Ich bin skeptisch...
23.07.2012 um 10:11@AnnaStrasse
Langeweile in den großen Ferien? Anhänger einer politischen Randgruppe ohne Chance auf Regierungsbeteiligung und sauer auf die Welt? Nix gelernt und kein Geld? Leicht mit dem Klammerbeutel gepudert, aber nicht so schlimm, um im gepolsterten Zimmer sitzen zu müssen? Überfordert von der realen Welt?
Was auch immer es ist, hier kommt ein Rezept für möglicherweise jahrelange Beschäftigung: Wir basteln uns eine Verschwörungstheorie, in 6 einfachen Schritten.
Schritt 1: Das Thema
Zuerst müssen wir ein Thema finden.
Am wirkungsvollsten sind emotional vorbesetzte Themen aus den Bereichen Freiheit des Einzelnen, Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Kinder, Terrorismus sowie Naturwissenschaft/Technik und Gesellschaft. Durch die Emotionalisierung lässt sich das Denkzentrum des Publikums leichter ausschalten, genau was wir brauchen.
Gleichzeitig sollte das Thema auch komplex genug sein. Nichts ist schlimmer als ein Publikum, das das Thema innerhalb von Minuten im gesamten Umfang und Tiefe durchschauen kann. Je undurchsichtiger, desto schneller ist das Publikum von unserer einfachen Wahrheit überzeugt, die wir präsentieren werden. Glücklicherweise stecken die oben genannten Themenbereiche voller Komplexität. Es ist ein gutes Zeichen, wenn wir das Thema selbst nicht vollständig durchschauen, denn dann tun es alle anderen wahrscheinlich auch nicht.
Vorsicht! Jetzt nicht den Fehler begehen, sich hier entsprechendes Fachwissen anzueignen. Das wäre völlige Zeitverschwendung. Fachliteratur, offizielle Information, usw. wird vom Establishment gefälscht, da bekommt man keine unabhängigen Informationen. Der unfehlbare gesunde Menschenverstand und unsere eigene Intuition soll unsere Leitschnur sein.
Das Thema sollte bereits grundlegend und ausführlich geklärt sein, aber noch kleine Wissenslücken aufweisen. Nur so erreichen wir einen möglichst großen Überraschungseffekt.
Auch hier gilt das gleiche wie bei Domänennamen, öffentlichen Toiletten, Sitzplätzen im Sportstadion usw.: Die besten sind schon besetzt. Also müssen wir etwas länger suchen, und dieser erste Schritt ist zugleich auch der schwerste. Aber nicht aufgeben, andere haben das auch schon geschafft!
Schritt 2: Die Verschwörungstheorie
Nachdem Schritt 1 erstmal überwunden ist, folgt sofort der einfachste Schritt, das Formulieren der Verschwörungstheorie. Wir behaupten einfach das Gegenteil, oder wir unterstellen ganz andere, vorzugsweise düstere Motive der Akteure. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nur keine Zurückhaltung bei diesem Punkt, je extremer, desto erfolgreicher!
Schritt 3: Die Untermauerung
Die Verschwörungstheorie kann man leicht mit bewährten Techniken untermauern. Eine äußerst beliebte Methode ist das Aufspüren von Anomalien. Man sucht einfach das Umfeld des Themas nach Dingen ab, die aus dem Rahmen fallen. Schnell findet man Dutzende andere, gleichzeitig stattfindende Ereignisse, Verbindungen zwischen den Personen, Abweichungen vom Durchschnitt usw. Keine Sorge, wenn jede gefundene Anomalie keinerlei Beweiskraft hat oder bereits erklärt wurde, das ist völlig unerheblich. Die Masse machts!
Dank nicht vorhandenem Fachwissen wird diese Suche besonders ergiebig sein, denn wir werden auch nur scheinbare Anomalien finden.
Eine weitere beliebte Methode ist Quote-Mining. Wir zitieren Aussagen der handelnden Personen so, dass sie, aus dem Zusammenhang gerissen, in einem völlig anderem Licht erscheinen. Leicht lassen sich Aussagen ins Gegenteil verkehren. So sind bekannte Personen schneller Bestandteil oder Kronzeugen der Verschwörung als sie „intellektuelle Integrität” sagen können.
Die kleinen Wissenslücken unseres Themas werden unser Ansatzpunkt. Wir werden sie mit unserer Verschwörungstheorie wie mit einer Brechstange weit aufreißen. Schließlich ist „wir wissen nicht alles” genau das gleiche wie „wir wissen nichts, und alles ist möglich”.
Weitere Techniken wie Zahlenmystik, Popularitätsargumente und sorgfältiges Rosinenpicken vervollständigen unsere Beweisführung. (Mmmmhhhhh, Rosinen!)
Praktisch sind auch Gleichgesinnte, mit denen wir uns gegenseitig als Quelle und Bestätigung angeben können.
Schritt 4: Die Veröffentlichung
Die Welt muss natürlich von der Verschwörung erfahren, obwohl diese ja geheim ist und die Verschwörer jeden Verräter mundtot machen oder gleich ganz verschwinden lassen. Wir werden Helden sein!
Das Mittel der Wahl ist zunächst das Web. Eine Webseite ist schnell geschrieben, z. B. mit Word. Damit die Theorie auch gut ankommt, müssen wir natürlich für genügend Aufmerksamkeit sorgen. Das erfolgt mit Hilfe von genügend großen und farbig ansprechenden Fonts.
Eine eigene Domäne brauchen wir dazu vorerst nicht. Es genügt ein User-Account bei einem Massenhoster, oder auch eine Seite auf whale.to oder wakenews.net. Auch Rechtschreibung, Interpunktion und Strukturierung ist nicht von entscheidender Bedeutung, wir investieren unsere Zeit in den Inhalt. Verlinkung ist zu kompliziert, eine einzelne lange Seite reicht.
Beim Verfassen des Textes kann es vorkommen, dass die Tasten mit dem Ausrufungszeichen und Fragezeichen ausleiern. Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Eine neue Tastatur ist zum Glück nicht mehr teuer.
Wenn wir eine Videokamera bedienen können und ein Zimmer haben, oder wenn wir jemanden kennen, der eine Videokamera und ein Zimmer hat, dann erstellen wird gleich noch ein Video und stellen es auf YouTube. Da bekommen wir gleich noch ein kostenloses, hochklassiges Diskussionsforum.
Schritt 5: Die Verteidigung
Es ist natürlich unvermeidlich, dass die Theorie Löcher groß wie Scheunentore hat. Demzufolge ist es auch unvermeidbar, dass wir bald auf diese Löcher und andere Ungereimtheiten hingewiesen werden. Jetzt ist also Zeit, die Theorie zu verteidigen.
Wir sollten keine große Arbeit darauf verschwenden, konkret auf die Argumente einzugehen oder die Ungereimtheiten aufzuklären. Viel arbeitssparender ist die Umkehrung der Beweislast. Statt unsere Theorie als korrekt zu beweisen, fordern wir die Gegner auf, die Theorie als falsch zu beweisen. Immer gerne genommen wird auch der Satz „such doch selbst mal auf Google”.
Weitere beliebte Textbausteine: „du bist aber naiv”, „das kann man nicht beweisen, die Verschwörer verhindern das”, „ich behaupte gar nichts, ich stelle nur berechtigte Fragen”, „glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast”, „wenn du nicht für uns bist, dann bist du gegen uns”, „bist du etwa gegen Freiheit/Gesundheit/Gerechtigkeit?”, „Hitler hat das auch geglaubt/gemacht”, „ich traue der Regierung/der Industrie/… alles zu”.
Besonders hartnäckige Kritiker werden wir leicht los, indem wir sie als „gekauft” bezeichnen. Kritiker mit Fachwissen sind ohnehin grundsätzlich Mitverschwörer.
Sollten wir dennoch in eine Sackgasse getrieben werden, dann verstehen wir das als Chance statt als Problem. Wir verschieben den Torpfosten und erweitern einfach unsere Verschwörungstheorie. Sollten unter den neuen Mitverschwörern auch Gegenspieler der ursprünglichen Verschwörer sein, dann ist diese Taktik besonders effektiv. Gegner insgeheim zu Verbündeten werden zu lassen macht unsere Verschwörung noch viel unheimlicher.
Schritt 6: Die Versilberung
Mit Webseiten und YouTube kann man natürlich kein Geld machen. Unsere riesigen Recherchekosten müssen aber wieder reinkommen. Glücklicherweise gibt es hochklassige Organisationen, die uns gerne als Sprecher auf ihren Konferenzen buchen. Dort können wir gleich noch unsere Bücher (Selbstverlag, oder verlegt durch den Veranstalter) und DVDs des YouTube-Videos losschlagen.
In die Königsklasse werden wir aufsteigen, wenn Magazinsendungen des investigativen TV-Journalismus (z. B. „Galileo Mystery”) Wind von unseren Erkenntnissen bekommen. Experten und Interviewpartner werden gut bezahlt.
Spätestes wenn Roland Emmerich einen Kinofilm zum Thema dreht, haben wir es endgültig geschafft.
aus dem ratio blog
So, das nötige Rüstzeug solltest du jetzt haben, viel Glück. ;)
AnnaStrasse schrieb:Wenn das noch keiner kennt sollte ich vielleicht auch unter die vt gehen, damit kann man ja viel Geld machen ;-)Na ja, reich wirst du nicht werden, aber wenns dich reizt, hier eine Anleitung.
Langeweile in den großen Ferien? Anhänger einer politischen Randgruppe ohne Chance auf Regierungsbeteiligung und sauer auf die Welt? Nix gelernt und kein Geld? Leicht mit dem Klammerbeutel gepudert, aber nicht so schlimm, um im gepolsterten Zimmer sitzen zu müssen? Überfordert von der realen Welt?
Was auch immer es ist, hier kommt ein Rezept für möglicherweise jahrelange Beschäftigung: Wir basteln uns eine Verschwörungstheorie, in 6 einfachen Schritten.
Schritt 1: Das Thema
Zuerst müssen wir ein Thema finden.
Am wirkungsvollsten sind emotional vorbesetzte Themen aus den Bereichen Freiheit des Einzelnen, Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Kinder, Terrorismus sowie Naturwissenschaft/Technik und Gesellschaft. Durch die Emotionalisierung lässt sich das Denkzentrum des Publikums leichter ausschalten, genau was wir brauchen.
Gleichzeitig sollte das Thema auch komplex genug sein. Nichts ist schlimmer als ein Publikum, das das Thema innerhalb von Minuten im gesamten Umfang und Tiefe durchschauen kann. Je undurchsichtiger, desto schneller ist das Publikum von unserer einfachen Wahrheit überzeugt, die wir präsentieren werden. Glücklicherweise stecken die oben genannten Themenbereiche voller Komplexität. Es ist ein gutes Zeichen, wenn wir das Thema selbst nicht vollständig durchschauen, denn dann tun es alle anderen wahrscheinlich auch nicht.
Vorsicht! Jetzt nicht den Fehler begehen, sich hier entsprechendes Fachwissen anzueignen. Das wäre völlige Zeitverschwendung. Fachliteratur, offizielle Information, usw. wird vom Establishment gefälscht, da bekommt man keine unabhängigen Informationen. Der unfehlbare gesunde Menschenverstand und unsere eigene Intuition soll unsere Leitschnur sein.
Das Thema sollte bereits grundlegend und ausführlich geklärt sein, aber noch kleine Wissenslücken aufweisen. Nur so erreichen wir einen möglichst großen Überraschungseffekt.
Auch hier gilt das gleiche wie bei Domänennamen, öffentlichen Toiletten, Sitzplätzen im Sportstadion usw.: Die besten sind schon besetzt. Also müssen wir etwas länger suchen, und dieser erste Schritt ist zugleich auch der schwerste. Aber nicht aufgeben, andere haben das auch schon geschafft!
Schritt 2: Die Verschwörungstheorie
Nachdem Schritt 1 erstmal überwunden ist, folgt sofort der einfachste Schritt, das Formulieren der Verschwörungstheorie. Wir behaupten einfach das Gegenteil, oder wir unterstellen ganz andere, vorzugsweise düstere Motive der Akteure. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nur keine Zurückhaltung bei diesem Punkt, je extremer, desto erfolgreicher!
Schritt 3: Die Untermauerung
Die Verschwörungstheorie kann man leicht mit bewährten Techniken untermauern. Eine äußerst beliebte Methode ist das Aufspüren von Anomalien. Man sucht einfach das Umfeld des Themas nach Dingen ab, die aus dem Rahmen fallen. Schnell findet man Dutzende andere, gleichzeitig stattfindende Ereignisse, Verbindungen zwischen den Personen, Abweichungen vom Durchschnitt usw. Keine Sorge, wenn jede gefundene Anomalie keinerlei Beweiskraft hat oder bereits erklärt wurde, das ist völlig unerheblich. Die Masse machts!
Dank nicht vorhandenem Fachwissen wird diese Suche besonders ergiebig sein, denn wir werden auch nur scheinbare Anomalien finden.
Eine weitere beliebte Methode ist Quote-Mining. Wir zitieren Aussagen der handelnden Personen so, dass sie, aus dem Zusammenhang gerissen, in einem völlig anderem Licht erscheinen. Leicht lassen sich Aussagen ins Gegenteil verkehren. So sind bekannte Personen schneller Bestandteil oder Kronzeugen der Verschwörung als sie „intellektuelle Integrität” sagen können.
Die kleinen Wissenslücken unseres Themas werden unser Ansatzpunkt. Wir werden sie mit unserer Verschwörungstheorie wie mit einer Brechstange weit aufreißen. Schließlich ist „wir wissen nicht alles” genau das gleiche wie „wir wissen nichts, und alles ist möglich”.
Weitere Techniken wie Zahlenmystik, Popularitätsargumente und sorgfältiges Rosinenpicken vervollständigen unsere Beweisführung. (Mmmmhhhhh, Rosinen!)
Praktisch sind auch Gleichgesinnte, mit denen wir uns gegenseitig als Quelle und Bestätigung angeben können.
Schritt 4: Die Veröffentlichung
Die Welt muss natürlich von der Verschwörung erfahren, obwohl diese ja geheim ist und die Verschwörer jeden Verräter mundtot machen oder gleich ganz verschwinden lassen. Wir werden Helden sein!
Das Mittel der Wahl ist zunächst das Web. Eine Webseite ist schnell geschrieben, z. B. mit Word. Damit die Theorie auch gut ankommt, müssen wir natürlich für genügend Aufmerksamkeit sorgen. Das erfolgt mit Hilfe von genügend großen und farbig ansprechenden Fonts.
Eine eigene Domäne brauchen wir dazu vorerst nicht. Es genügt ein User-Account bei einem Massenhoster, oder auch eine Seite auf whale.to oder wakenews.net. Auch Rechtschreibung, Interpunktion und Strukturierung ist nicht von entscheidender Bedeutung, wir investieren unsere Zeit in den Inhalt. Verlinkung ist zu kompliziert, eine einzelne lange Seite reicht.
Beim Verfassen des Textes kann es vorkommen, dass die Tasten mit dem Ausrufungszeichen und Fragezeichen ausleiern. Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Eine neue Tastatur ist zum Glück nicht mehr teuer.
Wenn wir eine Videokamera bedienen können und ein Zimmer haben, oder wenn wir jemanden kennen, der eine Videokamera und ein Zimmer hat, dann erstellen wird gleich noch ein Video und stellen es auf YouTube. Da bekommen wir gleich noch ein kostenloses, hochklassiges Diskussionsforum.
Schritt 5: Die Verteidigung
Es ist natürlich unvermeidlich, dass die Theorie Löcher groß wie Scheunentore hat. Demzufolge ist es auch unvermeidbar, dass wir bald auf diese Löcher und andere Ungereimtheiten hingewiesen werden. Jetzt ist also Zeit, die Theorie zu verteidigen.
Wir sollten keine große Arbeit darauf verschwenden, konkret auf die Argumente einzugehen oder die Ungereimtheiten aufzuklären. Viel arbeitssparender ist die Umkehrung der Beweislast. Statt unsere Theorie als korrekt zu beweisen, fordern wir die Gegner auf, die Theorie als falsch zu beweisen. Immer gerne genommen wird auch der Satz „such doch selbst mal auf Google”.
Weitere beliebte Textbausteine: „du bist aber naiv”, „das kann man nicht beweisen, die Verschwörer verhindern das”, „ich behaupte gar nichts, ich stelle nur berechtigte Fragen”, „glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast”, „wenn du nicht für uns bist, dann bist du gegen uns”, „bist du etwa gegen Freiheit/Gesundheit/Gerechtigkeit?”, „Hitler hat das auch geglaubt/gemacht”, „ich traue der Regierung/der Industrie/… alles zu”.
Besonders hartnäckige Kritiker werden wir leicht los, indem wir sie als „gekauft” bezeichnen. Kritiker mit Fachwissen sind ohnehin grundsätzlich Mitverschwörer.
Sollten wir dennoch in eine Sackgasse getrieben werden, dann verstehen wir das als Chance statt als Problem. Wir verschieben den Torpfosten und erweitern einfach unsere Verschwörungstheorie. Sollten unter den neuen Mitverschwörern auch Gegenspieler der ursprünglichen Verschwörer sein, dann ist diese Taktik besonders effektiv. Gegner insgeheim zu Verbündeten werden zu lassen macht unsere Verschwörung noch viel unheimlicher.
Schritt 6: Die Versilberung
Mit Webseiten und YouTube kann man natürlich kein Geld machen. Unsere riesigen Recherchekosten müssen aber wieder reinkommen. Glücklicherweise gibt es hochklassige Organisationen, die uns gerne als Sprecher auf ihren Konferenzen buchen. Dort können wir gleich noch unsere Bücher (Selbstverlag, oder verlegt durch den Veranstalter) und DVDs des YouTube-Videos losschlagen.
In die Königsklasse werden wir aufsteigen, wenn Magazinsendungen des investigativen TV-Journalismus (z. B. „Galileo Mystery”) Wind von unseren Erkenntnissen bekommen. Experten und Interviewpartner werden gut bezahlt.
Spätestes wenn Roland Emmerich einen Kinofilm zum Thema dreht, haben wir es endgültig geschafft.
aus dem ratio blog
So, das nötige Rüstzeug solltest du jetzt haben, viel Glück. ;)