Vermisstenfall Lars Mittank
06.09.2014 um 21:56
Seit paar Tagen lese ich jetzt schon mit, weil – da geht es mir halt wie vielen von Euch – es geht mir nicht aus dem Kopf, weil es zum einen echt dramatisch ist, zum anderen: wie ich es dreh und wende, irgendwas passt halt immer nicht …
Das fängt schon an mit den Bayern-Fans vor McDonalds – das werden halt junge Männer, evtl. Abiturienten gewesen sein. Aber damals war Weltmeisterschaft, Deutschland knapp davor Weltmeister zu werden, der Liga-Betrieb in weiter Ferne. Pöbeln die da einen einzelnen Werder-Fan an, bezahlen Russen oder Bulgaren, um ihn zu schlagen? Komische Nummer! Einer seiner Freunde hat geschrieben, Lars habe immer gepöbelt … na, da denke ich halt, das war eine besoffene Geschichte: Er war auf dem Nachhauseweg, hat einen blöden Spruch gemacht, ein Wort gab das andere, schließlich hat er eine Ohrfeige kassiert. Es wurde ja viel gesoffen, also war er wohl besoffen, so richtig kann er sich nicht mehr erinnern, dass er von Bayern-Fans eins draufgekriegt hat, ist ihm vielleicht vor seinen Kumpels peinlich … kann ich mir irgendwie ausmalen. Sehe ich auch nicht als wichtig an (übrigens: falls die Polizei die Bayern-Fans ermittelt hat, wird sie das nicht melden – steht nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Verschwinden, haben Recht auf Schutz ihrer Persönlichkeit, usw.).
Bis zum Einchecken ins Hotel Color verläuft dann aber alles nach Plan und für mich nachvollziehbar. Er verabschiedet sich von seinen Kumpels (er war klar im Kopf, er ist ein erwachsener Mann, Varna ist nicht Mogadischu, ein Trommelfellriss ist kein Herzinfarkt), wechselt in ein billiges Hotel, weil das andere ausgebucht ist und ruft die Mutter an (und erzählt ihr, er habe genügend Geld) und bucht den Transfer zum Flughafen für den nächsten Tag.
Und genau ab jetzt, wie wir wissen, läuft irgendwas gewaltig aus dem Ruder. Und ab jetzt spekuliere ich halt immer … Organhandel und Kasino schließe ich aus (Organhandel muss halbwegs professionell über die Bühne gehen – da werden keine deutschen Touristen hergenommen (das wirbelt viel Staub auf), da nehme ich als Organhändler Menschen mit sehr viel geringerer Lobby und zum Kasino: Lars war wohl ein bodenständiger Mensch, ins Kasino geht der nicht alleine, einfach so. Da wird er von Kumpels mitgenommen – doch wenn das eine Rolle gespielt hätte, hätte es zumindest in den bulgarischen Zeitungen gestanden).
Mir drängen sich da vier Ideen auf. Wenn ich allein in einem Hotel eingecheckt habe (was oft vorkommt), frage ich danach den Portier, wo es ein Restaurant gibt, gehe dort essen und möglicherweise setze ich mich danach noch an die Hotelbar. Der Portier war ja auskunftswillig, von einem Restaurant hat er nichts erzählt. Außerdem hat Lars seiner Mutter erzählt „mit dem Hotel stimmt was nicht“. Also vergessen wir Restaurant oder Ausgehen, konzentrieren wir uns auf das Hotel.
1. Am Abend bricht bei ihm die Panik aus – Medikamente nimmt man nun einmal abends oder morgens zu sich. Er hat noch ein Bier an der Bar getrunken und dann hat sein Medikament zu wirken angefangen und dann hat er eben die Panik-Attacke bekommen. Das Telefon-Protokoll der Mutter in den bulgarischen Zeitungen ist das Protokoll einer Panik-Attacke, wirr, Angst-erfüllt, ziellos … In einem Moment der Stärke hat er die Angst überwunden, hat früh ausgecheckt und hat sich auf den Weg zum Flughafen gemacht (evtl. sind ihm Fußball-Fans von dem Spiel der Einheimischen begegnet, die ihn in seiner Attacke wieder an die Bayern-Fans erinnert haben). Angekommen am Flughafen wieder ein Moment der Sicherheit, er kriegt seine Panik in den Griff. Beim Arzt dann (mit den Schilderungen von ihm, welche Gefahren bei einem Flug drohen) und dem unvermittelten Auftreten des Security-Manns übermannt ihn wieder die Panik – Flucht. Finde ich logisch und nachvollziehbar. Das einzige, was ich da nicht verstehe: Wieso braucht er noch einmal Geld, wenn er vorher doch seiner Mutter erzählt hat, er habe Geld (und seine Kumpels ihm genügend Geld dagelassen haben)? Wenn ich eine Panik-Attacke habe, habe ich vor allen Angst, renne weg, aber zähle ich dann das Geld nach, rechne nach und bitte von meiner Mutter um Geld?
2. Er sitzt an der Hotelbar, man kommt mit anderen Touris ins Gespräch, macht sich Sorgen wegen Heimreise, ist eh immer blöd allein im Hotel … und es gibt Gras zu kaufen. Möglich, dass er paar Züge gemacht hat. Ich weiß, viele hier wollen das nicht hören, weil es offenbar nicht zu Lars passt. Ich finde das überhaupt nicht schlimm. Viel Blödsinn, den ich so mache, wissen meine Eltern, Freunde und Kollegen nicht! Aber es entspannt ja tatsächlich, ein Kollege kriegt damit seit Jahren seine Migräne in den Griff. Ich kann mir gut vorstellen, dass er halt gekifft hat. Und das kann manchmal schon reichen, um Panik-Attacken auszulösen. Auch bei dieser Variante wieder das Problem: wieso brauchte er Geld am nächsten Tag??
Die nächsten beiden Theorien wollen viele nicht hören, finde ich aber durchaus nachvollziehbar:
3. Da sitzen ein paar Prostituierte an der Bar (übrigens in sehr teuren Hotels gibt es das auch). Das können sehr nette und adrette Mädels sein … die ihn angesprochen haben. Er hat eine Woche lang mit seinen Kumpels am Strand gefeiert, viele schicke Bikini-Mädchen gesehen … das weckt Sehnsüchte und da sitzt er nun allein an der Bar und eine süße Einheimische spricht ihn an. Vielleicht hat er sich ja überreden lassen, das Mädchen mit aufs Zimmer zu nehmen. Bevor Ihr Euch aufregt – das spricht nicht für einen schlechten Menschen! Das ist menschlich und kann passieren. Und auf einmal stehen die Zuhälter im Hotelzimmer. Das könnte erklären, wieso er noch einmal Geld braucht und wieso er seiner Mutter erzählt „mit dem Hotel stimmt etwas nicht“ (ist auch eine peinliche Geschichte, deswegen bleibt er so vage und wirr). Irgendwie hat er die Flucht geschafft, auch klar, dass man da etwas panisch wird. Die werden ja auch nicht gerade nett sein. Das würde auch die gesperrte Kreditkarte erklären (wobei das kann ich mir leicht erklären – die haben eine Woche gesoffen, da hat er halt im Rausch die PIN drei Mal falsch eingegeben – passiert auch mir).
Der Haken daran: die Panik im Flughafen (das wäre ja dann ein wirklich sicherer Ort) und die erneute Angst vor Bayern-Fans.
4. Wenn sechs junge Männer Urlaub am Goldstrand in Bulgarien buchen, haben sie wahrscheinlich nicht vor, die schwierige Situation der Roma zu recherchieren oder die orthodoxen Kirchen anzuschauen oder einen Bulgarisch-Kurs zu belegen. Nein, sie wollen Party machen, „mal richtig die Sau rauslassen“. So wie alle berichten, ist Lars wohl ein grundanständiger Kerl (meine Mutter würde in solch einem Interview nicht sagen: „Einen besseren Sohn kann man sich nicht wünschen.“ Eher: „hoffentlich war er nicht zu leichtsinnig“, „er macht manchmal schon etwas Unüberlegtes“). Ehrlichgesagt, diese Drogen-untergeschoben-Geschichte … puuh! Drogen kosten Geld und die verschenke ich nicht einfach. Wenn, dann aus zwei Gründen: um jemanden auszurauben oder zu vergewaltigen. Doch dafür nehme ich doch K.O.-Tropfen! Selbst der anständigste Kerl kann doch in so einem Umfeld mal zu was Chemischen greifen … „ist doch nichts dabei“, „probier doch mal“ … finde ich auch menschlich. Für mich hört sich die Geschichte immer noch nach einer ganz normalen Panik, hervorgerufen durch chemische Drogen, an („der war halt auf einem Trip“).
Da würde dann auch alles wieder Sinn machen (bis auf das Geld, dass ihm wieder über Nacht ausgegangen ist).
Übrigens: Mafia (das Zauberwort, wenn es um eine unbekannte Bedrohung geht) finde ich sehr weit hergeholt. Es stimmt, die Mafia investiert ihre Gewinne in ganz normale Firmen oder Firmenbeteiligungen, das wird ja auch einem Kooperationspartner des Flughafenbetreibers unterstellt. Aber warum sollte die es auf ausländische Touristen abgesehen haben? Das würde doch wieder viel zu viel Staub aufwirbeln. Drogenkurier – in Südamerika meinetwegen möglich. Von Bulgarien aus, noch dazu mit einem völlig Fremden – ist mir auch zu weit hergeholt. Das läuft doch über den Landweg ab! Und dass er in dem Hotel irgendetwas beobachtet hat – nach den Bewertungen ist es ein ganz normales Hotel. Gegend vielleicht nicht super-toll, aber keine Gangster-Spelunke.
Ja, ich weiß, alles – im Grunde – sinnlose Spekulationen. Aber das spukt mir halt im Kopf rum. Doch Ihr habt recht, darum geht es nicht. Es geht darum, wo er jetzt sein könnte. Da habe ich zwei Theorien:
1. Die wahrscheinlichere: Er ist panisch aus dem Flughafen-Gebäude gestürmt (wie panisch jetzt genau, finde ich nicht so wichtig. Auch ob er über den Zaun geklettert ist oder nicht). Er ist halt weggerannt. Vor dem Hotel, vor Fußball-Fans, vor dem Arzt, vor dem Security-Mann, vor Menschen und der Stadt eben. Also wird er sich Richtung nicht-bebauter Fläche, Wiese, Gebüsch, Wald aufgemacht haben.
- In Bulgarien auf dem Land, in einem Dorf ein desorientierter Mensch – die Menschen in Osteuropa auf dem Land (da muss man ein wenig von Großstadt und Touristenhochburgen unterscheiden) sind sehr hilfsbereit und gastfreundlich – die würden ihm helfen und sich um ihn kümmern. Die hätten schon längst Behörden informiert und ihn gemeldet.
- Er versteckt sich im Wald. Acht Wochen allein im Wald …da musst du ziemlich taff sein! Und da denkst du nach, weil du allein bist. Ein Mensch wie Lars würde nicht acht Wochen mit all den Gedanken (an seine Familie, an seine Freunde) allein im Wald sitzen! Er würde um Hilfe fragen und die bekommen.
- Er ist panisch weggerannt … so leid es mir tut, aber das ist für mich die wahrscheinlichste Möglichkeit: Er hat sich den Knöchel verstaucht (allein im Wald – das reicht schon!), er ist in eine Baugrube gefallen, er ist dehydriert zusammengebrochen, er ist in ein Erdloch gefallen … er ist in der Pampa verunglückt. Das geht echt schnell und wenn du allein bist, bleibst du halt da liegen (und wirst auch nicht schnell gefunden!)
2. Er hat tatsächlich etwas „ausgefressen“ – also halt was Illegales zu sich genommen (das würde die Angst vor dem Security-Mann am Airport erklären und warum er nicht wieder zurückgekommen ist). Versteht mich bitte nicht falsch – ich will ihm wirklich nichts unterstellen, aber da tanzen und feiern alle, du hast ein bisschen zu viel getrunken und dann kommt einer und sagt „nehm das doch mal, dann wird es noch besser“ – alles menschlich, alles ok! Wenn ich mich in einem Land nicht wohl fühle (in Bulgarien in diesem Fall halt die restriktive Drogen-Politik), versuche ich so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Also, er schlägt sich nachts, auf dem Landweg durch … nach acht Wochen sollte man doch Rumänien oder Ungarn erreicht haben. Und spätestens da würde man sich bei den Eltern melden …
Ja, liest sich alles traurig … vielleicht gibt es ja noch ein Wunder!