kitoni
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Die Pocken kommen............
29.01.2005 um 01:22Biowaffen-Angriff auf Europa: Wie reagiert die Politik? Im Ballsaal eines Luxushotels in Washington spielten Politiker die Rolle von Politikern im Antiterrorkampf.
Die Nachricht, die für Tausende das Todesurteil bedeuten wird, erreicht die Spitzenpolitiker kurz nach neun. Es ist ein nasser Wintermorgen im Januar 2005, zehn Regierungschefs haben sich eben zum transatlantischen Gipfel in Washington versammelt. Plötzlich Pockenalarm. Die Staatenlenker schauen fern: 51 Fälle, an verschiedenen Orten Europas gleichzeitig diagnostiziert, die meisten in Deutschland. Der Nachrichtensprecher bleibt provozierend ruhig. Nur zwei Drittel der Infizierten, erklärt er, dürften überleben, wahrscheinlich grausam entstellt. Sofort ist klar: ein Anschlag mit Biowaffen. Denn Pocken sind längst ausgerottet. Es dauert nur ein paar Minuten, bis die Bestätigung kommt. Eine Gruppe namens »Der Neue Dschihad« bekennt sich zur Bioattacke. Von »Juden und Kreuzfahrern« ist in der Erklärung die Rede und von »Rache«. Europa, vielleicht der ganze Westen, steht unter Feuer.
Im Nu wird der Gipfel zur Einsatzzentrale. Dramatische Entscheidungen stehen an: Quarantäne? Grenzen schließen? Mit Massenimpfungen beginnen? Impfstoff über die Welt verteilen? Verteidigungsfall ausrufen? Oder gar den Bündnisfall der Nato? Mehr als drei Jahre nach den Anschlägen auf New York und Washington muss sich nun zeigen, ob die Regierenden der Herausforderung des Terrors besser gewachsen sind. Die amerikanische Präsidentin Madeleine Albright eröffnet die Krisensitzung mit der Beschwörung, man werde »hoffentlich gemeinsam handeln« können. Als vertrauensbildende Maßnahme schlägt sie vor: »Wir reden einander mit Vornamen an. Wir sind ja alle Freunde hier am Tisch. Nigel, wollen Sie beginnen?« Das Wort hat der britische Premierminister Sir Nigel Broomfield.
Eine Simulation, gewiss. Drum ist Albright, einst Außenministerin, ein wenig befördert worden und ebenso Sir Nigel, der bis 1997 Botschafter in Deutschland war. Ansonsten ist alles ganz realistisch. Die Annahmen der Übung stellten Fachleute zusammen, nämlich die Veranstalter von den Universitäten Pittsburgh und Johns Hopkins. Die Spieler, hochrangige Veteranen transatlantischer Politik, kennen sich aus mit Gipfeln und Krisen. Sie sitzen im Ballsaal eines Washingtoner Luxushotels. Scheinwerfer erleuchten den Konferenztisch. Drum herum ist es stockdunkel. Dort sitzen Beobachter und Komparsen.
Das Virus wurde nach München eingeschleppt. Im Briefing erfahren die Hauptakteure, dass drei Deutsche türkischer Herkunft das Virus mit dem Zug nach München transportierten und dort verbreiteten. Auch vom Frankfurter Flughafen werden Infizierte gemeldet, ebenso aus den Niederlanden, aus Schweden und der Türkei. Binnen vier Wochen, rechnet ein Experte vor, dürften 10000 Menschen erkranken. Die Regierungschefs müssten schnell handeln und Gefährdete impfen lassen. Die Impfung wirke sofort, und sogar drei oder vier Tage nach der Infektion könne eine Impfung noch die Überlebenschancen erhöhen. Ein Wettlauf gegen die Zeit.
Sir Nigel beginnt mit einer kleinen Ansprache an die Kollegen. Als sei er im Interview und nicht in einer Krisensitzung, drückt er »Solidarität mit den Opfern« aus. Bundeskanzler Werner Hoyer (der einst im Außenamt Staatsminister war) spricht von der »Solidarität unter Alliierten«. Davon brauche die Bundesrepublik nun »ganz viel«. Frankreichs Präsident Bernard Kouchner (einst Gesundheitsminister und Gründer der »Ärzte ohne Grenzen« trompetet, er wolle »keine Stunde« verlieren. Allerdings verliert er sich selbst in Monologen über die Aids-Gefahr. Alle verhalten sich zunächst, als wollten sie Stereotype bestätigen: Die Amerikanerin ist von direkter Pragmatik, der Engländer entpuppt sich als feinsinniger Aristokrat, der Franzose gibt den Pfauen, der Deutsche den effizienten Macher. Ein jeder hält eine hübsche Ansprache, die Zeit verrinnt, die Krise wächst, Beschlüsse sind nicht in Sicht. Bis schließlich der polnische Premierminister Jerzy Buzek (der für die Simulation seinen alten Job übernimmt) die Kollegen drängt: »Jeder nur eine Minute, bitte!« So lautet die erste Lehre der Übung: Multilateralismus ist verflucht langwierig. Alle Beteiligten sind gleichberechtigt. Wenn die großen Egos großer Staatsleute aufeinander prallen, »schreitet die Realität schneller voran als die Diskussion«, wie Jerzy Buzek sagt. Drum stellt sich die Frage: Ist internationale Zusammenarbeit krisenfähig?
Vielleicht lässt sich anfängliche Lahmheit gar nicht vermeiden. In eine Katastrophe muss man sich eindenken. Komplexe Probleme lassen sich am besten in offener Diskussion umkreisen. Tatsächlich identifizieren die Regierungschefs wichtige Zielkonflikte. Während die Öffentlichkeit eine Blitzreaktion verlangt, kann Abwarten manchmal besser sein. Denn »die ersten Informationen entpuppen sich nur zu oft als falsch«, wie Madeleine Albright warnt. Zugleich soll das Handeln entschieden wirken. Aber es besteht nach Albrights Worten auch die Gefahr, »zu viel zu tun«.
Allzu rabiates Regierungshandeln kann Panik hervorrufen und die Lage verschlimmern – besonders bei heimtückischen Bioangriffen, über deren Konsequenzen kaum ein Bürger Bescheid weiß. Eine misstrauische Öffentlichkeit verlangt schneller nach Informationen, als debattierende Regierungschefs sie geben können. Deshalb lautet Lehre zwei: Transnationaler Bioterrorismus verlangt nach transnationalem Informationsmanagement – das es nicht mal in Ansätzen gibt.
Auch Polen und Italien melden Infizierte. In Europa gibt es jetzt 240 Krankheitsfälle. In vier Wochen, prognostizieren die Experten, dürften es 48000 sein. Die Türkei beantragt, den Bündnisfall der Nato auszurufen, und bittet die Alliierten, viele Millionen Ampullen Impfstoff abzugeben. Denn die Türkei kann nur knapp ein Prozent der eigenen Bevölkerung versorgen. Die Regierungschefs hören ernüchternde Daten: Die meisten europäischen Staaten haben zu wenig Impfstoff. Nur sechs EU-Länder (darunter Deutschland) sowie Israel und Amerika können ihre Bevölkerungen versorgen und vielleicht noch etwas abgeben.
Abgeben? Plötzlich wird aus dem gesitteten Gespräch eine spannende Diskussion. Natürlich beschwören alle den Geist der Zusammenarbeit. Doch es gibt auch die Realität des ungesprochenen Wortes. Werner Hoyer wird später seine Erleichterung bekennen, als Kanzler nicht stärker unter Spendendruck geraten zu sein: »Das war nur möglich, weil wir die meisten Opfer hatten.« Boten tragen den Politikern im Minutenabstand neue Meldungen an den Tisch. Bundeskanzler Hoyer erfährt, dass sich viele Polen auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, um sich dort impfen zu lassen. Die Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wollen die Grenzen schließen lassen. Soll der Kanzler zustimmen? Soll er eine Krise an der Grenze und in der EU riskieren? Zugleich drängt die Türkei weiter auf schnelle Lieferung von Impfstoff.
Kanzler Hoyer wirbt dafür, den Bündnisfall nicht zu erklären, solange unklar bleibt, wer der Gegner ist. Was er nicht sagt: Im Bündnisfall stiege der Druck weiter, Impfstoff an die Türkei abzugeben. Lehre drei: Ein konventioneller Angriff hätte wahrscheinlich einigende Wirkung, ein biologischer Angriff könnte den Westen spalten. Es ist einfach, großzügig und internationalistisch zu sein, wenn die Katastrophe – ein Tsunami zum Beispiel – an einem fernen Ort stattfindet. Viel schwerer wird es, wenn die eigenen Bürger sterben oder entstellt werden und es zu internationalen Verteilungskämpfen um Impfstoffe kommt. Ist also Multilateralismus eine Schönwetterveranstaltung, die jene vertreten, für die es um nichts geht?
Aus diesem Dilemma ergibt sich Lehre vier: Es reicht nicht aus, genügend Impfstoff zu haben. Die westlichen Länder brauchen deutlich mehr Ampullen als Bürger. Im Fall von Biokrisen ist Impfstoff eine Art Goldwährung, mit der sich handeln lässt: Serum gegen Wohlverhalten. Dass europäische Länder ungleich ausgestattet sind, kann – Lehre fünf – verheerende Auswirkungen haben. Wo es kaum mehr Grenzen gibt, setzen sich Massen von Impftouristen in Bewegung. Der Druck der Habenichtse wird die gut versorgten Länder in schwere politische Konflikte stürzen. Die Europa-Abgeordnete Erika Mann, die als EU-Kommissionspräsidentin in Washington am Tisch sitzt, will deshalb in Brüssel für weiter verbesserte Vorsorge werben (siehe Text unten).
Den größten Druck zur Hilfeleistung erleben die Amerikaner. Sie besitzen den meisten Impfstoff. Außerdem hat die Krankheit Europa (noch) nicht verlassen. Doch Präsidentin Albright sagt: »Ich bin zwar eine andere Präsidentin als mein Vorgänger, aber es ist doch dasselbe Land.« Amerika fühle sich in Europa »nicht geschätzt«. Sie fragt: »Warum sollten wir mit jenen teilen, die uns nicht halfen, als wir sie brauchten?« Mag sein, dass die Linksliberale Albright ihr Rollenprofil allzu wörtlich nimmt, um die Übung in Schwung zu halten; jedenfalls sagt sie: »Alles hat eine politische Geschichte. Wenn ich meiner Bevölkerung Impfhilfe für Europa verkaufen will, muss ich wissen, was jetzt anders ist als beim letzten Mal.« Dies ist der Moment für den Auftritt des französischen Präsidenten. Bernard Kouchner sagt: »Ich flehe Sie an. Dies ist ein medizinischer Notfall. Lassen Sie uns die Politik beiseite. Wir verlieren doch nur kostbare Zeit. Bei Sars haben wir gemeinsam gehandelt. Diesmal ist es doch das gleiche.«
Eben nicht. Denn Lehre sechs lautet: Internationaler Bioterror ist nicht nur ein medizinischer Notfall. Es bedarf politischer Zusammenarbeit, und die fußt auf Vertrauen. Das Wort »Irak« fällt nicht. Aber die transatlantische Spaltung ist immer zu spüren und zeigt sich offen in ritualhaftem franko-amerikanischen Gerangel. Die Franzosen wollen die UN und ihre Weltgesundheitsorganisation mit dem Krisenmanagement betrauen, während die amerikanische Präsidentin einwendet: »Wenn Sie glauben, wir seien hier langsam, dann warten Sie mal ab, wie die UN das machen.« Darauf der französische Präsident: »Ich dachte, Sie seien eine neue, eine andere Präsidentin.« Albright gibt zurück: »Aber wir müssen doch Realisten bleiben.«
Schon sind es 956 Kranke, nun auch 33 in den Vereinigten Staaten. Der Morgen ist noch nicht vorüber, und jetzt heißt es im neuen Briefing: In vier Wochen sollen es 200.000 Infizierte sein. Bald hört die Präsidentin aus dem Senat die Forderung, die der Kanzler aus dem Bundestag kennt: die eigenen Impfstoffe für die eigenen Bürger. Nun wird klar: Den knappen Impfstoff zu teilen ist Wunschdenken. Doch wie wär’s, wenn man den Impfstoff verdünnte? Amerikanische Experten glauben, das sei möglich. Die Vorräte der Welt ließen sich verfünffachen. Allein: Erwiesen ist das nicht. Weshalb die Wissenschaftler der EU warnen. Verdünnung sei viel zu riskant. Welchen Wissenschaftlern ist zu trauen? Welcher politische Druck leichter auszuhalten? Bundeskanzler Hoyer wird später bekennen, Politiker seien in solchen Momenten sehr allein. Die Wissenschaft könne – Lehre sieben – »nur begrenzt hilfreich sein«. Die Abwägungen seien am Ende meist »politischer Natur«.
Je später der Morgen, desto gruseliger die Lage. Die Politiker müssen nur noch eins: entscheiden. Wie Maschinengewehrsalven setzt es Informationsattacken. Jeder bekommt ständig Nachrichten und Anfragen aus der Heimat zugesteckt. In Deutschland hat eine Massenflucht aus Frankfurt und München eingesetzt. Die Bevölkerung verlangt nach Massenimpfungen. Allerdings hatten sich die westlichen Regierungen am Morgen auf Ringimpfungen verständigt. Nur medizinisches Hilfspersonal sowie Menschen im Umkreis von Infizierten sollen immunisiert werden. Doch die Bevölkerung, die weiß, dass für jeden eine Ampulle da ist, lässt nicht locker. Als die Fallzahlen steigen, stimmt der Kanzler zu. Doch das ist ein Todesurteil für vielleicht 300 Menschen. Denn Pockenimpfungen können Nebenwirkungen haben. Manche sind tödlich. Und mit der Einigkeit des Westens ist es auch vorbei.
Von Am Nachmittag sind es 3.320 Infizierte. Sechs Wochen später, so besagt die Hochrechnung, sollen es 400.000 sein. 100.000 werden tot sein. Die Experten sprechen von einer »konservativen Annahme«. Die Simulation zeigt, was die Veranstalter insgeheim zu zeigen hoffen: dass nationale Notfallpläne nicht ausreichen. Die internationale Politik hat kein Instrumentarium, keine eingespielten Procedere, um grenzüberschreitende Krisen zu managen. Als sie abends nach Hause fahren, fragen sich einige Teilnehmer, ob sie wirklich nur ein dramatisierendes Spiel erlebt haben.
DIE ZEIT 27.01.2005 Nr.5
Die Nachricht, die für Tausende das Todesurteil bedeuten wird, erreicht die Spitzenpolitiker kurz nach neun. Es ist ein nasser Wintermorgen im Januar 2005, zehn Regierungschefs haben sich eben zum transatlantischen Gipfel in Washington versammelt. Plötzlich Pockenalarm. Die Staatenlenker schauen fern: 51 Fälle, an verschiedenen Orten Europas gleichzeitig diagnostiziert, die meisten in Deutschland. Der Nachrichtensprecher bleibt provozierend ruhig. Nur zwei Drittel der Infizierten, erklärt er, dürften überleben, wahrscheinlich grausam entstellt. Sofort ist klar: ein Anschlag mit Biowaffen. Denn Pocken sind längst ausgerottet. Es dauert nur ein paar Minuten, bis die Bestätigung kommt. Eine Gruppe namens »Der Neue Dschihad« bekennt sich zur Bioattacke. Von »Juden und Kreuzfahrern« ist in der Erklärung die Rede und von »Rache«. Europa, vielleicht der ganze Westen, steht unter Feuer.
Im Nu wird der Gipfel zur Einsatzzentrale. Dramatische Entscheidungen stehen an: Quarantäne? Grenzen schließen? Mit Massenimpfungen beginnen? Impfstoff über die Welt verteilen? Verteidigungsfall ausrufen? Oder gar den Bündnisfall der Nato? Mehr als drei Jahre nach den Anschlägen auf New York und Washington muss sich nun zeigen, ob die Regierenden der Herausforderung des Terrors besser gewachsen sind. Die amerikanische Präsidentin Madeleine Albright eröffnet die Krisensitzung mit der Beschwörung, man werde »hoffentlich gemeinsam handeln« können. Als vertrauensbildende Maßnahme schlägt sie vor: »Wir reden einander mit Vornamen an. Wir sind ja alle Freunde hier am Tisch. Nigel, wollen Sie beginnen?« Das Wort hat der britische Premierminister Sir Nigel Broomfield.
Eine Simulation, gewiss. Drum ist Albright, einst Außenministerin, ein wenig befördert worden und ebenso Sir Nigel, der bis 1997 Botschafter in Deutschland war. Ansonsten ist alles ganz realistisch. Die Annahmen der Übung stellten Fachleute zusammen, nämlich die Veranstalter von den Universitäten Pittsburgh und Johns Hopkins. Die Spieler, hochrangige Veteranen transatlantischer Politik, kennen sich aus mit Gipfeln und Krisen. Sie sitzen im Ballsaal eines Washingtoner Luxushotels. Scheinwerfer erleuchten den Konferenztisch. Drum herum ist es stockdunkel. Dort sitzen Beobachter und Komparsen.
Das Virus wurde nach München eingeschleppt. Im Briefing erfahren die Hauptakteure, dass drei Deutsche türkischer Herkunft das Virus mit dem Zug nach München transportierten und dort verbreiteten. Auch vom Frankfurter Flughafen werden Infizierte gemeldet, ebenso aus den Niederlanden, aus Schweden und der Türkei. Binnen vier Wochen, rechnet ein Experte vor, dürften 10000 Menschen erkranken. Die Regierungschefs müssten schnell handeln und Gefährdete impfen lassen. Die Impfung wirke sofort, und sogar drei oder vier Tage nach der Infektion könne eine Impfung noch die Überlebenschancen erhöhen. Ein Wettlauf gegen die Zeit.
Sir Nigel beginnt mit einer kleinen Ansprache an die Kollegen. Als sei er im Interview und nicht in einer Krisensitzung, drückt er »Solidarität mit den Opfern« aus. Bundeskanzler Werner Hoyer (der einst im Außenamt Staatsminister war) spricht von der »Solidarität unter Alliierten«. Davon brauche die Bundesrepublik nun »ganz viel«. Frankreichs Präsident Bernard Kouchner (einst Gesundheitsminister und Gründer der »Ärzte ohne Grenzen« trompetet, er wolle »keine Stunde« verlieren. Allerdings verliert er sich selbst in Monologen über die Aids-Gefahr. Alle verhalten sich zunächst, als wollten sie Stereotype bestätigen: Die Amerikanerin ist von direkter Pragmatik, der Engländer entpuppt sich als feinsinniger Aristokrat, der Franzose gibt den Pfauen, der Deutsche den effizienten Macher. Ein jeder hält eine hübsche Ansprache, die Zeit verrinnt, die Krise wächst, Beschlüsse sind nicht in Sicht. Bis schließlich der polnische Premierminister Jerzy Buzek (der für die Simulation seinen alten Job übernimmt) die Kollegen drängt: »Jeder nur eine Minute, bitte!« So lautet die erste Lehre der Übung: Multilateralismus ist verflucht langwierig. Alle Beteiligten sind gleichberechtigt. Wenn die großen Egos großer Staatsleute aufeinander prallen, »schreitet die Realität schneller voran als die Diskussion«, wie Jerzy Buzek sagt. Drum stellt sich die Frage: Ist internationale Zusammenarbeit krisenfähig?
Vielleicht lässt sich anfängliche Lahmheit gar nicht vermeiden. In eine Katastrophe muss man sich eindenken. Komplexe Probleme lassen sich am besten in offener Diskussion umkreisen. Tatsächlich identifizieren die Regierungschefs wichtige Zielkonflikte. Während die Öffentlichkeit eine Blitzreaktion verlangt, kann Abwarten manchmal besser sein. Denn »die ersten Informationen entpuppen sich nur zu oft als falsch«, wie Madeleine Albright warnt. Zugleich soll das Handeln entschieden wirken. Aber es besteht nach Albrights Worten auch die Gefahr, »zu viel zu tun«.
Allzu rabiates Regierungshandeln kann Panik hervorrufen und die Lage verschlimmern – besonders bei heimtückischen Bioangriffen, über deren Konsequenzen kaum ein Bürger Bescheid weiß. Eine misstrauische Öffentlichkeit verlangt schneller nach Informationen, als debattierende Regierungschefs sie geben können. Deshalb lautet Lehre zwei: Transnationaler Bioterrorismus verlangt nach transnationalem Informationsmanagement – das es nicht mal in Ansätzen gibt.
Auch Polen und Italien melden Infizierte. In Europa gibt es jetzt 240 Krankheitsfälle. In vier Wochen, prognostizieren die Experten, dürften es 48000 sein. Die Türkei beantragt, den Bündnisfall der Nato auszurufen, und bittet die Alliierten, viele Millionen Ampullen Impfstoff abzugeben. Denn die Türkei kann nur knapp ein Prozent der eigenen Bevölkerung versorgen. Die Regierungschefs hören ernüchternde Daten: Die meisten europäischen Staaten haben zu wenig Impfstoff. Nur sechs EU-Länder (darunter Deutschland) sowie Israel und Amerika können ihre Bevölkerungen versorgen und vielleicht noch etwas abgeben.
Abgeben? Plötzlich wird aus dem gesitteten Gespräch eine spannende Diskussion. Natürlich beschwören alle den Geist der Zusammenarbeit. Doch es gibt auch die Realität des ungesprochenen Wortes. Werner Hoyer wird später seine Erleichterung bekennen, als Kanzler nicht stärker unter Spendendruck geraten zu sein: »Das war nur möglich, weil wir die meisten Opfer hatten.« Boten tragen den Politikern im Minutenabstand neue Meldungen an den Tisch. Bundeskanzler Hoyer erfährt, dass sich viele Polen auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, um sich dort impfen zu lassen. Die Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wollen die Grenzen schließen lassen. Soll der Kanzler zustimmen? Soll er eine Krise an der Grenze und in der EU riskieren? Zugleich drängt die Türkei weiter auf schnelle Lieferung von Impfstoff.
Kanzler Hoyer wirbt dafür, den Bündnisfall nicht zu erklären, solange unklar bleibt, wer der Gegner ist. Was er nicht sagt: Im Bündnisfall stiege der Druck weiter, Impfstoff an die Türkei abzugeben. Lehre drei: Ein konventioneller Angriff hätte wahrscheinlich einigende Wirkung, ein biologischer Angriff könnte den Westen spalten. Es ist einfach, großzügig und internationalistisch zu sein, wenn die Katastrophe – ein Tsunami zum Beispiel – an einem fernen Ort stattfindet. Viel schwerer wird es, wenn die eigenen Bürger sterben oder entstellt werden und es zu internationalen Verteilungskämpfen um Impfstoffe kommt. Ist also Multilateralismus eine Schönwetterveranstaltung, die jene vertreten, für die es um nichts geht?
Aus diesem Dilemma ergibt sich Lehre vier: Es reicht nicht aus, genügend Impfstoff zu haben. Die westlichen Länder brauchen deutlich mehr Ampullen als Bürger. Im Fall von Biokrisen ist Impfstoff eine Art Goldwährung, mit der sich handeln lässt: Serum gegen Wohlverhalten. Dass europäische Länder ungleich ausgestattet sind, kann – Lehre fünf – verheerende Auswirkungen haben. Wo es kaum mehr Grenzen gibt, setzen sich Massen von Impftouristen in Bewegung. Der Druck der Habenichtse wird die gut versorgten Länder in schwere politische Konflikte stürzen. Die Europa-Abgeordnete Erika Mann, die als EU-Kommissionspräsidentin in Washington am Tisch sitzt, will deshalb in Brüssel für weiter verbesserte Vorsorge werben (siehe Text unten).
Den größten Druck zur Hilfeleistung erleben die Amerikaner. Sie besitzen den meisten Impfstoff. Außerdem hat die Krankheit Europa (noch) nicht verlassen. Doch Präsidentin Albright sagt: »Ich bin zwar eine andere Präsidentin als mein Vorgänger, aber es ist doch dasselbe Land.« Amerika fühle sich in Europa »nicht geschätzt«. Sie fragt: »Warum sollten wir mit jenen teilen, die uns nicht halfen, als wir sie brauchten?« Mag sein, dass die Linksliberale Albright ihr Rollenprofil allzu wörtlich nimmt, um die Übung in Schwung zu halten; jedenfalls sagt sie: »Alles hat eine politische Geschichte. Wenn ich meiner Bevölkerung Impfhilfe für Europa verkaufen will, muss ich wissen, was jetzt anders ist als beim letzten Mal.« Dies ist der Moment für den Auftritt des französischen Präsidenten. Bernard Kouchner sagt: »Ich flehe Sie an. Dies ist ein medizinischer Notfall. Lassen Sie uns die Politik beiseite. Wir verlieren doch nur kostbare Zeit. Bei Sars haben wir gemeinsam gehandelt. Diesmal ist es doch das gleiche.«
Eben nicht. Denn Lehre sechs lautet: Internationaler Bioterror ist nicht nur ein medizinischer Notfall. Es bedarf politischer Zusammenarbeit, und die fußt auf Vertrauen. Das Wort »Irak« fällt nicht. Aber die transatlantische Spaltung ist immer zu spüren und zeigt sich offen in ritualhaftem franko-amerikanischen Gerangel. Die Franzosen wollen die UN und ihre Weltgesundheitsorganisation mit dem Krisenmanagement betrauen, während die amerikanische Präsidentin einwendet: »Wenn Sie glauben, wir seien hier langsam, dann warten Sie mal ab, wie die UN das machen.« Darauf der französische Präsident: »Ich dachte, Sie seien eine neue, eine andere Präsidentin.« Albright gibt zurück: »Aber wir müssen doch Realisten bleiben.«
Schon sind es 956 Kranke, nun auch 33 in den Vereinigten Staaten. Der Morgen ist noch nicht vorüber, und jetzt heißt es im neuen Briefing: In vier Wochen sollen es 200.000 Infizierte sein. Bald hört die Präsidentin aus dem Senat die Forderung, die der Kanzler aus dem Bundestag kennt: die eigenen Impfstoffe für die eigenen Bürger. Nun wird klar: Den knappen Impfstoff zu teilen ist Wunschdenken. Doch wie wär’s, wenn man den Impfstoff verdünnte? Amerikanische Experten glauben, das sei möglich. Die Vorräte der Welt ließen sich verfünffachen. Allein: Erwiesen ist das nicht. Weshalb die Wissenschaftler der EU warnen. Verdünnung sei viel zu riskant. Welchen Wissenschaftlern ist zu trauen? Welcher politische Druck leichter auszuhalten? Bundeskanzler Hoyer wird später bekennen, Politiker seien in solchen Momenten sehr allein. Die Wissenschaft könne – Lehre sieben – »nur begrenzt hilfreich sein«. Die Abwägungen seien am Ende meist »politischer Natur«.
Je später der Morgen, desto gruseliger die Lage. Die Politiker müssen nur noch eins: entscheiden. Wie Maschinengewehrsalven setzt es Informationsattacken. Jeder bekommt ständig Nachrichten und Anfragen aus der Heimat zugesteckt. In Deutschland hat eine Massenflucht aus Frankfurt und München eingesetzt. Die Bevölkerung verlangt nach Massenimpfungen. Allerdings hatten sich die westlichen Regierungen am Morgen auf Ringimpfungen verständigt. Nur medizinisches Hilfspersonal sowie Menschen im Umkreis von Infizierten sollen immunisiert werden. Doch die Bevölkerung, die weiß, dass für jeden eine Ampulle da ist, lässt nicht locker. Als die Fallzahlen steigen, stimmt der Kanzler zu. Doch das ist ein Todesurteil für vielleicht 300 Menschen. Denn Pockenimpfungen können Nebenwirkungen haben. Manche sind tödlich. Und mit der Einigkeit des Westens ist es auch vorbei.
Von Am Nachmittag sind es 3.320 Infizierte. Sechs Wochen später, so besagt die Hochrechnung, sollen es 400.000 sein. 100.000 werden tot sein. Die Experten sprechen von einer »konservativen Annahme«. Die Simulation zeigt, was die Veranstalter insgeheim zu zeigen hoffen: dass nationale Notfallpläne nicht ausreichen. Die internationale Politik hat kein Instrumentarium, keine eingespielten Procedere, um grenzüberschreitende Krisen zu managen. Als sie abends nach Hause fahren, fragen sich einige Teilnehmer, ob sie wirklich nur ein dramatisierendes Spiel erlebt haben.
DIE ZEIT 27.01.2005 Nr.5