@nocheinPoet hat mich auf einen interessanten Thread in einem anderen Forum aufmerksam gemacht, in dem jemand versucht, das seit den 1600ern bewährte
Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik zu widerlegen. Dieses Prinzip besagt im wesentlichen, dass alle
Inertialsysteme gleichberechtigt sind, dass in ihnen jeweils die gleichen Gesetze der Mechanik gelten, und dass es nicht möglich ist, zu bestimmen, ob ein derartiges System sich bewegt oder in Ruhe befindet.
Der Widerlegungsversuch beruht zentral auf dem Argument, das sich aus folgendem Beispiel ergibt: Ein Auto erhöht auf der Erde seine Geschwindigkeit um einen bestimmten Betrag. Das ergibt eine Zunahme der kinetischen Energie, die im Einklang mit der aufgewandten Energie (Treibstoffverbrauch) steht. Betrachtet man den gleichen Vorgang jedoch aus dem Inertialsystem der Sonne, ergibt sich -- angenommen, das Auto bewegt sich ungefähr in Richtung des Bahnvektors der Erde -- eine sehr viel höhere Zunahme der kinetischen Energie, weil das Auto in diesem Fall eine Anfangsgeschwindigkeit entsprechend der Bahngeschwindigkeit der Erde um die Sonne (ca. 30 km/s) hat. Da die Geschwindigkeit im Quadrat in die Formel für kinetische Energie eingeht, wirken sich Änderungen um so stärker aus, je höher die Anfangsgeschwindigkeit ist:
E_{kin}=\frac{1}{2}m(v_0+\Delta v)^2. Da diese sehr viel höhere kinetische Energie nicht im Einklang mit der für die Geschwindigkeitserhöhung aufgewandten Energie steht, schliesst der Argumentierende, dass das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik dem Energieerhaltungssatz widerspricht und damit widerlegt sei. Inertialsysteme seien keineswegs gleichberechtigt, sondern nur Inertialsysteme, die in Bezug auf die Erde ruhen, würden korrekte Ergebnisse bei derartigen Berechnungen liefern, und wären daher vor allen anderen Inertialsystemen ausgezeichnet.
Die Argumentation beruht natürlich auf einem Denkfehler, der aber gar nicht so einfach zu widerlegen ist. Ich möchte die Zusammenhänge anhand eines etwas anderen, aber im Prinzip äquivalenten Modell erläutern.
Am Äquator sei eine grosse Kanone angebracht, die senkrecht nach oben zeigt (es gibt übrigens einen interessanten Roman von Jules Verne mit einem ähnlichen Szenario:
Der Schuss am Kilimandscharo). Genau dann, wenn die Kanone exakt in Richtung des Bahnvektors der Erde zeigt, wird sie abgefeuert. Die Masse der Kugel betrage 500 kg, und die chemische Energie der Treibladung 500 MJ. Feinheiten und Verluste aussen vor gelassen, beträgt die kinetische Energie der Kugel unmittelbar nach dem Abschuss relativ zur Erde dann 500 MJ, woraus sich die Mündungsgeschwindigkeit berechnen lässt:
\tag{1}E_\mathrm{ch}=\frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{KE}'^2\quad\longrightarrow\quad v_\mathrm{KE}'=\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{K}}}=\mathrm{\sqrt{\frac{2*500\,MJ}{500\,kg}}}≈\mathrm{1414\,m/s}
Relativ zur Sonne ergibt sich für die kinetische Energie der Kugel nach dem Abfeuern (
Bahngeschwindigkeit der Erde um die Sonne v
ES ≈ 29.780 m/s):
\tag{2}\begin{aligned}
E_\mathrm{KS}'&=\frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{KS}'^2=\frac{1}{2}m_\mathrm{K}(v_\mathrm{ES}+v_\mathrm{KE}')^2=\frac{1}{2}m_\mathrm{K}(v_\mathrm{ES}^2+2v_\mathrm{ES}v_\mathrm{KE}'+v_\mathrm{KE}'^2) \quad\longrightarrow\quad \\
E_\mathrm{KS}'&=\underbrace{\frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{ES}^2}_{\normalsize{E_\mathrm{KS}}} \thickspace+\thickspace \underbrace{\frac{1}{2}m_\mathrm{K}2v_\mathrm{ES}v_\mathrm{KE}'}_{\normalsize{\mathrm{E_{K?}'}}} \thickspace+\thickspace \underbrace{\frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{KE}'^2}_{\normalsize{E_\mathrm{KE}'}}
\end{aligned}
Der erste der drei Teilterme entspricht der kinetischen Energie der Kugel relativ zur Sonne vor dem Abfeuern (zu diesem Zeitpunkt bewegt sich die Kugel mit der gleichen Bahngeschwindigkeit wie die Erde), und der dritte Teilterm entspricht der kinetischen Energie der Kugel relativ zur Erde nach dem Abfeuern. Diese beiden Teilterme sollten soweit klar sein. Naiv könnte man jetzt erwarten, dass die kinetische Energie der Kugel relativ zur Sonne nach dem Abfeuern einfach die Summe aus diesen beiden Teiltermen sein sollte, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Es gibt da in der Mitte einen weiteren Teilterm mit einem erheblichen Betrag:
\tag{3}\def\e#1{\times 10^{#1}}\begin{aligned}
E_\mathrm{K?}' &= \frac{1}{2}m_\mathrm{K}2v_\mathrm{ES}v_\mathrm{KE}'=\mathrm{\frac{1}{2}*500\,kg*2*29.780\,m/s*1414\,m/s} \quad\longrightarrow\quad \\
E_\mathrm{K?}' &≈ \mathrm{2{,}1\e{10}\,J}=\mathrm{21\,GJ}
\end{aligned}
Man bekommt also anscheinend relativ zur Sonne zu den aufgewandten 500 MJ noch satte 21 GJ kinetische Energie (also das zigfache der aufgewandten Energie) dazugeschenkt.
;) Wie kann das sein? Energie aus dem Nichts? Das Problem liegt darin, dass die bisherige Rechnung nur eine -- wenn auch normalerweise für praktische Zwecke ausreichende -- Näherungslösung ist, die die Rückwirkung des Abfeuerns der Kanone auf die Erde nicht berücksichtigt. Die vollständige Rechnung ist um einiges komplizierter, und ergibt sich aus dem Energieerhaltungssatz (Gleichung (4a)) und dem Impulserhaltungssatz (Gleichung (4b)). Die linke Seite entspricht jeweils dem Zustand vor dem Abfeuern, die rechte Seite dem Zustand nach dem Abfeuern (die chemische Energie der Treibladung ist nur für die Energiebilanz relevant, und hat auf die Impulsbilanz keinen Einfluss):
\tag{4a}\frac{1}{2}m_\mathrm{E}v_\mathrm{ES}^2+\frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{ES}^2+\mathrm{E_{ch}}=\frac{1}{2}m_\mathrm{E}v_\mathrm{ES}'^2+\frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{KS}'^2
\tag{4b}m_\mathrm{E}v_\mathrm{ES}+m_\mathrm{K}v_\mathrm{ES}=m_\mathrm{E}v_\mathrm{ES}'+m_\mathrm{K}v_\mathrm{KS}'
Daraus folgt (den Lösungsweg einzeln aufzudröseln ist mir jetzt zu mühsam):
\tag{5a}v_\mathrm{KS}'=v_\mathrm{ES}+\underbrace{\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{K}}}}_{\normalsize{v_\mathrm{KE}'}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{E}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}
\tag{5b}v_\mathrm{ES}'=v_\mathrm{ES}-\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{E}}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}
Die tatsächliche Geschwindigkeit der Kugel relativ zur Sonne v'
KS setzt sich also aus der anfänglichen Bahngeschwindigkeit der Erde relativ zur Sonne, und dem bereits bekannten Wert für die Geschwindigkeit der Kugel relativ zur Erde v'
KE zusammen, nur dass letzterer noch mit einem bisher unberücksichtigten Faktor multpliziert werden muss. Es hat allerdings einen guten Grund, warum dieser Faktor üblicherweise nicht berücksichtigt wird: Er liegt so nahe an 1, dass sein Einfluss vollkommen vernachlässigbar ist. Er liegt sogar
so nahe an 1, dass die meisten Taschenrechner und Software-Programme den konkreten Wert überhaupt nicht berechnen können. Das liegt daran, dass der übliche Standard zur Berechnung von Gleitkommazahlen (
IEEE Double Precision) nur Zahlen bis zu ca. 16 Grössenordnungen (10^16) bei einer Addition auseinanderhalten kann. Wer möchte, kann testweise mal 10^16+1 in seinen Taschenrechner eingeben: Die allermeisten Taschenrechner liefern als Ergebnis nur 10^16 (bzw. 10E16), als ob das +1 überhaupt nicht vorhanden wäre. Der konkrete Wert dieses Faktors beträgt:
\tag{6}\def\e#1{\times 10^{#1}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{E}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}=\mathrm{\sqrt{\frac{5{,}972\e{24}\,kg}{5{,}972\e{24}\,kg+500\,kg}}}≈0,999999999999999999999958
Die Geschwindigkeit der Erde relativ zur Sonne v'
ES verringert sich durch das Abfeuern der Kugel, wie man an dem Minus-Zeichen in der entsprechenden Gleichung (5b) unschwer erkennen kann. Natürlich ist der absolute Wert dieser Abbremsung extrem gering, andererseits wird die Geschwindigkeit bei der Berechnung der kinetischen Energie im Quadrat mit der Masse der Erde multipliziert, so dass man den Einfluss nicht vorschnell vernachlässigen sollte. Für die kinetische Energie der Erde relativ zur Sonne nach dem Abfeuern der Kugel ergibt sich:
\tag{7}\begin{aligned}
E_\mathrm{ES}'&=\frac{1}{2}m_\mathrm{E}v_\mathrm{ES}'^2=\frac{1}{2}m_\mathrm{E}\bigg(v_\mathrm{ES}-\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{E}}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}\bigg)^2\quad\longrightarrow\quad \\
E_\mathrm{ES}'&=\underbrace{\frac{1}{2}m_\mathrm{E}v_\mathrm{ES}^2}_{\normalsize{E_\mathrm{ES}}} \thickspace-\thickspace \underbrace{\frac{1}{2}m_\mathrm{E}2v_\mathrm{ES}\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{E}}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}}_{\normalsize{E_\mathrm{E?}'}} \thickspace+\thickspace \underbrace{E_\mathrm{ch}\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}_{\normalsize{E_\mathrm{EK}'}}
\end{aligned}
Genau wie bei Gleichung (2) entspricht der erste der drei Teilterme der kinetischen Energie der Erde relativ zur Sonne vor dem Abfeuern. Dieser Teilterm sollte soweit klar sein. Der dritte Teilterm entspricht dem Anteil an der chemischen Energie der Treibladung, der bezogen auf den gemeinsamen Schwerpunkt von Erde und Kugel in kinetische Energie der Erde umgewandelt wird. In Gleichung (2) war die gesamte chemische Energie der Treibladung der Kugel zugeordnet worden, aber das ist nicht ganz exakt. Ein extrem kleiner Teil muss der Erde zugeordnet werden. Dieser Teilterm ist positiv, da sich bezogen auf den gemeinsamen Schwerpunkt von Erde und Kugel (nur in diesem Bezugsrahmen!) die kinetische Energie der Erde gegenüber der Sonne durch das Abfeuern erhöht. Das kann man sich am besten klar machen, indem man die Geschwindigkeit der Erde relativ zur Sonne (und auch die Anziehungskraft zwischen beiden) vorübergehend als Null annimmt. In diesem Fall ergeben die ersten beiden Teilterme von Gleichung (7) Null. Die in diesem Szenario zunächst relativ zur Sonne ruhende Erde würde durch das Abfeuern der Kugel minimal in Bewegung gesetzt, und diese Bewegungsenergie entspricht dem dritten Teilterm. Der konkrete Wert beträgt (und ist offensichtlich in jeder Hinsicht vernachlässigbar):
\tag{8}\def\e#1{\times 10^{#1}}\begin{aligned}
E_\mathrm{EK}' &= E_\mathrm{ch}\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}=\mathrm{500\,MJ*\frac{500\,kg}{5{,}972\e{24}\,kg+500\,kg}} \quad\longrightarrow\quad \\
E_\mathrm{EK}' &≈ \mathrm{4{,}2\e{-14}\,J}=\mathrm{42\,fJ}
\end{aligned}
Bleibt wie in Gleichung (2) noch der mysteriöse mittlere Teilterm. Aufmerksame Leser ahnen vermutlich bereits, was es damit auf sich hat.
;)\tag{9}\def\e#1{\times 10^{#1}}\begin{aligned}
E_\mathrm{E?}' &=-\frac{1}{2}m_\mathrm{E}2v_\mathrm{ES}\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{E}}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}}=-v_\mathrm{ES}\sqrt{2E_\mathrm{ch}\frac{m_\mathrm{E}m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{E}+m_\mathrm{K}}} \quad\longrightarrow\quad \\
E_\mathrm{E?}' &= \mathrm{-29.780\,m/s*\sqrt{2*500\,MJ*\frac{5{,}972\e{24}\,kg*500\,kg}{5{,}972\e{24}\,kg+500\,kg}}} \quad\longrightarrow\quad \\
E_\mathrm{E?}' &≈ \mathrm{-2{,}1\e{10}\,J}=\mathrm{-21\,GJ}
\end{aligned}
Genau die 21 GJ, um die die kinetische Energie der Kugel relativ zur Sonne zunimmt, gehen also bei der kinetischen Energie der Erde relativ zur Sonne verloren. Der Energieerhaltungssatz ist also auch im Inertialsystem der Sonne exakt erfüllt.
M.E. erschweren die hohe Masse und Geschwindigkeit der Erde bei dieser Betrachtung das Verständnis. Ich möchte daher die gleiche Rechnung nochmal für das Abfeuern von einer Raumsonde zeigen. Diese Raumsonde soll -- natürlich ohne die Kugel -- die gleiche Masse (500 kg) wie die Kugel haben, und sich auf der Erdbahn um die Sonne bewegen, allerdings nur mit 1000 m/s. Die Kanone zeigt in Richtung des Bahnvektors. Ausser Masse und Geschwindigkeit der Raumsonde, die die Rolle der Erde übernimmt, gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesem und dem Szenario des Abfeuerns der Kugel von der Erde.
Für die kinetischen Energien relativ zur Sonne vor dem Abfeuern gilt:
\tag{10a}E_\mathrm{KS} = \frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{RS}^2=\mathrm{\frac{1}{2}*500\,kg*(1000\,m/s)^2} = \mathrm{250\,MJ}
\tag{10b}E_\mathrm{RS} = \frac{1}{2}m_\mathrm{R}v_\mathrm{RS}^2=\mathrm{\frac{1}{2}*500\,kg*(1000\,m/s)^2} = \mathrm{250\,MJ}
Aus den Gleichungen (5a) und (5b) ergeben sich die Geschwindigkeiten nach dem Abfeuern:
\tag{11a}\def\e#1{\times 10^{#1}}\begin{aligned}
v_\mathrm{KS}'&=v_\mathrm{RS}+\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{K}}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{R}}{m_\mathrm{R}+m_\mathrm{K}}} \quad\longrightarrow\quad \\
v_\mathrm{KS}'&= \mathrm{1000\,m/s+\sqrt{\frac{2*500\,MJ}{500\,kg}}*\sqrt{\frac{500\,kg}{500\,kg+500\,kg}}}=\mathrm{2000\,m/s}
\end{aligned}
\tag{11b}\def\e#1{\times 10^{#1}}\begin{aligned}
v_\mathrm{RS}'&=v_\mathrm{RS}-\sqrt{\frac{2E_\mathrm{ch}}{m_\mathrm{R}}}\sqrt{\frac{m_\mathrm{K}}{m_\mathrm{R}+m_\mathrm{K}}} \quad\longrightarrow\quad \\
v_\mathrm{RS}'&= \mathrm{1000\,m/s-\sqrt{\frac{2*500\,MJ}{500\,kg}}*\sqrt{\frac{500\,kg}{500\,kg+500\,kg}}}=\mathrm{0\,m/s}
\end{aligned}
Trotz der gleichen eingesetzten chemischen Energie (500 MJ) erhöht sich in diesem Fall die Bahngeschwindigkeit der Kugel relativ zur Sonne durch das Abfeuern also nur um 1000 m/s (von 1000 m/s auf 2000 m/s) statt um ca. 1414 m/s beim Abfeuern von der Erde. Dafür tritt jedoch eine erhebliche Rückwirkung auf das abfeuernde Objekt (die Raumsonde) auf, das relativ zur Sonne zum Stillstand kommt. Für die kinetischen Energien nach dem Abfeuern ergibt sich:
\tag{12a}E_\mathrm{KS}' = \frac{1}{2}m_\mathrm{K}v_\mathrm{KS}'^2=\mathrm{\frac{1}{2}*500\,kg*(2000\,m/s)^2} = \mathrm{1000\,MJ}
\tag{12b}E_\mathrm{RS}' = \mathrm{0\,MJ}
Die kinetische Energie der Kugel relativ zur Sonne ist also von 250 MJ vor dem Abfeuern auf 1000 MJ nach dem Abfeuern angestiegen, und damit -- ähnlich wie im ursprünglichen Szenario -- um 250 MJ
mehr, als der chemischen Energie der Treibladung (500 MJ) entspricht. Allerdings dürfte das in diesem Fall kaum jemanden wundern, weil offensichtlich ist, dass die Raumsonde gleichzeitig genau diese 250 MJ kinetische Energie verloren hat.
Fazit: Aufgrund des Impulserhaltungssatzes ist jede Art von mechanischer Beschleunigung eines Objekts, die über Oszillationen und Drehungen um den Schwerpunkt hinausgeht,
immer und unter allen Umständen mit einer Rückwirkung auf ein anderes Objekt verbunden. Ist die Masse dieses anderen Objekts im Verhältnis zur Masse des beschleunigten Objekts quasi unendlich gross (z.B. die Erde), kann man diese Rückwirkung für praktische Berechnungen meist ignorieren. Das ist allerdings nur eine Vereinfachung, und kann zu völlig falschen Schlussfolgerungen führen, wenn man sich darüber nicht im Klaren ist.
Ein anderes Szenario, das auf einer ähnlichen Grundidee basiert, sieht ungefähr so aus: Ein Auto beschleunigt von 0 auf 100 km/h. Da Geschwindigkeiten grundsätzlich relativ sind, könnte man das Auto in diesem Zustand wieder als ruhend betrachten, und annehmen, dass eine Beschleunigung um weitere 100 km/h auf 200 km/h (unter Vernachlässigung von zunehmendem Luft- und Rollwiderstand) genauso viel Energie erfordern sollte, wie die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h. Bei einer Verdopplung der Geschwindigkeit eines Objekts vervierfacht sich jedoch die kinetische Energie, was im Widerspruch zum angenommenen zweifachen Energieaufwand für die doppelte Geschwindigkeit steht. Auch dahinter steckt natürlich ein Denkfehler.
Man muss im wesentlichen zwei Möglichkeiten unterscheiden, wie die Beschleunigung (ohne eine Einwirkung einer externen Kraft) stattfinden kann. Einmal kann sie durch Rückstoss (z.B. Raketenantrieb) unabhängig vom Grund erfolgen. In diesem Fall verringert sich unweigerlich laufend die Masse des beschleunigten Objekts. Diese Massenverringerung führt letztendlich dazu, dass die aufgewandte Energie und die kinetische Energie des Objekts im Gleichgewicht bleiben. Dieser Fall ist m.E. weniger interessant, bei Bedarf kann ich ihn aber näher erläutern.
Im anderen Fall erfolgt die Beschleunigung durch Interaktion mit dem Grund. Es ist zwar richtig, dass man das Auto gemäss dem Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik bei jeder beliebigen Geschwindigkeit relativ zum Grund als ruhend betrachten kann, das ändert aber nichts daran, dass um so mehr Energie für eine weitere Beschleunigung durch Interaktion mit dem Grund erforderlich ist, je höher die Geschwindigkeit relativ zum Grund bereits ist. Das bedeutet jedoch
nicht, dass der Grund in irgendeiner Weise ein bevorzugtes Intertialsystem darstellt, sondern gilt immer dann, wenn man eine Beschleunigung durch Interaktion mit einem bewegten Objekt erreichen will, völlig unabhängig davon, um was für ein Objekt es sich dabei handelt.
Nehmen wir an, ein Auto hat eine Masse von 1000 kg, das Drehmoment an der angetriebenen Achse beträgt 200 Nm, und der Radius der Räder 40 cm (ist ein bisschen viel, lässt sich aber gut rechnen
;)). Das Drehmoment wirkt also über einen Hebel von 40 cm Länge auf den Grund. Daraus ergibt sich eine lineare Antriebskraft von:
\tag{13}F = \frac{M}{r}=\mathrm{\frac{200\,Nm}{0{,}4\,m}}=\mathrm{500\,N}
Daraus ergibt sich eine Beschleunigung von:
\tag{14}a=\frac{F}{m}=\mathrm{\frac{500\,N}{1000\,kg}}=\mathrm{0{,}5\,m/s^2}
Die Strecke, nach der bei gleichmässiger Beschleunigung eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht ist, beträgt:
\tag{15}s = \frac{1}{2}at^2,\thickspace v=at \quad\longrightarrow\quad s = \frac{1}{2}\frac{v^2}{a}
Aus dieser Strecke lässt sich über den Abrollumfang der Reifen die Anzahl der Umdrehungen (nicht: Drehzahl) der Antriebsachse bis zum Erreichen der jeweiligen Geschwindigkeit berechnen:
\tag{16}s=n2\pi r \quad\longrightarrow\quad n=\frac{s}{2\pi r}
Aus der Anzahl der Umdrehungen der Antriebsachse kann man bei gegebenem Drehmoment die erforderliche Energie berechnen:
\tag{17}E=M\varphi=Mn2\pi
Nun lässt sich alles zu einer Gesamtformel zusammenfügen:
\tag{18}E=Mn2\pi=M\frac{s}{2\pi r}2\pi=M\frac{1}{2}\frac{v^2}{ar}=M\frac{1}{2}\frac{v^2}{\frac{F}{m}r}=M\frac{1}{2}\frac{mv^2}{\frac{M}{r}r}=\frac{1}{2}mv^2
Nanu ... das Endergebnis kenne ich doch?
;) Offensichtlich sind die ganzen Parameter wie Drehmoment, Reifendurchmesser, Beschleunigung, etc. für die Energie, die (idealisiert) zum Erreichen einer bestimmten Geschwindigkeit notwendig ist, überhaupt nicht relevant. Für diese Energie kommt es neben der Geschwindigkeit selbst nur noch auf die Masse des Objekts an, und sie entspricht offensichtlich -- und wenig erstaunlich -- der kinetischen Energie des Objekts bei dieser Geschwindigkeit.
Letztendlich lässt sich die Beschleunigung eines Autos durch Interaktion mit dem Grund als eine Art in horizontale Richtung gelenktes "Abstossen" von diesem Grund betrachten. Dieses "Abstossen" erfordert um so mehr Energie, je höher die Geschwindigkeit relativ zum Grund bereits ist.