Entführte aus Cleveland
Nie mehr Schweigen
Elf Jahre lang wurde Michelle Knight zusammen mit zwei anderen Frauen von Ariel Castro festgehalten und brutal gequält. Die Entführungen von Cleveland im Bundesstaat Ohio sorgten für weltweite Aufmerksamkeit. Jetzt hat Knight eine Autobiografie geschrieben. Ein Treffen in München.
Von Jana Stegemann
Michelle Knight hat kaum geschlafen. Magenprobleme. "Ich glaube, ich werde krank", sagt die zierliche Frau zur Begrüßung und hustet. Doch das Gespräch über ihr Buch soll trotzdem stattfinden. "Haben Sie keine Scheu, fragen Sie mich alles was Ihnen einfällt", sagt die 33-Jährige und klettert in das große Hotelbett, zieht das Laken über ihre Beine, streicht es glatt. Sie will nicht mehr stumm sein. Will ihre Geschichte der ganzen Welt erzählen. "Elf Jahre meines Lebens habe ich mich unsichtbar gefühlt", sagt sie und meint damit die Zeit, in der sie als Gefangene im Haus von Ariel Castro in Cleveland lebte. "Er hat mir immer wieder gesagt: Niemand sucht nach dir. Niemand vermisst dich. Das war das Schlimmste. Damit hat er mich am meisten gequält". Und ja, der Mann, den Knight nur "the guy" nannte, hat in dieser einen Hinsicht nicht gelogen.
Niemand suchte nach der nur 1,40 Meter großen Michelle Knight, die an einem Juni-Tag im Jahr 2002 verschwand. Dem Jahr, in dem die Deutschen sich an eine neue Währung namens Euro gewöhnten und George W. Bush noch Präsident der USA war. Niemand hielt eine Mahnwache für die damals 21-Jährige. Verwandte oder Nachbarn hängten keine Suchplakate auf. Die Welt ging ihren normalen Lauf. Für Michelle Knight, die aus schwierigen Verhältnissen kam, begann die Hölle im Haus von Ariel Castro. "Es kam mir vor, als brüllte ich mir die Seele aus dem Leib - und niemand hörte mich."
Fast 4000 Tage war sie dort eingesperrt. Tägliche Vergewaltigungen, Misshandlungen, verdorbenes Essen, fünf Fehlgeburten - all das ertrug Michelle Knight. Sie lenkte sich von den unendlich wirkenden Tagen ab, indem sie malte und Gedichte schrieb. Und mit Gedanken an Joey, der bei Pflegeeltern aufwächst. Nach einem Jahr kam eine Leidensgenossin hinzu, Amanda Berry, im darauffolgenden entführte Castro auch Gina DeJesus. Durch einen Zufall gelang es Berry am 6. Mai des vergangenen Jahres, einen Nachbar auf sich aufmerksam zu machen. Die Polizei befreite die drei Frauen schließlich nach einem Jahrzehnt Gefangenschaft.
Ein selbstbewusster Auftritt
Nach all diesen Jahren, in denen sie das, was ihr angetan wurde, stumm und still erdulden musste, will Michelle Knight ihr Schicksal selbst bestimmen. Sie will sich und ihre Geschichte selbst erzählen. Sie nicht von Dritten und Journalisten, die sie oft als bemitleidenswertes Opfer darstellten, erzählen lassen. Natascha Kampusch wurde als kleines Mädchen von Wolfgang Prikopil entführt und acht Jahre im Keller seines Hauses gefangen gehalten. Wenige Tage nach ihrer Befreiung gab die junge Frau Interviews. "Ich möchte auf keinen Fall, dass irgendwer anders sich als Experte über mein Leben ausgibt", sagte sie in ihrem ersten Fernsehinterview. Die Zuschauer sahen eine selbstbewusste junge Frau - und waren irritiert. Sollte sich ein Opfer nicht eigentlich anders verhalten? Erwartet worden war mindestens ein öffentlicher Nervenzusammenbruch, ein hysterischer Anfall. Kampuschs selbstbewusstes, aktives Auftreten hat viele verstört.
Auch Michelle Knight tritt selbstbewusst auf, sie lächelt viel. Sie spricht mit fester, klarer Stimme. Ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern halten stets Blickontakt. Sie trägt eine schwarze Leggins, ein giftgrünes Shirt und zeigt stolz die zahlreichen Tattoos, die sie sich im vergangenen Jahr hat machen lassen. Gerade macht sie eine Ausbildung zur Köchin. "Ich liebe Thai-Food", sagt Michelle Knight. Sie singt, sie schreibt Gedichte, sie malt.
Michelle Knight kennt Natascha Kampuschs Geschichte, sie hat sich über die Schicksale von anderen Entführungsopfern informiert. Sie weiß auch, dass Kampuschs Umgang mit ihrer Geschichte nicht überall auf Gegenliebe stieß. Aber Michelle Knight ist unterwegs in einer Mission: eine Stimme zu sein, für die unzähligen vermissten Menschen auf der ganzen Welt. Ihr Adressat: die Weltöffentlichkeit.
"Das Schreckliche fasziniert die Menschen seit Urzeiten"
Die Mai-Sonne scheint durch das weit geöffnete Fenster auf moosgrünen Teppich. Wer aus dem Fenster des Münchner Vier-Sterne-Hotels schaut, blickt direkt auf eine lärmende Touristengruppe vor dem Hofbräuhaus. Michelle Knight hat keine Zeit für das übliche Touristenprogramm. Die vergangenen Wochen standen unzählige Fernsehauftritte und Interviews auf ihrem Terminplan. Erst die große Amerika-Tour, dann Großbritannien, Kanada - jetzt Deutschland. Gelandet in Köln, jetzt München. Abends hat sie einen Aufritt bei Aktenzeichen XY, am darauffolgenden Tag geht es weiter nach Paris.
Knight reist durch die Welt, um Werbung für ihr Buch zu machen: Finding me: A Decade of Darkness, a Life reclaimed (Auf deutsch: "Die Unzerbrechliche", Bastei Lübbe). Wenige Monate nach ihrer Befreiung aus dem Haus in Cleveland, Ohio hat sie es geschrieben. Ihre Anwältin Peggy Foley Jones weicht ihr seit sechs Monaten nicht mehr von der Seite. Stets mit auf Reisen ist auch deren erwachsener Sohn Matt. Er ist auch während des Interviews dabei. Nimmt immer wieder Augenkontakt zu Michelle auf. Im Blick die stumme Frage: Alles ok? Michelle lächelt. Matt lehnt sich wieder entspannt auf seinem Stuhl zurück. Zu ihrer biologischen Familie wollte Knight nach ihrer Gefangenschaft nicht zurück. "Ich hatte keine gute Kindheit", sagt sie mit dieser warmen, weichen, fast kindlichen Stimme.
In ihrer 290 Seiten umfassenden Autobiografie sind alle grässlichen Details ihrer ersten Lebensjahre aufgelistet. Verwahrlosung, Probleme mit den Eltern, Geldnot, Mobbing in der Schule, der jahrelange sexuelle Missbrauch, ihre Obdachlosigkeit, ihre Teenie-Schwangerschaft ... Knight spart in dem Buch nicht an Einzelheiten. "Das Schreiben des Buches war mehr als ein Heilungsprozess, es half mir, alle Emotionen durchzustehen."
Doch ihr geht es nicht nur um innere Heilung, sondern auch, um ihre äußere Botschaft: "Ich bitte die Menschen um eines: Sollte Ihnen etwas seltsam vorkommen - ein Kind, das längere Zeit in der Schule fehlt, eine Frau, die offenbar das Haus nicht verlassen kann, ständig zugezogene Fensterläden - rufen Sie bei der Polizei an. Viele machen das nicht, aus Scham, sich zu blamieren und sich die Blöße zu geben zu neugierig zu sein und sich in das Leben anderer Leute einzumischen. Aber Sie können Leben retten, Leiden verkürzen. Nehmen Sie sich bitte immer die zwei Minuten, die so ein Anruf dauert."
Während es Michelle Knight in die Öffentlichkeit drängt, werden die anderen beiden Frauen von ihren Anwälten hermetisch abgeschirmt. Die drei Frauen, die mehr als ein Jahrzehnt im selben Haus ausharrten, haben heute keinen Kontakt mehr.
Warum das Böse die Menschen so fasziniert
Michelle Knight wurde von Castro so schwer misshandelt, dass ihr Gesicht durch die zahlreichen nicht behandelten Knochenbrüche schief ist. Sie ist taub auf einem Ohr, wird keine Kinder mehr bekommen können. Doch wer sie sich als verschüchtertes Opfer vorstellt, liegt falsch. Sie hat es geschafft, dass die Welt ihre Geschichte wahrnimmt, nicht die des Täters. Die erste Auflage ihres Buches ist in den USA mittlerweile ausverkauft. Michelle Knights Anwältin bespricht sich während des Interviews auf dem Hotelflur mit einer Produktionsfirma. Es soll ein Film gedreht werden. Schon jetzt dürfte klar sein, dass er ebenso viele Menschen anlocken wird, wie der Film über Natascha Kampuschs' Martyrium. Sensationslust, Voyeurismus - ist es das, was die Menschen auf der ganzen Welt an solchen Entführungsfällen so anzieht? Was sind das für Menschen, die ein Buch kaufen, indem explizit Vergewaltigungen und jahrelange Quälereien beschrieben werden?
"Das Außergewöhnliche, das Schreckliche fasziniert die Menschen seit Urzeiten", sagt Franz Wuketits, Evolutionsbiologe an der Universität Wien und Autor des Buches Warum uns das Böse fasziniert. Das Ungewöhnliche, die Katastrophe biete für die Menschen nicht nur eine Ablenkung vom Alltag, sondern sorge auch für neuen Gesprächsstoff. Die Faszination für solche Fälle habe sogar eine positive Funktion. "Der Steinzeit-Mensch konnte und durfte eine Katastrophe, ein wildes Tier, ein Verbrechen nicht ignorieren - anderenfalls hätte er nicht überlebt. Daher ist es aus evolutionsbiologischer Sicht sogar höchst wichtig, dem Außergewöhnlichen Aufmerksamkeit zu schenken."
Der Fall des Österreichers Josef Fritzl, der seine Tochter mehr als 20 Jahre im Keller gefangen hielt und mit ihr sieben Kinder zeugte, sorgte 2008 für ebenso große weltweite Aufmerksamkeit wie die Cleveland-Entführungen. "Solche Fälle werden in den Medien sehr hervorgehoben, wodurch sie einer großen Öffentlichkeit bekannt werden. Dadurch entsteht natürlich auch ein Stück weit soziale Sensationslust", sagt Wuketits. Die Möglichkeiten der globalen Verbreitung solcher Nachrichten habe sich durch die Massenmedien radikal verändert. "Das ist heute ganz anders als noch vor 50 Jahren. Wenn da etwas ähnliches beispielsweise in Peru geschehen wäre, hätte das in Deutschland niemand mitbekommen." Menschen wie Josef Fritzl, Wolfgang Prikopil oder der Cleveland-Entführer Ariel Castro, die über ihre Opfer die absolute Verfügungsgewalt hatten und als das personifizierte Böse in der Öffentlichkeit wahrgenommen würden, seien jedoch "glücklicherweise absolute Ausnahmefälle". Der Psychiater und Buchautor Theo Payk aus Düsseldorf hat noch einen anderen Grund für das Interesse der Menschen an solchen Fällen ausgemacht. "Wir sind gleichzeitig unendlich erleichtert, dass das Unglück uns nicht persönlich getroffen hat."
Castro wurde zu lebenslänglich und weiteren 1000 Jahren Gefängnis verurteilt, er erhängte sich kurz nach dem Urteil in seiner Zelle. Wieder war es Michelle Knight, die ,als einzige der drei entführten Frauen, das Wort gegen Castro im Gerichtssaal erhoben und eine selbstverfasste Erklärung vorgelesen hatte. "Der Mann, der mir einen großen Teil meines Lebens gestohlen hat, hätte gewollt, dass ich schweige. Darum schweige ich nie mehr."
"Die Unzerbrechliche. Elf Jahre in Gefangenschaft. Wie ich überlebte" von Michelle Knight mit Michelle Burford, Bastei Lübbe, 19,99 Euro.
http://www.sueddeutsche.de/panorama/michelle-knight-in-muenchen-nie-mehr-schweigen-1.1973718