Doors schrieb:Da wollen wir mal nicht jammern - wir haben uns hierzulande schliesslich auch Diktaturen an den Hals gewählt bzw. begeistert bis klaglos ertragen. Warum sollen also andere nicht genau so blöd sein dürfen wie wir oder unsere Vorfahren?
Weil heute HEUTE ist und nicht Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Und weil Schuld nicht vererbbar ist. Und weil wir deshalb das Recht und sogar die Pflicht haben, aus heutiger Perspektive zu urteilen und uns nicht von derartigen, relativistischen Vorhaltungen einschüchtern zu lassen. Wir urteilen nach dem, was hier gilt und nicht in der Türkei oder in Krachdingsbumstan.
Doors schrieb:Demokratie heisst auch, Feinde derselben in einem gewissen Masse zu tolerieren.
Tja, das ist erstmal richtig, eine gewisse Menge an Demokratiefeinden muss eine demokratische Gesellschaft wohl ertragen können, nicht zuletzt weil ein Zustand ohne sie utopisch ist. Die Frage ist nur, wie viele das sein dürfen, ohne Frieden, Sicherheit und Meinungsfreiheit zu gefährden...
Es fasziniert mich schon länger, wie radikale Minderheiten derartigen Einfluss ausüben können. Wenn wir es historisch genau betrachten, reichten bisher radikale Minderheiten aus, um Systeme zu etablieren, die die Mehrheit kontrollierten oder zumindest die gesellschaftlichen Diskurse zu bestimmten. Sie müssen nur gut organisiert sein. Dazu kommt, dass diese Parallelstrukturen sich konzentrieren, an diesen Punkten stark präsent und nicht gleichmäßig über eine Gesellschaft verteilt sind und es so jeden treffen kann, der Begegnungen damit macht. Sie müssen dort lediglich präsent sein, nicht mal zuschlagen, um eine Spannung aufzubauen, die ihre Kreise zieht. Wenn du in gewissen Londoner Stadtteilen als nichtorthodoxer Muslim einer "Scharia-Polizei"-Truppe begegnest, wenn du als AFD-Politiker (wie vor wenigen Tagen) von Linksextremen wegen deiner Parteizugehörigkeit oder Meinung mit einer Latte vermöbelt wirst, wenn du als Dunkelhäutiger Nazis begegnest, wenn du als Polizist in gewissen Großstadtvierteln z.B. in Dresen, Berlin oder Köln unterwegs bist, wenn Demonstranten auf ihrem Zug ganze Stadtteile lahmlegen oder verwüsten, dein Auto zerschlagen und dir das niemand zahlt und und und.
Kurz: Wenn du an solchen Hot Spots ein Opfer von anderen aufgrund ihrer Ideologie werden kannst und sich das mehr und mehr häuft. Da sind jetzt schon ganz viele Baustellen aufgezählt. Wenn man sowas nicht beachtet, lässt es sich locker flockig weiter auf dem Spruch ausruhen, eine gewisse Toleranz müsse man aufbringen. Man kann sich das lange einreden, weil man nicht an die Heftigkeit glaubt, mit der sich sowas irgendwann bemerkbar machen kann.
Nach meiner Beobachtung steigt die Zahl der Ideologen, die sich gegen demokratische Werte und eine offene Gesellschaft stellen, in den letzten Jahren aus allen Lagern (hauptsächlich links-/rechtsradikal bis nationalistisch und radikalislamisch) sich gegenseitg bedingend stark an, ebenso wie die Bildung von Parallelgesetzstrukturen innerhalb der Gesellschaft, hauptsächlich in den Mittel- bis Großstädten, und das sehr konzentriert. Ich denke, wir gehen zunehmend unruhigen Zeiten entgegen, weil solche gesellschaftlichen Veränderungen nicht einfach rückgängig zu machen sind. Es wird sich also in Zukunft irgendwann zwangsläufig die Frage stellen, wie viele solcher Ideologen und Gegner von Freiheit und Offenheit noch unter den Toleranzschirm einer demokratischen Gesellschaft passen, ohne dass der gesellschaftliche Kitt abbröckelt.
Wie das jetzt zu lösen ist, keine konkrete Ahnung. Abschiebung gestaltet sich generell aus vielen Gründen schwierig. Sinnvoll wäre vielleicht die doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen, aber das wäre auch nur ein erster Schritt und würde an der Gesinnung dieser kaum etwas ändern, es wäre ein Alibi- oder Scheinbekenntnis. Eins aber steht fest: Würden die "Erdogan"-Schreier, die eine Diktatatur in der Türkei mit zu verantworten haben, nicht mehr hier residieren, wäre das ganz sicher kein Verlust für die Gesellschaft.
Ich habe jedenfalls keine Lust darauf, dass die Probleme anderer Gesellschaften und Kulturen in unserer Gesellschaft ausgetragen werden, wie z.B. bei den Erdogan-Demos, sofern sie den gesellschaftlichen Werten widersprechen, denn diese sind normativ und es ist nur folgerichtig, dass sie auch zu gelten haben.