein, er wird nichts sagen, denn wem kann er schon vertrauen in einem fremden Land und so nickt er nur stumm.
Am Flughafen angekommen, klopft ihm die junge Frau aufmunternd auf die Schulter, bevor er das Taxi verlässt. "Take a coffee!" ruft sie ihm noch zwinkernd nach.
In der Eingangshalle sind schon Leute, das beruhigt Lars.
Wieder sucht er den Kontakt zu seiner Mama, sie war in seinem Leben immer eine Vertraute, auf sie ist Verlass und er kann ihr alles sagen.
Die Mutter wartete schon ungeduldig auf seinen Anruf, auch sie hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen.
"Ich habe es zum Flughafen geschafft, ich werde jetzt versuchen mich ein bisschen frisch zu machen, damit der Flughafenarzt keinen allzu falschen Eindruck von mir bekommt. Ich habe aber noch eine Bitte! Da ich nicht mehr soviel Geld habe, kannst du mir noch etwas überweisen? Ein Bayer hat mir vorhin gesagt, dass es über Western Union sehr rasch geht. Schau im Internet nach, wie das geht, du brauchst mir dann nur mehr den MTCN mittels SMS schicken, hier am Flughafen gibt es eine Filiale. Meine Karte hast du ja nicht mehr entsperren können, oder? - Ja, macht ja nichts, dass ich ausgerechnet gestern dreimal den falschen Code eingegeben habe, ist mehr als blöd, ich war halt so durch den Wind. Aber wenigstens haben sie die Karte nicht gleich ganz eingezogen.
Wenn ich nicht fliegen kann, dann nehme ich den Bus, aber den muss ich ja noch bezahlen. Aber lieber wärs mir schon, wenn ich das OK für den Flug bekommen würde. Ich bin müde, fühle mich nicht gut, und will nur noch heim.
Ich rufe dich gleich nach der Untersuchung an, und danke schon mal fürs Überweisen, Mama!"
Kapitel 3
Lars ist nervös. Zwei mal wurde ihm bereits der Riss im Trommelfell diagnostziert und von einem Rück-Flug abgeraten. Es war ja nur eine Ohrfeige. Aber diese verhägnisvolle Ohrfeige führte dazu, dass er nicht am Vortag mit seinen Freunden zurückreisen konnte. "Verdammt", denkt sich Lars, "könnte ich das nur rückgängig machen!" Bald ist die Ordination geöffnet und Lars hofft, den umgebuchten Flug absolvieren zu können. Er reisst sich zusammen, aber die letzte Nacht sitzt ihm immer noch in den Gliedern. Die zwei Red Bulls, aus dem Flughafenkiosk treiben ihn an.
Seine Hände schwitzen, zittern und er spürt das Blut in seinem Hals pochen.
Die Sprechstundenhilfe Aylina füllt mit Lars den Aufnahmebogen aus, sie spricht gebrochen deutsch, aber sie scheint ihn besser zu verstehen, als er sie. Lars versucht so gut wie möglich, Hergang der Verletzung und sein Anliegen begreiflich zu machen.
"Du hast Medizin bekommen, von anderen Arzt?" Lars nickt. "Du hast genommen?" Lars nickt wieder und zeigt ihr die letzte der drei Tabletten. "Wann du genommen zuvor?" - "Gestern Abend." Lars bemerkt, das die letzte Pastille in zwei Teile zerbrochen war. Das muss wohl letzte Nacht passiert sein, denkt er sich.
"Du noch nehmen jetzt!" weist ihn die Ordinationsgehilfin an, und stellt ihm einen halbgefüllten Platikbecher mit Wasser hin. Lars befolgt es wortlos.
"Du kannst dich hinsetzten, dort auf Platz warten. Sachen kannst hinstellen. Doktor kommt und holt dich!" - "Na hoffentlich nicht", denkt sich Lars, selbst ein wenig erstaunt, über den Anflug von Humor. Ist aber nur ein kurzer Moment, denn Nervösität macht sich wieder breit.
Der Arzt sieht anders aus, als Lars ihn sich vorgestellt hat. Er trägt keinen weißen Kittel. Bei seinem Anblick muss er kurz an "Scrubs" denken, aber auch dieser Gedanke lenkt ihn schlussendlich nicht von seiner wachsenden Nervösität ab.
Der Mediziner ist anfangs freundlich, untersucht Lars noch auf mögliche weitere Verletzungen im auricularen und neuralen Bereich. Dabei macht er einen sehr ernsten Gesichtsausdruck, was Lars nur noch mehr in Furcht versetzt. Er schüttelt den Kopf und murmelt etwas Unverständliches. Dann verlässt er das Behandlungszimmer. Die sechs Minuten seiner Abwesenheit dauern für Lars eine Ewigkeit, schüren seine Nervösität ins Unendliche.
Der Arzt kommt mit Unterlagen und ein paar medizinischen Utensilien zu Lars zurück und legt sie neben ihm ab. Auch ihm fällt jetzt die gesteigerte Erregung des jungen Mannes auf.
"Kann machen Behandlung von Ohr, hier ist Blatt von Silikon, mit Narkose im Ohr, dann du kannst nehmen Flug zu Hause heute"
Lars fällt ein, dass er ja das Geld der Mutter noch nicht behoben hat, diese Behandlung wird sicher teuer werden. Ein verzweifeltes "Nein" entkommt spontan seinem Mund. Seine Hände krampfen sich in den Schaumgummi der Untersuchungsliege.
Der Medicus auch überrascht, fährt nach kurzer Pause fort: "Aber wenn du nicht machen Behandlung, sehr gefährlich sein für dich!" In Lars' Kopf überschlagen sich die Gedanken, Wut, Angst, Panik macht sich breit. Viel kann er nicht mehr wahrnehmen von dem was der Doktor versucht ihm zu erklären. "Du möglich sterben."
Für Lars ist es aussichtslos, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Das Gedachte kommt nun laut über seine Lippen: "Ich will nicht sterben!"
Der Arzt schüttelt den Kopf und ruft zu seiner Mitarbeiterin: "Моля, донесете ми в оператора за присвояване. Пациентът не иска лечение. Имам нужда от неговите документи!"
Die Sprechstundenhilfe erscheint nach wenigen Minuten mit den gewünschten Unterlagen, durch den Winkel der halboffenen Tür sieht Lars einen Flughafenwachebeamten, auch dieser erwidert den panischen Blick von Lars.
Wie immer um diese Zeit, wenn er Dienst hat, schaut er in der Praxis vorbei um Assistentin Aylina zu fragen, ob sie auch etwas vom Coffeeshop haben möchte.
So auch heute....
"Warum ist die Polizei hier? Will der mich? Aber ich hab kein Geld...ich gehe nicht mit, mit ihm, NIE....WEG hier!" Für Lars gibt es keine andere Erklärung! So nutzt er diesen Moment zur Flucht.
Wie schon in der vergangenen Nacht stürzt der junge verzweifelte Mann davon.
Nur diesmal lässt er alles zurück, Sein Gepäck, Reisepass und sein Handy bleiben in der Praxis liegen. Er konnte sie nicht noch aufsammeln, dann hätte man ihn ja gehabt. Ihn festgesetzt! Nicht hier!
Eine Flughafenkamera zeichnet noch auf, wie Lars über den Ausgang in Richtung Parkplätze läuft, dort wo ein zweieinhalb Meter hoher Stacheldrahtzaun verläuft. Da wird er zum letzten Mal an diesem Tag von Zeugen beobachtet, wie er diesen überwindet, dann verliert sich seine Spur.
Kapitel 4
to be continued soon....