K.zu.dem.o schrieb:Ich rede auch davon, dass es ab diesem Zeitpunkt die Allgemeinheit akzeptierte
Was weißt Du denn über die Allgemeinheit? In der Antike, im Mittelalter, in der (frühen) Neuzeit. Wenn da nichts vorliegt, kannst Du auch nicht sagen, bis wann diese Allgemeinheit diesunddas angenommen hätte, und ab wann sie dann was anderes wußte/annahm. Damit bastelst Du Dir doch nur Deine eigene Annahme zu einer Realitäts-Simulation. Und täuschst Dich selbst mit Deinem geglaubten "So wars".
Aus allen Epochen haben wir nahezu ausschließlich nur Dokumente über Gedanken und Kenntnisse der Oberschichten. Falls dort mal mitgeteilt wird, was das einfache Volk so annimmt, muß das auch schon mit Vorsicht genossen werden. Immerhin haben wir aber einiges an Ahnung über Wege und Mechanismen der Wissensvermittlung. So lernten Menschen im Mittelalter vieles über bildliche Darstellungen in Kirchen oder an weltlichen Repräsentativbauten, in Form von Bildern, Reliefs oder Statuen. Zum Beispiel über die Darstellung des Kaisers.
Der Kaiser hat auf solchen Darstellungen regelmäßig den Reichsapfel in der Hand (das Wort Kugel kam erst in der Neuzeit auf, das ältere Wort dafür war Apfel, siehe Augapfel). Der Reichsapfel symbolisiert die Erde, die unter der Herrschaft des Kreuzes (das Kreuz oben auf dem Reichsapfel) steht, und der Kaiser ist "von Gottes Gnaden" der weltliche Arm bzw. der weltliche Stellvertreter Christi über die ganze Erde. Kein Kaiser hält ein "Reichstablett" in der Hand.
Bilder brauchen oft noch ne Erklärung - wir Heutigen sehen dem Reichsapfel ja auch nicht automatisch an, daß das die Erdkugel ist! Aber genau diese bekam das einfache Volk im Mittelalter. Eben weil Bilder das verbreitetste und effektivste Mittel der dauerhaften (weil wiederholten) Wissensvermittlung und Verlinnerlichung waren. Die Menschen gingen regelmäßig in die Kirche und bekamen dort Predigten. Damit die Predigten über biblische Personen und Geschichten im Gedächtnis blieben, gab es reichlich Bilder. Deren Details und Symbolgehalt wurden quasi mit der Predigt erklärt, und später konnte der Predigtinhalt mit Betrachten der Bilder wieder aus der Erinnerung hervorgeholt werden.
So auch der Christus Pantokrator, der "Allherrscher", der "Allmächtige" (so die Übersetzung des griechischen "Pantokrator"). Auf Bildern dargestellt, indem Christus auf einem Thron sitzt, der auf einer Kugel steht (könnt ne Scheibe sein, is ja 2D, aber 'n Stuhl auf der Schmalseite einer vertikalen Scheibe is irgendwie blöde). Oder der Christus hält in der Hand ne Weltkugel. (Gibt noch andere Darstellungsformen.) Der Reichsapfel in der Hand des Kaisers ist eine bildliche wie inhaltliche Übernahme gerade dieses christlichen Pantokratormotivs. Auch beim Betrachten einer solchen Kaiserdarstellung gab es sowohl die erklärende Vermittlung, daß der Reichsapfel die Welt ist und daß der Kaiser diese "für Christus" beherrsche.
Wo auch immer ein einfacher Bauer einen Christus Pantokrator oder einen Kaiser mit Insignien sieht, sieht er das, was ihm auch als Wissen vermittelt wurde, daß Christus die Welt beherrscht und der Kaiser dies als Stellvertreter tut. Und er sieht dabei die Weltkugel.
Daß die "Wandelsterne" (Sonne, Mond und die fünf bekannten Planeten) Vollkörper sind und keine Scheiben, wußte jeder, der sich mit Astronomie oder Astrologie befaßte. Das mittelalterliche geozentrische Weltbild war da schlicht die Übernahme der vorchristlichen Mainstream-Auffassung der Antike. Es war zwar nicht dogmatisch verankert, paßte aber gut mit seinen "sieben Himmeln" zu der siebengeteilten Engelshierarchie, die die sieben Himmelssphären bevölkert. Sonne und Mond immerhin werden selbst in der Bibel als Vollkörper, nicht als körperlose Scheiben vorgestellt; im Schöpfungsbericht hängt Gott zwei "Lampen" an den Himmel und nennt sie Sonne und Mond.
Die Kugelgestalt der Wandelsterne war also auch bekannt/geglaubt, allerdings nicht in gleichem Umfange allen Menschen zugänglich, sondern nur denen, die sich damit befaßten. Daß die Priester darüber auch mal predigten, wenns um Schöpfung odgl. ging, ist möglich, jedoch nicht so kontinuierlich. Und bildliche Unterstützung fehlte hier auch weitgehend. Sofern aber die Gestirne im Leben des einfachen Volkes von Belang waren (und sei es als Zeitgeber für Beginn oder Ende landwirtschaftlicher Aktivitäten oder Perioden), dann gelangte mit dem nötigen astronomisch-astrologischen Wissen auch die Kenntnis der Kugelgestalt der "Planeten" zu den Menschen.
Hier können wir allenfalls schätzen. Und sicher kann man sagen, daß das Wissen der Oberschicht mit zunehmendem Abstieg bis zum "gesellschaftlichen Bodensatz" in immer geringerem Anteil vertreten ist. Doch ob dieser Anteil am unteren Ende nun 50% ausmacht, oder 10% oder 1%, das wissen wir nicht, und das wird je nach Vermittlungsweg und Wissensbedarf unterschiedlich ausfallen. Dank der Vermittlungswege könnte das Wissen um die Kugelgestalt der Erde im einfachen Volk sogar bei 80% gelegen haben. Jedenfalls ab dem späten Hochmittelalter, als die Zahl der (bebilderten) Kirchen in Europa massiv zunahm.
Selbst heute, selbst hier in Deutschland, kann man nicht von einer hundertprozentigen Verbreitung dieses oder irgendeines sonstigen Wissensstandes ausgehen. Dazu muß man sich nur mal im Net umsehen. Da dreht sich die Erde um den Mond, die Sonne um die Erde. Oder die Erde ist hohl, und wir leben im Innern. Wale und Haie sind Dinos (mehrfach hier auf Allmy), die Menschheit wurde erschaffen (wahlweise von Gott oder Aliens), und Evolution ist sowieso Schwachsinn. Und dann noch all die Aufklärungsmärchen...